Boom ohne Ende? Anleger sollten Negativ-Szenarien im Blick behalten

Seit Wochen purzeln die Rekorde, dem Megatrend Künstliche Intelligenz sei Dank. Doch am Horizont lauern auch Gefahren, die bei den meisten Anlegern völlig in den Hintergrund getreten sind. Investoren sollten sie wieder in den Blick nehmen, um unangenehme Überraschungen zu vermeiden.

IMAGO / STPP

Der Markt erwartet überwiegend, dass die US-Notenbank die Leitzinsen in diesem Jahr um insgesamt einen Prozentpunkt senken wird. Ein solches Szenario ist aber nur wahrscheinlich, wenn es in den USA zu einer Wachstumsverlangsamung kommt. Das bedeutet wiederum, dass die Weltkonjunktur eigentlich noch auf wackligen Beinen steht. Die jüngsten BIP-Zahlen aus Deutschland, Japan und Großbritannien bestätigen das. Alle drei Volkswirtschaften befinden sich in einer technischen Rezession. Auch in den USA deuten die Einzelhandelsumsätze vom Januar sowie die jüngsten Arbeitsmarktdaten auf eine Abschwächung hin. Bantleon-Chefökonom Daniel Hartmann geht deshalb davon aus, dass sich das Wachstum in den USA im Laufe des Jahres verlangsamt und dabei deutlich unter die Potenzialrate von zwei Prozent sinkt. „Ein Abgleiten in die Rezession ist nicht mehr unser Hauptszenario, aber nach wie vor möglich“, warnt Hartmann. Die Bremseffekte aus den gestiegenen Zinsen seien in der Wirtschaft noch nicht vollständig verdaut.

Unter einer solchen konjunkturellen Verlangsamung würden vor allem zyklische Aktien leiden – dazu gehören Banken-, Industrie-, Energie-, Technologie- und Luxustitel. Relativ besser schneiden defensive Titel ab – Gesundheit, Basiskonsum, Versorger, Telekommunikation und Infrastruktur. Die darauf folgende Börsenmechanik ist bekannt: Mit einem schwächer werdenden Wachstum werden auch die Gewinnschätzungen nach unten revidiert. „Wir rechnen daher bis zum Jahresende 2024 mit einem namhaften Rücksetzer an den globalen Aktienmärkten“, so der Bantleon-Ökonom.

Auch eine positive Überraschung – wenn sich die US-Wirtschaft also als widerstandsfähiger als erwartet erwiese – birgt Risiken für den Aktienmarkt. Der Arbeitsmarkt würde auf hohen Touren weiterlaufen, von dem steigenden Lohnwachstum erwüchsen neue Inflationsgefahren. Die Notenbank müsste gegenhalten, die in den Kursen heute enthaltene Zinssenkung fiele aus. Auch in diesem Fall ist die Mechanik bekannt: Steigende Bondrenditen mindern die relative Attraktivität von Dividendenpapiere. Insbesondere Wachstumsaktien kämen unter die Räder; relativ besser würden Value-Aktien abschneiden beziehungsweise Unternehmen mit hoher Preissetzungsmacht.

Völlig ausgeblendet haben Investoren derzeit auch Krisen des Finanzsystems. Das scheint leichtfertig; denn in Deutschland, aber auch in den USA und anderen Industrieländern, hat sich die Zinswende mittlerweile am Immobilienmarkt niedergeschlagen. Die ersten Bauträger haben Insolvenz angemeldet, weil sie ihre Projekte nicht verkauft bekommen, die für die Entwicklung aufgenommenen Kredite aber weiter bedient werden müssen. Die Leerstandsraten sprechen Bände. Jüngst machte zudem die Meldung die Runde, dass das Verhältnis aus Rückstellungen zu faulen Gewerbeimmobilienkrediten bei einigen großen US-Banken unter eins gefallen ist. Das riecht ein bisschen nach der „Häuserkrise“, die schließlich 2008 zur großen Finanzmarktkrise führte. Verlierer wären in erster Linie Bankaktien.

Aus dem Blick verloren haben die Anleger offensichtlich auch die Gefahr eines Energiepreisschocks, Nachdem bereits der Ukraine-Krieg die Rohstoffmärkte stark durchgeschüttelt hat, besitzt der für die Energiepreise viel wichtigere Konflikt im Nahen Osten das Potenzial, sich weiter auszuweiten. Dies würde die Versorgungsrouten – Straße von Hormus – für den Transport fossiler Brennträger blockieren beziehungsweise generell das Angebot beschneiden. In Anbetracht dessen könnte der Ölpreis laut dem Bantleon-Chefökonomen auf über 100 Dollar pro Barrel schnellen. Wiederum würden die Aktienmärkte leiden – mit der Ausnahme von Energie- und Grundstoff-Aktien. Auch Gold dürfte profitieren.

Der Impact der Wahlen in den USA wird dagegen überschätzt. Grundsätzlich gilt das Sprichwort „Politische Börsen haben kurze Beine“. „Ob Trump oder Biden die US-Präsidentschaftswahl gewinnt, macht wahrscheinlich keinen großen Unterschied für die Finanzmärkte. Beide haben mit Blick auf die Wirtschaftsaussichten ihre Vor- und Nachteile“, sagte Hartmann kürzlich der Schweizer Finanzplattform „Cash“. Bei einem Trump-Sieg würde wahrscheinlich die Aussicht auf weitere Steuersenkungen und Deregulierungen die US-Märkte stimulieren. Umgekehrt würden sein erratischer Politikstil und die Drohung mit Zöllen zur weltweiten Verunsicherung beitragen.

Eine erhebliche Gefahr geht derzeit von einer Enttäuschung der hochgeschossenen Erwartungen in die Möglichkeiten der Künstlichen Intelligenz aus. Die Aktien des Chip-und Graphikkarten-Produzenten Nvidia sind auf Zwölfmonatssicht mehr als 230 Prozent in die Höhe geschossen, Microsoft – mit seiner Großbeteiligung bei ChatGPT steht 61 Prozent höher. Angesichts der großen Hoffnungen der Anleger würde jede Enttäuschung zu einer Korrektur führen.

Einstweilen werden diese Gefahren aber munter verdrängt. Ein weiter freundliches Umfeld und positiv aufgenommene Wirtschaftsnachrichten versetzten die US-Börsen zum Wochenschluss erneut in Rekordlaune. Sowohl die wichtigsten Technologieindizes als auch der marktbreite S&P 500 erreichten am Freitag weitere Bestmarken. Der technologielastige Auswahlindex Nasdaq 100 stieg um 1,4 Prozent auf 18.303 Punkte. Für den S&P 500 ging es um 0,8 Prozent auf 5.137 Zähler bergauf. Der Leitindex Dow Jones Industrial legte um 0,2 Prozent auf 39.087 Punkte zu.

Unter den Einzelwerten standen die Aktien von Dell Technologies mit einem Kurssprung von 31,6 Prozent im Fokus. Der Computerhersteller hatte für das abgelaufene Quartal unerwartet hohen Zahlen für Umsatz und Gewinn vorgelegt. Dieses Mal hätten die auf Künstliche Intelligenz bezogenen Aufträge nicht enttäuscht, kommentierte Analyst David Vogt von der Bank UBS.

Die Aktien von Spirit Aerosystems schnellten um mehr als 15 Prozent in die Höhe. Das „Wall Street Journal“ und die Nachrichtenagentur Bloomberg hatten berichtet, dass der Flugzeughersteller Boeing angesichts der Mängel an seinen 737-Max-Jets den Rückkauf seines Rumpf-Zulieferers auslote. Die Anteilscheine von Boeing fielen als zweitschwächster Wert im Dow um 1,8 Prozent. Nach Börsenschluss bestätigten der Flugzeugbauer und Spirit Aerosystems entsprechende Gespräche.

Die Anteilscheine von New York Community Bancorp brachen um knapp 26 Prozent ein, nachdem die Bank Probleme mit ihren internen Kontrollen bekannt gegeben und einen Führungswechsel angekündigt hatte. Bei der Bewertung der Unternehmenskontrolle durch das Management seien wesentliche Schwachstellen im Zusammenhang mit der Kreditprüfung festgestellt worden, hieß es.

Der Euro kostete im New Yorker Handel zuletzt 1,0838 US-Dollar. Die Kurse der US-Staatsanleihen legten zu. Die Rendite zehnjähriger Staatspapiere fiel auf 4,18 Prozent.

Zuvor hatte schon der Dax seinen Höhenflug fortgesetzt und mit der siebten Bestmarke in Folge gekrönt. Auf Schlusskursbasis gelang dem deutschen Leitindex gar acht Tage hintereinander ein Rekord. Börsenexperte Thomas Altmann von QC Partners sprach von der längsten Rekordserie seit dem Jahr 2015. Der Dax ging mit einem Plus von 0,3 Prozent bei 17.735 Punkten aus dem Handel. Auf Wochensicht verbuchte das Börsenbarometer ein Plus von 1,8 Prozent. Noch robuster als der Dax zeigte sich der MDax. Er ging mit einem Zuwachs von knapp 1,2 Prozent bei 26.121 Punkten dicht unter seinem Tageshoch aus dem Handel. Der Index der mittelgroßen Unternehmen war zuletzt aber auch seinem großen Bruder hinterhergehinkt.

Auf Unternehmensseite standen am Freitag Geschäftszahlen vorwiegend aus der Autobranche im Fokus. Volkswagen-Vorzüge knickten nach überraschend vorgelegten Eckdaten ein und gingen als Dax-Verlierer mit einem Abschlag von fast fünf Prozent ins Wochenende. Der Autobauer hatte im vergangenen Jahr einen Rückgang der Profitabilität hinnehmen müssen. 2024 rechnen die Wolfsburger zwar wieder mit etwas Besserung, die Anleger störten sich jedoch an den hohen Investitionsausgaben.

Begeistert reagierten die Anleger dagegen auf den Ausblick des Nutzfahrzeugherstellers Daimler Truck, der als überraschend zuversichtlich gewertet wurde. Mit einem Kurssprung von gut 18 Prozent waren die Aktien Dax-Spitzenreiter und setzten ihren Rekordlauf fort. In ihrem Kielwasser sprangen die Papiere der Volkswagen-Nutzfahrzeugholding Traton als größter Gewinner im Nebenwerte-Index SDax um mehr als sechs Prozent an. Die Aktien des Autovermieters Sixt entwickelten sich ebenfalls nach Zahlen mit plus 2,1 Prozent klar besser als der MDax.

Am Rentenmarkt ging es bergauf. Die Umlaufrendite fiel von 2,54 auf 2,46 Prozent.

In der kommenden Woche werden unter anderem Brenntag, Continental, Deutsche Lufthansa, Deutsche Pfandbriefbank, Deutsche Post, Drägerwerk, Evonik, GEA Group, Henkel, Hugo Boss, Merk, Oracle, ProSiebenSat.1, Schäffler, Stöer, Symrise, Traton und Vivendi Geschäftszahlen für das abgelaufene Quartal veröffentlichen. Aus Deutschland werden Daten zu den Pkw-Neuzulassungen veröffentlicht. Damit rücken Autobauer wie BMW, Mercedes-Benz, Porsche und VW in den Fokus. Bayer wird Quartalszahlen veröffentlichen und einen strategischen Ausblick geben. Dabei könnten unter anderem Abspaltungen von Bereichen thematisiert werden. Novartis lädt zur Hauptversammlung.

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A-Tom
8 Monate her

Wenn man den Berichten auf den einschlägigen Youtube-Kanälen und den relevanten Foren glaubt, scheint bei Big-Tech die Luft aus dem Ballon zu entweichen. Die in aller Munde und Ohr geführte Debatte um AI scheint zuerst die Arbeitsplätze bei den Größen im Silicon Valley zu gefährden. Man könnte auch schreiben: Die, die auszogen, um anderen das Fürchten zu lehren, fürchten sich nun selbst. Die wohl bisher nicht erfüllten Erwartungen im Sektor Künstliche Intelligenz sorgen für Verluste der bisher gut und sehr gut dotierten Arbeitsplätze bspw. als Senior Developer u.ä.. Einhundert Bewerbungen und mehr, um endlich einen Arbeitsplatz zu ergattern, sind auch… Mehr