Nachwahlfrust

Wir werden Busfernlinienverkehr zulassen – dieser Satz findet sich etwas unvermittelt auf Seite 37 des 132 Seiten langen Koalitionsvertrages. Es ist ein Schmankerl für Feinschmecker der Verkehrspolitik, denn man glaubt es eigentlich nicht, dass in Deutschland so etwas scheinbar Selbstverständliches wie eine Buslinie zwischen Köln und München verboten ist – zum Schutz der Bahn. Das Beispiel zeigt auch, wie schwer es ist, in diesem Land 60 Jahre nach Ludwig Erhard etwas mehr Marktwirtschaft zu verwirklichen. Der Koalitionsvertrag ist voll von solchen scheinbaren Kleinigkeiten, Prüfaufträgen und Kommissionen, die alle die Aufgabe haben, den überbürokratisierten und überbordenden Staat wenigstens etwas zurückzudrängen und durch mehr Leistungsbereitschaft und Eigenverantwortung seiner Bürger zu ersetzen.

An Busfernlinien allein wird Deutschland wirtschaftlich nicht genesen – der Richtungswechsel in Trippelschritten ist trotzdem notwendig. In einem so hoch entwickelten Land wird mehr Freiheit nicht mit einem scharfen Schwerthieb errungen, sondern mit der Nagelschere, die all die vielen Zwergenseile durchtrennt, die den Riesen fesseln.

Wie gering die Spielräume sind, zeigt sich exemplarisch in der Finanzpolitik. Wolfgang Schäuble ist ein durchsetzungsstarker Finanzminister, dessen leise Stimme und konzilianter Ton in krassem Gegensatz zu seiner Entschlossenheit und Härte stehen. Diese Qualitäten sind nicht so sehr beim Steuersenken gefragt, sondern in der Phase der Konsolidierung. Seine Meisterschaft wird sich beweisen, wenn das riskante, aber grundsätzlich richtige finanzpolitische Konzept der neuen Regierung aufgeht, das da heißt: noch höhere Verschuldung jetzt, um über die dadurch ausgelösten Wachstumsimpulse zukünftige Steuereinnahmen zu generieren.

Wenn es Schäuble spätestens dann nicht gelingt, die neuen Ausgabenwünsche, die immer schneller wachsen als die Einnahmen, zurückzudrängen und mit zusätzlichen Steuereinnahmen die Staatsverschuldung zu tilgen, dann torkelt Deutschland in ein finanzpolitisches Desaster. Die antizyklische Finanzpolitik – Geldausgeben in der Rezession, wenn man keines hat, und Sparen im Aufschwung, wenn die Steuern sprudeln – ist in der Theorie richtig, hat aber in der Praxis noch nie funktioniert. Trotzdem ist der Kurs weiterer Steuersenkungen unvermeidlich, auch aus politischen Gründen:

Steuersenkung ist Bringschuld

Die Stimmengewinne der FDP, die diese Koalition erst ermöglicht haben, stammen von Wählern, die nicht nur den Bevormundungsstaat, sondern auch den Abgabenstaat zurückdrängen wollen. Diese Wähler fühlen sich vor den Kopf gestoßen, weil versprochene Steuersenkung und Tarifvereinfachungen schon jetzt, die Tinte unter dem Koalitionsvertrag ist noch feucht, ins Ungefähre verschoben wurden. Schon jetzt rächt sich, dass die FDP das Amt des Finanzministers nicht erobert hat. Damit ist der Erfolg der FDP am Kabinettstisch und bei Landtagswahlen davon abhängig, ob Kanzlerin und Finanzminister ihr diesen Erfolg auch gönnen. Angela Merkel ist eine Kanzlerin mit langem Atem. Neben ihr ist der SPD am Kabinettstisch die Luft ausgegangen. Diese Atemnot droht nun auch der FDP.

Einen großen Fehler hat die Koalition schon gemacht: Sie hat auf Beifall aus der falschen Ecke gehofft. Da gibt sie so viele Milliarden Euro für Sozialpolitik aus, um ja den Vorwurf der sozialen Kälte zu entkräften – und wird grell und lautstark für ihre vermeintliche Umverteilungspolitik gescholten und dafür, dass von der Steuersenkung nicht profitieren kann, wer keine zahlt. Dagegen hilft nur eines: Nerven bewahren und durchregieren gegen den unvermeidlichen Nachwahlfrust.

(Erschienen am 31.10.2009 auf Wiwo.de)

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