Damit weniger Gas zur Stromerzeugung verheizt werden muss, dürfen seit Juli 2022 Steinkohle- und sogar Ölkraftwerke, die bisher nur zur Notreserve im deutschen Kraftwerkspark zählten, wieder zurück ans Netz. „Öl- und Kohlekraftwerke sollen so ertüchtigt werden, dass sie jederzeit auf Abruf für den Markt bereitstehen“, heißt es aus Robert Habecks Bundeswirtschaftsministerium: „Das gilt insbesondere für die Kohlekraftwerke, die nach den Plänen für den Kohleausstieg 2022 und 2023 normalerweise außer Betrieb gehen sollen. Kraftwerke, die bislang als Netzreserve dienen, also eigentlich zur Stabilisierung der Stromnetze, sollen ebenfalls zur Produktion genutzt werden. Kohlekraftwerke aus der Sicherheitsbereitschaft, die bislang also nur im äußersten Notfall wieder hochgefahren werden dürfen, gehören ab dem 1. Oktober der neu geschaffenen Versorgungsreserve an.“
Zusätzliche fossile Anlagen mit der Gesamtkapazität von 5,9 Gigawatt dürften also neuerdings produzieren. Bei den gegenwärtigen Strompreisen von über 400 Euro pro Megawattstunde eigentlich ein lohnendes Geschäft. Trotzdem machte bisher nur ein einziger Kraftwerksbetreiber von Habecks Sonderregelung Gebrauch: Der tschechische Unternehmer Daniel Kretinsky warf seinen Steinkohlemeiler im niedersächsischen Mehrum ab 1. August wieder an. Demnächst kommt noch eine relativ kleine Anlage dazu: Uniper schickt sein Steinkohlekraftwerk Heyden 4 in NRW ab 29. August 2022 wieder ans Netz. Das bestätigte die Bundesnetzagentur auf Anfrage von TE. Die Anlage besitzt eine Kapazität von 875 Megawatt.
Andere große Produzenten kehren mit ihren Reserveanlagen allerdings noch nicht an den Strommarkt zurück, etwa die Steag, die über Kapazitäten von insgesamt 2,3 Gigawatt verfügt. Der Grund für die Zurückhaltung liegt an der überkomplizierten Ausnahmeregelung aus Habecks Haus. Sie verlangt von den Betreibern, bis spätestens zum 1. November einen Kohlevorrat für mindestens 30 Tage Dauerbetrieb neben den Kraftwerken aufzuschütten. Im Fall der Steag wären das 700.000 Tonnen. Erstens bedeutet es eine gewaltige Investition, auf die Schnelle einen solchen Vorrat zusammenzukaufen. Der Preis für Steinkohle liegt derzeit zwischen 325 und 340 Dollar pro Tonne. Für die Riesenmenge, die in einer kurzen Zeit aus den Häfen Amsterdam, Rotterdam oder Antwerpen herangeschafft werden müsste, fehlen derzeit auch die Transportkapazitäten. Wegen Niedrigwasser kann auf dem Rhein derzeit nur wenig verschifft werden. Und die Bahn verfügt nicht über ausreichend Kohlewaggons: In dem Staatsunternehmen ging man bis Anfang 2022 davon aus, dass Deutschland bis 2030 ganz aus der Kohle aussteigt, womöglich sogar schon früher.
Zum anderen läuft die Sondergenehmigung zur Kohleverbrennung im März 2023 auch wieder aus. Sollte ein Betreiber bis dahin die teure Kohle nicht komplett aufgebraucht haben, etwa, weil doch weniger zusätzlicher Strom benötigt wird, oder weil neue Regelungen aus dem Ministerium eintreffen, dann bliebe er auf seinem teuer beschafften Brennstoff sitzen.
Dass Habecks „Verordnung zur befristeten Ausweitung des Stromerzeugungsangebots durch Anlagen aus der Netzreserve“ nicht so funktioniert, wie er und seine Beamten es sich vorstellen, liegt an einer grundsätzlichen Fehlkonstruktion der Ampel-Energiepolitik: Sie gilt immer nur für wenige Monate, manchmal nur für Wochen, und zeichnet sich durch einen hektische Zickzack-Kurs aus. Energieunternehmen planen dagegen in längeren Zeiträumen. Verträge zur Brennstoffbeschaffung, Investitionen, Rückflüsse – auf all diesen Gebieten kalkulieren die Manager eher in Jahren. Kein Wunder also, dass bei etlichen die Kohlekessel kalt bleiben.
Auch hier folgt die kurzatmige Steuerung im Wirtschaftsministerium einem Muster, das nicht zur üblichen Planung der Energiebranche passt. Aus einem ganz ähnlichen Grund brachte die Bundesregierung bisher auch keine langfristigen Vereinbarungen über die Lieferung von zusätzlichem Flüssiggas aus Katar und Norwegen zustande. Die Erzeugerländer müssten erst einmal kräftig investieren, um ihre Kapazitäten entsprechend zu steigern. Deshalb bevorzugen sie langfristige Liefervereinbarungen – am besten über den Zeitraum von 20 bis 25 Jahren.
Auf allen drei Gebieten – Kohle, Atom, Gas – zeigt sich das Grundproblem in Habecks Politik: Er versucht, die Energiekrise zu einer Frage der kommenden Wintermonate zu erklären. Danach, so seine Suggestion, ginge die deutsche Energiewende wie versprochen weiter bis zur vollgrünen Zukunft.
Eine mögliche Verlängerung für das bayerische Kernkraftwerk Isar 2 begründete Habeck in der Bürgerdialog-Veranstaltung seines Ministeriums im August mit dem Vorwurf, der Freistaat habe die Windenergie in den vergangenen Jahren nicht genügend ausgebaut.
„Das heißt, mit Solarenergie kannst du nachts im Januar exakt gar nichts anfangen in Bayern, du brauchst auch andere Formen“, sagte der Grünenpolitiker. Allerdings gilt das eben nicht nur für Bayern. In der sogenannten Dunkelflaute, wie sie im Winter öfters auftritt, decken Solar- und Windlagen an manchen Tagen nur einen Bruchteil des Strombedarfs – und zwar in ganz Deutschland. Eigentlich müsste Habeck seine Schlussfolgerungen zu Bayern nur konsequent weiterdenken, um zu erkennen, dass die Republik einen Sockel von grundlastfähigen Kraftwerken in möglichst vielen Erzeugungsarten braucht, damit sich die Stromkrise nicht noch weiter verschärft.
Das Desaster mit seiner Gasumlage begründete Habeck am Freitag sinngemäß mit der Erklärung: Das habe er ja nicht ahnen können. Nämlich diese komplizierten Verflechtungen auf dem Gasmarkt, die jetzt dafür sorgen, dass die teure Umlage, die eben noch Probleme lösen sollte, selbst zum Problemfall gerät.
Unternehmen und Bürger müssen hoffen, dass der Wirtschaftsminister von vor Wintereinbruch seinen Energiekurs gründlich ändert – was allerdings bedeutet, die grünen Parteiillusionen endgültig und nicht nur scheibchenweise aufzugeben. Sonst heißt es möglicherweise im Dezember, wenn der Strommangel akut droht, aus dem Haus des Vizekanzlers wieder: bedauerlich. Aber das konnte ja vorher niemand wissen.