In der aktuellen Sendung geht es bei Tichys Ausblick um Literatur in Zeiten der Polarisierung und Cancel Culture. Hierzu sind die beiden Schriftsteller Uwe Tellkamp und Klaus-Rüdiger Mai geladen. Beide Autoren sind in der DDR aufgewachsen.
Zu Beginn geht es um die Entwicklung gesellschaftlicher Diskurse in den letzten Jahren. Tellkamp sieht hier eine klare Entwicklung: „2015 war für mich wirklich ein Umbruch in der medialen Berichterstattung.“ Er sieht eine Diskrepanz zwischen der Realität und dem, was medial abgebildet wird: „Wir brauchen nur nach Berlin in die Schulen gucken, um zu sehen, dass sich was verändert hat. Wie wir das nennen, ist mir egal, das Faktum interessiert mich.“
Tellkamp kritisiert weiter: „Wird der grundsätzliche Solidaritätsgedanke eines Verbunds von Menschen erhalten bleiben können? Die Nation ist ja das Gebilde, das die Solidarität ermöglicht. Das zersplittert immer mehr, und irgendwann fliegt uns der ganze Laden um die Ohren.“ Und weiter konstatiert er: „Alle, die zu uns kommen, haben bereits einen sicheren Drittstaat passiert, und sind dementsprechend keine Flüchtlinge mehr, sondern Migranten (…) Diese Menschen verhalten sich ganz rational. Die Frage ist, ob wir uns rational verhalten.“
Zu der Veränderung von Berichterstattung und Diskurs in den letzten Jahren ergänzt Mai: „Wir haben eine ideologiegeschichtliche Entwicklung im Westen seit den 60ern, wo sich immer mehr der Linksliberalismus durchsetzt. Linksliberalismus habe ich immer definiert als Liberalismus ohne Freiheit. Das merken wir am Diskurs, das merken wir an den Debatten – wenn sie denn noch Debatten sind; Debatte heißt ja, dass man verschiedene Standpunkte offen vertreten kann.“
Mai weiter: „Wir müssen staatsrechtlich den Bürger hochhalten. Wenn wir die Bürger zu bloßen ‚Menschen‘ degradieren, also zu einer Verfügungsmasse der Staatsführung ähnlich wie in der DDR, dann verlieren wir unsere Rechtsordnung.“ Tellkamp sieht eine ganz klare Einschränkung des Diskursrahmens und des gesellschaftlich zulässigen Meinungskorridors: „Die Grenzen des Sagbaren dominieren den Diskurs, man muss vorsichtig sein in dem, wie man sich öffentlich äußert.“
Zu der Art und Weise moderner Haltungsmoral bei der Beurteilung von Literatur sagt Mai: „Ein Großteil der Kritiken sind derart, dass sie nicht den Text rezensieren, sondern den Autor zensieren. Ich habe damals Germanistik in der DDR studiert. Wir haben dafür gekämpft und geschrieben, dass die Literatur nicht ideologisch beurteilt wird, sondern man die Literatur als Literatur und den Text als Text liest. Und jetzt sehe ich den Rückfall, dass der Text eigentlich gar keine Rolle spielt – wichtig ist: welche Haltung hat der Autor, dann wird er hochgeschrieben – oder runtergeschrieben.“
Tellkamp sieht zwar keine staatliche Zensur, allerdings eine Art freiwillige, aus der Gesellschaft selbst kommende Kultur der geistigen Unfreiheit: „Es gibt keine Zensur aus dem Kanzleramt, aber es kommen eben Interventionen von Außen – von Veranstaltern, die gewisse Leute ausladen.“ Moderator Tichy wirft hier den Begriff der „freiwilligen Gleichschaltung“ ein.
Tellkamp weiter: „Alle Identitätsfragen sind zutiefst vergiftet, darüber kann man nicht mehr frei schreiben.“ Zu der Begriffsverwirrung und Deutungshoheit konstatiert er: „Es ist unsere Aufgabe als Autoren, Begriffe sauber zu halten. Denn es beginnt mit der Verwirrung der Begriffe.“
Mai kritisiert eine abnehmende intellektuelle Substanz in den Debatten: „Sie finden in den Diskursen oft keine Inhärenzen mehr. Man hat das Gefühl, man hat eigentlich nur Sammlungen von Schlagwörtern und Signalwörtern. Die rationale Ebene der Auseinandersetzung wird immer dünner.“
Wo ist die Stimme der Vernunft in Zeiten des zunehmenden Chaos? Wo ist die Rolle der Literatur in der Zeit von Cancel Culture. Darüber diskutieren Roland Tichy und Co-Moderator Frank Henkel heute Abend ab 20:15 Uhr bei Tichys Ausblick. Sie finden die Sendung auf der Webseite, bei YouTube, bei TV.Berlin und bei GETTR.
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