Schöner Kapitalismus

In Deutschland steht die Welt mal wieder kopf: Landauf, landab spielen die Unternehmer in den Boombranchen Auto, Maschinenbau und Chemie den besseren Gewerkschaftler und spendieren ihren Mitarbeitern Erfolgsprämien, oft mehrere Monatsgehälter.

Die von den Gewerkschaften erkämpften Tarifgehälter dagegen steigen im Schnitt nur zwischen 2,0 und 2,5 Prozent. Im Gewerkschaftslager kommt keine wahre Freude auf, dass der Neo-Liberalismus nun doch seine guten Seiten zeigt: Wer mag da DGB-Chef Michael Sommer noch zuhören bei seinem Zeitarbeits-Genöle und Mindestlöhne-Gemaule, wenn die Arbeitslosigkeit sinkt und Gehaltssteigerungen freiwillig überwiesen werden. Während der Tariflohnverhandlungen im vergangenen Jahr hat noch keiner so recht an den Aufschwung und die Dynamik des weltweit wirkenden Kapitalismus glauben wollen und ebenso niedrige wie langlaufende Verträge abgeschlossen – ein strategisches Dilemma für die Gewerkschaften, wie sich jetzt zeigt, seit die Inflation mit bald erwarteten drei Prozent mehr wegfrisst, als sie erkämpfen konnten: Jetzt zeigt sich der Fluch des Euro, der von der Hart- zur Weichwährung mutiert.

Aber das absurdeste Ergebnis erleben die Arbeitnehmer, wenn das viele Brutto zu magerem Netto schmilzt: Gerade bei den weniger gut Verdienenden ist der Anstieg der Belastung am steilsten. So stellen in diesen Wochen erstaunte Arbeitnehmer fest, dass von jedem Euro Mehrverdienst und jedem Euro Erfolgsprämie 60 Cent als Steuern und Sozialabgaben abgezogen werden. Der wahre Feind des Arbeitnehmers sitzt nicht mehr in der Chefetage, sondern im Bundesfinanz- und Sozialministerium. Arbeitsministerin Ursula von der Leyen erfindet im Wochenrhythmus immer neue Gruppen von Ausgebeuteten und Entrechteten, denen geholfen werden muss. Und Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble hat ja recht: Deutschland ist katastrophal verschuldet. Kein Wort ist dran an der Haushaltskonsolidierung. Auch im XXL-Aufschwung erhöhen sich die Staatsschulden, ist das Spar-Gerede nur Propaganda-Papperlapapp: Jeden zusätzlichen Steuer-Euro aus dem Aufschwung hat Schäuble schon verplant. Die steile Steuerprogression wird nur von der Ausgabenexpansion einer durchgeknallten Euro- und Energiepolitik überholt: Im Fach Solidität will Berlin wohl ein Vorort von Athen werden.

Lange können sich die Gewerkschaften nicht mehr veralbern lassen. Bald werden sie Nachschlag fordern und spätestens 2012 bei Tariflöhnen zulangen müssen. Dann werden die steigenden Löhne in steigende Preise umgewandelt und Löhne und Preise sich gegenseitig vorwärts treiben, während vermutlich die Weltkonjunktur uns nicht mehr den Gefallen macht, jeden Daimler zu kaufen, den Winfried Kretschmann gerade noch gnädig vom Band rollen lässt. In Berlin fehlt eine Kraft, die die Ressort-Egoismen der Bundesminister zu einem Gesamt-Design verknüpft: So notwendig alle Haushaltskonsolidierung ist – es geht nicht gut, wenn im XXL-Aufschwung nach Abzug von Inflation und Steuern die Einkommen schrumpfen. Es ruht kein Segen darauf, wenn den Arbeitnehmern nichts extra bleibt, weil der Staat neue Ausgaben erfindet. Im magischen Dreieck des Aufschwungs müssen Steuer-, Einkommens- und Währungspolitik harmonisch gesteuert werden. Mehr Netto vom Brutto, ein Abflachen des Mittelstandsbauchs ist das Gebot der Stunde.

Schneller wäre eine Senkung der Mehrwertsteuer umsetzbar. Das reißt zwar ein gewaltiges Loch in die Staatskassen – ein Prozentpunkt entspricht etwa neun Milliarden Euro. Sinkt die Mehrwertsteuer, könnten aber auch die Preise sinken, die Inflation bekäme einen Dämpfer. Der Binnenkonsum erhielte einen Schub quer durch alle Einkommensklassen. Aber die Steuern zu senken ist unpopulär, weil die politische Allparteien-Mehrheit in Berlin höhere Steuern und einen wachsenden Staatsanteil liebt. Aber lange werden die ausgebeuteten Bürger das nicht mehr mitmachen und ihren Anteil am Aufschwung XXL einfordern.

(Erschienen auf Wiwo.de am 21.05.2011)

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