Gemein, diese Schweizer. Die behandeln uns Deutsche so, als wären wir Zigeuner. Sie mögen uns genauso wenig wie wir uns selbst.
Die Schweizer haben für Einwanderungsbeschränkungen gestimmt, und jetzt ist das ganz offizielle Europa böse mit diesen Hinterwäldlern. Dabei machen die Schweizer es eigentlich nicht anders, als wir es mit Rumänen und Bulgaren praktizieren: Sie wehren sich gegen Wirtschaftsflüchtlinge, Armutsmigration und Sozialtourismus. Denn aus Sicht der Schweizer kommen wir Deutschen eben wie Sinti und Roma in Scharen daher, nutzen die Freizügigkeitsregel der EU aus, überschwemmen das Land, verstopfen die Straßen und nehmen den Einheimischen die Arbeit weg. Ein Sechstel der Ausländer in der Schweiz sind Deutsche. Plötzlich machen Deutsche die unangenehme Erfahrung, dass man selbst ganz schnell Ausländer wird: Eigentlich ist man fast überall Ausländer, nur daheim nicht.
Und warum genau beherrschen deutsche Kellner die berühmte Schweizer Gastronomie und deutsche Ärzte das Schweizer Gesundheitssystem? Weil sie in der Schweiz besser bezahlt werden und Ärzte weniger Bereitschaftsdienste leisten müssen. Kurz, der Deutsche in der Schweiz ist ein klassischer Wirtschaftsflüchtling, der vor den Sparprogrammen im Gesundheitswesen das Weite sucht. In die so aufgerissenen Lücken in München oder Berlin springen Ärzte aus Bulgarien oder Rumänien. Aus deren Sicht sind das Gehaltsniveau und die Arbeitsbedingungen in Berlin oder München super – verglichen mit Sofia oder Bukarest. Es kommt eben darauf an, wo man in der internationalen Wohlstandsskala gerade steht.
Das ist übrigens keine neue Entwicklung: In der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg war Deutschland das größte Auswanderungsland der Welt. „Das Land drängt seine Kinder fort“, formulierte damals der große Ökonom Werner Sombart angesichts der Verelendung der Menschen. Es drängte sie nach Amerika, nach Kanada und Australien. Gleichzeitig war Deutschland nach den USA das zweitgrößte Einwanderungsland – für Menschen aus Galizien, für Ruthenen, Polen, Ukrainer und Georgier. Das wiederholte sich nach dem Zweiten Weltkrieg. In den Fünfzigerjahren schufteten Deutsche in den schwedischen Erzbergwerken von Kiruna, während die Bundesanstalt für Arbeit Sizilianer für die Kohlegruben im Ruhrgebiet anwarb. Dass der Mensch ein unumstößliches Recht auf Glück hat und darauf, ihm nachzulaufen – das haben die Amerikaner sogar in ihre Unabhängigkeitserklärung geschrieben, „The Pursuit of Happiness“. Es sollte uns bescheiden machen bei manchen Ausländerdebatten.
In der Schweiz ist der Ausländeranteil fast dreimal höher als in Deutschland. Zu hoch? In Berlin jedenfalls werden gegen Zuwanderung wieder die Mauern hochgezogen. Die Stadt verbietet Wohnungsmodernisierung, neue Balkone und den Bau von Zweittoiletten. Die neuen Einheimischen, die vor 20 Jahren am Prenzlauer Berg die ursprünglich dort hausenden Ossis weggekauft haben, wollen jetzt selbst vor kaufkräftigen Schwaben geschützt werden. Der Schwabe ist in Berlin das Hassobjekt der nativen „Gentrifizierungsgegner“. Wir Deutsche mögen nicht mal uns selbst, und jeder soll bleiben, wo er herkommt. Der Berliner Senat ist genauso vernagelt wie die alpinen Ausländerfeinde. Er schminkt sich halt nur progressiver.
Es geht nicht nur um Platz und Wohnungen. Seit Jahren ärgern sich die Schweizer über die rüden Piefkes in der Klinik – so wie manche Deutsche sich über bettelnde und stehlende Angehörige einer Migrationsgruppe mit historisch ausgeprägter Mobilitätsvorliebe ärgern. Deshalb wurde für Osteuropäer zunächst für sieben Jahre die Freizügigkeit ausgesetzt. Die Schweizer nehmen sich nun drei Jahre Zeit, um ein Zuzugsgesetz mit vielen Schlupflöchern zu formulieren. Bei den Wahlen zum Europäischen Parlament fürchtet nicht nur Ex-Kanzler Gerhard Schröder, dass auch Deutsche die Vorzüge der Zuwanderung nicht länger einsehen.
Schimpft mir nicht auf die Schweizer! Wir sind selber welche. Und oft genug sind und waren wir auch: Zigeuner.
(Erschienen auf Wiwo.de am 15.2.2014)
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