Offen für Alternativen

Mein persönliches Unwort des Jahres ist „Alternativlosigkeit“. Damit wurde uns der Bankenrettungsschirm (500 Milliarden Euro) serviert, kurz darauf die Griechenlandhilfe (deutscher Anteil 22 Milliarden) und der Euro-Rettungsschirm (deutscher Anteil bis 148 Milliarden). Seither wird die Alternativlosigkeit inflationiert: Für die Befürworter ist die Tieferlegung des Stuttgarter Bahnhofs alternativlos, für die Kernkraftwerksbetreiber die Laufzeitverlängerung, und für die Ökoszene sind es Windräder und Solarpanele. 

Gibt es wirklich keine Alternativen? Ist eine amtlich verordnete Politik des „Augen-zu-und-durch“, selbst wenn die Gänsehaut schon das Rückgrat hochkriecht, nicht schon deswegen falsch, weil sich unterwegs in die Zukunft plötzlich alles ganz anders darstellt? Die Bundesregierung implementiert derzeit ein Energieprogramm für das Jahr 2050. Das Beste, was man darüber sagen kann: Es ist politisch klug. Wenn sich das Jahr 2050 einstellt, erinnert sich niemand mehr an jene, die uns heute auf den falschen Weg geprügelt haben, denn klar ist: Wenn wir dereinst 80 Jahre WirtschaftsWoche feiern, so wie mit dieser Ausgabe unseren 40. Geburtstag, werden sich unsere Nachfolger ziemlich lustig machen über die Prognosen, die wir heute so zukunftsgewiss aufstellen.

Mein Lieblingsirrtum: In den Siebzigerjahren haben die Niederlande die Förderung des Nordseegases forciert – schnell raus damit, denn man fürchtete den Preisverfall, wenn der billige Atomstrom kommt. Eine langsamere Ausbeute hätte dem Land heute den schmerzhaften Sparkurs abmildern können, der zum Auftreten einer rechtspopulistischen Partei führte. Mein schlimmster Prognosefehler: Vor 20 Jahren habe ich „enthüllt“, dass die Wiedervereinigung die sagenhafte Summe von 60 Milliarden Mark kosten werde – eine Abweichung um den Faktor 50. Nicht schlecht, und doch: Wert war sie es doch, die Wiedervereinigung.

Die Bundeskanzlerin zitierte vergangene Woche zu Recht den Historiker Reinhart Koselleck mit der Maxime „Alles war immer anders als gesagt“ und ebenso skeptisch „Alles ist immer anders als gedacht“.

Gut gebrüllt, Löwin. Die Frage ist nur: Warum wird ein Klimaprogramm forciert, dessen zugrunde liegende Prämissen wie Kosten, global abgestimmtes Handeln und Annahmen über Klimaentwicklung schon heute fragwürdig sind?

Deutschland verstrickt sich in Allmachtsfantasien der langfristigen Gestaltbarkeit von Wirtschaft und Gesellschaft, die Unvorhersehbares leugnet und Alternativen deshalb verbaut, um ungestört regieren zu können.

Wir waren schon weiter. Vor vier Jahrzehnten hat Friedrich August von Hayek, seine „Verfassung der Freiheit“ vorgelegt. Freiheit bedeutet für ihn auch zu „hungern, kostspielige Irrtümer zu begehen oder gewaltige Risiken einzugehen“.

Dieser Gedanke taucht vor der parteiübergreifenden Denkverengung auf wie der Eisberg vor der Titanic. Mehr noch Hayeks Forderung nach „Raum für das Unvorhersehbare“.

Prognosen müssen sein, und wir legen mit diesem Heft Zukunftstendenzen vor. Aber sie dürfen nicht zum Dogma erstarren, das Alternativen ächtet. Wir brauchen ein ständiges Suchverfahren, sagt Hayek, den Markt als Entdeckungsverfahren. Der Markt der Möglichkeiten ist der vermeintlichen Gewissheit der Staatsbürokratie, der staatlichen Lenkung und Allokation allemal überlegen, weil er Irrtümer schnell korrigiert – schon aus Eigeninteresse.

(Erschienen am 2.10.2010 auf Wiwo.de)

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