Wieder der kranke Mann Europas? DAX trotzdem auf Jahreshoch

Gleich mehrere deutsche Ökonomen erinnerten in diesen Tagen daran, dass der „Economist“ vor einem knappen Vierteljahrhundert das Wort von Deutschland als „kranker Mann Europas“ prägte. Heute sei man «in einer ähnlichen Situation „der kollektiven Selbstzweifel und Sorgen über Deutschlands wirtschaftliche Zukunft“, schreibt der Chefökonom für Deutschland der Deutschen Bank.

IMAGO / STPP

Dafür braucht man kein Wirtschaftsstudium: Wer Geld verleiht, erhält einen Zins, der umso höher liegt, je länger die Dauer des Kredits ist. Man verzichtet ja auch länger auf das Kapital, und es besteht die Gefahr, dass es durch Preissteigerungen real an Wert verliert oder dass man es nicht zurückbekommt, weil der Schuldner in Schwierigkeiten gerät. An den Anleihemärkten ist in dieser Hinsicht aber seit einiger Zeit etwas durcheinandergeraten. In der vergangenen Woche brachten US-Staatsobligationen mit einer Laufzeit von zwei Jahren eine Rendite von 4,89 Prozent, während zehnjährige nur mit 3,97 Prozent rentierten. Zweijährige Bundesanleihen bringen den Anlegern derzeit eine Rendite von 3,03 Prozent, zehnjährige hingegen nur 2,48 Prozent. Was ist da los?

Wenn die kurz- über den langfristigen Zinsen liegen, sprechen Finanzexperten von einer sogenannten „inversen Zinsstrukturkurve“. „Eine inverse Zinsstrukturkurve ist ein zuverlässiger Indikator für eine nahende Rezession“, erläutert Thomas Gitzel, Chefökonom der VP Bank. Dies wiederum könnte bedeuten, dass das Federal Reserve die Leitzinsen in nicht allzu ferner Zukunft wieder senken wird – auch das spiegelt sich in der inversen Zinsstrukturkurve. Doch wenn die inverse Zinsstrukturkurve ein Indikator für eine nahende Rezession ist, wieso haben sich Aktien dann 2023 bisher so gut entwickelt? Besonders stark haben in diesem Jahr US-Technologietitel zugelegt, sie haben den ganzen US-Markt nach oben gezogen. Der Hauptgrund für die Kurssteigerungen der Tech-Aktien lag in der Euphorie der Anleger über neue Entwicklungen im Bereich der künstlichen Intelligenz. Allerdings gelten sie mittlerweile als teuer. Der US-Leitindex S&P 500 hat in diesem Jahr um 19 Prozent zugelegt. Ohne die Technologiefirmen fällt die Rendite deutlich niedriger aus. Der gesamte US-Markt gilt historisch mittlerweile als eher hoch bewertet. Auch bei der Marktliquidität gibt es Gegenwind für Aktien. Das US-Finanzministerium wird in den kommenden Monaten Staatsanleihen im Nettovolumen von bis zu 1.000 Milliarden Dollar emittieren – Geld, das an der Aktienbörse fehlen wird.

Was Deutschland angeht, hat die inverse Zinsstrukturkurve wohl tatsächlich einen besorgniserregenden Hintergrund. Gleich mehrere deutsche Ökonomen erinnerten in den vergangenen Tagen daran, dass der „Economist“ vor einem knappen Vierteljahrhundert den Begriff von Deutschland als dem „kranken Mann Europas“ prägte. Heute befinde man sich «in einer ähnlichen Situation „der kollektiven Selbstzweifel und Sorgen über Deutschlands wirtschaftliche Zukunft“, schreibt der Chefökonom für Deutschland der Deutschen Bank, Stefan Schneider in seinem „Ausblick“. In der Misere zur Jahrtausendwende rang sich die Regierung Schröder zur „Agenda 2010“ durch, die tatsächlich neuen Schwung in Wirtschaft und Gesellschaft brachte. Heute wartet man vergeblich auf eine „Agenda 2030“.

Wie dringend die wäre zeigt die erste Schätzung für die Entwicklung der Wirtschaftsleistung im zweiten Quartal, die das Statistische Bundesamt am Freitag veröffentlichte. Danach hat das Bruttoinlandprodukt (BIP) im zweiten Quartal preis-, saison- und kalenderbereinigt gegenüber dem Vorquartal stagniert. In den beiden Vorquartalen war das BIP – laut nach oben revidierten Angaben – um 0,1 Prozent (erstes Quartal 2023) respektive 0,4 Prozent (Schlussquartal 2022) geschrumpft. Gegenüber derselben Vorjahresperiode sank das BIP preisbereinigt um 0,6 Prozent. Kalenderbereinigt betrug der Rückgang nur 0,2 Prozent, da das zweite Vierteljahr 2023 einen Arbeitstag weniger aufwies als die Vorjahresperiode. Besserung ist derzeit kaum in Sicht, wenn man auf die Frühindikatoren abstellt. So ist der Ifo-Geschäftsklimaindex im Juli zum dritten Mal in Folge gesunken, weil die befragten Unternehmen sowohl die gegenwärtige Lage schlechter bewertet als auch ihre Erwartungen nach unten korrigiert hatten.

Die Entwicklung hat eine Vielzahl von Ursachen. Zwar ist die Teuerung gemessen an den Konsumentenpreisen von 6,4 Prozent im Juni auf voraussichtlich 6,2 Prozent im Juli zurückgegangen. Doch das ist noch immer ein hohes Niveau. Die Kernteuerung, die die volatilen Preise für Nahrungsmittel und Energie ausklammert, ging von 5,8 Prozent im Juni auf 5,5 Prozent im Berichtsmonat zurück. Die Industrie leidet nach wie vor darunter, dass die Nachfrage insbesondere aus China bisher schwächer ausfällt als nach der Aufhebung der Coronabeschränkung von vielen erhofft. Deutschland scheint darunter besonders stark zu leiden: In seiner am Dienstag veröffentlichten aktuellen Prognose sagt der Internationale Währungsfonds Deutschland einen Rückgang der Wirtschaftsleistung um 0,3 Prozent voraus. Bewahrheitet sich die Prognose, würde die Bundesrepublik abgeschlagen an letzter Stelle unter den Industrieländern rangieren. Die Probleme haben sich über die langen, zunehmend trägen Jahre der Ära Merkel angesammelt: Deutschland hat die Digitalisierung verschlafen und die Infrastruktur vernachlässigt. Das Land ist schlecht vorbereitet auf die demografische Alterung, die problematische, holprige Abfolge der Energiewende verteuert die Energie zusätzlich.

Gleichwohl haben die Börsen am Freitag beflügelt von Hoffnungen auf den nahenden Zinsgipfel erneut zugelegt. Aufgrund der rückläufigen Inflation halten es Beobachter für möglich, dass die Leitzinsen zumindest in den USA nicht mehr weiter steigen. Aktien aus dem investitions- und finanzierungsabhängigen Technologiesektor reagierten besonders sensibel, der Auswahlindex Nasdaq 100 gewann 1,9 Prozent auf 15.751 Punkte. Der Leitindex Dow Jones Industrial schloss 0,5 Prozent höher auf 35.459 Punkten. Für den marktbreiten S&P 500 ging es um ein Prozent auf 4.582 Zähler nach oben. Auf Wochensicht verbuchten alle drei Indizes Gewinne, dabei schnitt der Nasdaq 100 mit plus 2,1 Prozent am besten ab.

Erneut hatten Aktien-Anleger vor dem Wochenende Quartalsberichte zu verarbeiten, unter anderem von Intel. Der Halbleiterkonzern kehrte in den vergangenen drei Monaten in die Gewinnzone zurück. Nicht nur der Zwischenbericht, sondern auch der Ausblick auf das laufende Quartal übertraf die Erwartungen, die Intel-Aktien gewannen an der Dow-Spitze 6,6 Prozent. Die Aktionäre von Procter & Gamble freuten sich über ein Kursplus von 2,8 Prozent. Der Konsumgüterkonzern beendete das Geschäftsjahr 2022/23 stärker als erwartet. Konkurrent Colgate-Palmolive setzte sich dank Preiserhöhungen im abgelaufenen Quartal höhere Jahresziele. Die Aktien verloren dennoch 1,9 Prozent. Unter dem Strich sackte der Nettogewinn stark ab, weil deutlich höhere Steuern anfielen. Für die Aktien von Ford ging es um 3,4 Prozent nach oben. Der Autobauer fuhr mit Elektrofahrzeugen zwar einen Milliardenverlust ein, konnte dank der robusten Nachfrage nach Modellen mit Verbrennermotor den Konzerngewinn dennoch fast verdreifachen.

Der Euro legte zu und holte einen Teil seiner Vortagsverluste wieder auf. Nach dem US-Börsenschluss wurde die europäische Gemeinschaftswährung mit 1,1021 US-Dollar gehandelt. Die Rendite für zehnjährige Anleihen fiel auf 3,96 Prozent.

Zuvor hatte der Dax bereits sein altes Rekordhoch von Mitte Juni übertroffen. Der Leitindex stieg am frühen Nachmittag bis knapp unter 16 430 Punkte. Rasch aber kam er etwas zurück und schloß am Ende kaum verändert gegenüber dem Donnerstag auf 16.411 Punkten. Am Donnerstag war der Dax von der Aussicht auf ein Ende der Zinserhöhungen in der Eurozone und den USA befeuert worden; denn die Europäische Zentralbank (EZB) hatte nach der neunten Zinserhöhung in Folge erstmals eine Pause nicht ausgeschlossen. Zwar ließen beide Zentralbanken die Tür für weitere Anhebungen offen, doch an den Märkten gehen Experten zunehmend davon aus, dass der Zinsgipfel erreicht sein dürfte. Schon beim alten Rekord vom 16. Juni waren es die geldpolitischen Signale der Notenbanken Fed und EZB gewesen, die den Dax beflügelt hatten.

Unter den Einzelwerten im Dax richteten sich die Blicke vor allem auf Eon, BASF und die Deutsche Telekom. Der Versorger Eon hatte am Vorabend nach einer Entspannung auf dem Energiemarkt seine Gewinnprognosen für das laufende Jahr angehoben. Die neue Prognose liege deutlich über der durchschnittlichen Analystenschätzung, schrieb etwa Jefferies-Analyst Ahmed Farman. Er schränkte allerdings ein, dass der Grund dafür vor allem temporären Faktoren geschuldet sei. Die Aktie, die zeitweise an die Index-Spitze gestiegen war, gab am Nachmittag um 0,3 Prozent nach.

BASF bestätigte seine erst kürzlich gesenkten Ziele und meldete einen deutlichen Umsatz- und Ergebnisrückgang im zweiten Quartal. Aussagen des Managements während der Analysten-Konferenz verhalfen der zuvor schwächelnden Aktie schließlich an die Dax-Spitze mit plus 2,3 Prozent. Eine weitere Nachfrageverschlechterung in der zweiten Jahreshälfte sei klar verneint worden. Der Lagerabbau ende und der Boden dürfte mit Blick auf die Nachfrageschwäche inzwischen erreicht sein, sagte ein Händler. „Das wurde zwar schon einmal gesagt, aber wahrscheinlich konnte BASF nun wohl überzeugen.“

Der MDAX der 50 mittelgroßen börsennotierten Unternehmen verlor 0,8 Prozent auf 28.542 Zähler. Die Evotec-Aktie sackte als Schlusslicht um 5,8 Prozent ab.
Am Rentenmarkt verharrte die Umlaufrendite wie am Vortag auf 2,55 Prozent.

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Kommentare ( 2 )

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2 Comments
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Aegnor
1 Jahr her

Würde ich so nicht zustimmen. Schröder hat vieles falsch gemacht , aber die Agenda 2010 mit H-IV als Kernstück zähl ich nicht dazu. Arbeiten ist für die Gesellschaft immer besser als arbeitslos daheim hocken. Auch im Niedriglohnsektor. Das sehen wir ja aktuell, wo das „Bürgergeld“ das Heer der Langzeitarbeitslosen (besonders unter den Immigranten) massiv anschwellen lässt. Schlecht war dagegen definitiv die eingeführte private Altervorsorge (Riester + Rürup). Da hätte man von Anfang an den Sparern selbst überlassen sollen, worin sie ihr Geld anlegen, z.B. ganz einfach durch Steuerfreiheit bei nachweisbar langfristiger Anlage, anstatt sie in die Fänge der Versicherungsindustrie zu… Mehr

Last edited 1 Jahr her by Aegnor
Astrid
1 Jahr her

Deutschland ist Plünderland und nichts anderes. Wir zahlen den größten Mist in aller Welt und hier bei uns wird es immer düsterer. Leider merken es die meisten nicht, weil sie nichts hinterfragen. Wir werden hier ausgenommen wie die Weihnachtsgänse