Katastrophen-Agenda

Die schlimmsten Katastrophen sind nicht diese völlig überraschenden Schicksalsschläge, Tsunamis etwa, die uns aus heiterem Himmel treffen und für viele nur als Gottes unerklärlicher Willen zu verstehen sind. Viel schlimmer sind die angekündigten Katastrophen; die allerschlimmsten sind die pünktlichen Katastrophen, gegen die keine Vorsorge getroffen wurde, obwohl sogar ihr Zeitpunkt feststand. Für diese Unglücke sind wir selbst verantwortlich; schuld sind unser eigenes Versagen, unsere gedankliche Faulheit und Bequemlichkeit.

Zu den schrecklichen, weil fahrplanmäßigen Katastrophen gehören die Missstände bei der Integration vieler Jugendlicher, die Ausländer oder Türken zu nennen ich mich weigere, weil sie Deutsche sind. Das Misslingen ihrer Integration tritt gerade jetzt offen zutage. Aus US-amerikanischen, kanadischen und deutschen Forschungen wissen wir, dass Einwanderung ein Prozess ist, der sich über drei Generationen erstreckt. Die Angehörigen der ersten Generation sind meist still, unauffällig, angepasst und fremd am neuen Ort, an dem sie nur ihren Lebensunterhalt verdienen wollen. Sie träumen davon, irgendwann wieder in die Heimat zurückkehren zu können. Ihre Kinder sind eine Generation der Suchenden – sie schwanken zwischen dem Herkunftsland der Eltern und ihrem Geburtsland. Entscheidend ist die dritte Generation: Sie fühlt sich fest verwurzelt in der neuen Heimat, trägt und gestaltet diese Gesellschaft mit. Die Schweigenden sind ehrgeizig und erfolgsorientiert. Die anderen, die Lauten, schotten sich ab, grenzen sich aus und radikalisieren sich. Wir haben es zugelassen, dass wir große Teile der Menschen türkischer Abstammung der dritten Generation verloren haben. Es sind ja die Enkeltöchter der Müllwerker aus Anatolien, die hier aus freien Stücken das Kopftuch anlegen, wenn sie die Universität besuchen. Und es sind die Enkelsöhne, die einen gewalttätigen Machismo kultivieren, der selbst in der viel moderneren Türkei als absurd anachronistisch empfunden würde. Nicht wenige bekennen sich sogar zu einer Türkei, aus der ihre Vorfahren fliehen mussten: viele Kurden, viele Intellektuelle, die hier ihre Freiheit gefunden haben, aber auch jene 70.000 armenisch-orthodoxen Christen, die vom radikalen Islam unterdrückt werden.

Jetzt also jubeln sie dem türkischen Ministerpräsidenten zu, weil sie in ihm den Schirmherrn suchen, den sie hierzulande nicht finden. Die Volksparteien versagen komplett, indem sie, wie wir alle, große Teile des tatsächlichen Volkes ausblenden. Sie fühlen sich von der Union nicht vertreten, die sie ständig als Ausländer denunziert. Hinter einer SPD mögen sie sich ebenso wenig scharen, weil die sie am Wahltag als Stimmvieh missbraucht und so tut, als ob Integration ohne Mitarbeit der Betroffenen vom Sozialamt zugeteilt werden könnte.

Also noch ein Integrationsgipfel? Noch eine Integrationsbeauftragte mit noch mehr Streetworkern? Nein: Was wir brauchen, ist ein massives Integrationsprogramm, das die Ghettobildung aufbricht, die Innenstädte wieder für alle Bevölkerungsgruppen bewohnbar macht, die Schulen und Kindergärten als Motoren der Integration in Gang setzt und unseren Arbeitsmarkt öffnet – wo neben den Türken viele Asylbewerber unterschiedlichster Rechtsposition sind, Illegale, Deutschrussen und Einwanderer aus Arabien und Nordafrika, bei denen sich die Fehler zu wiederholen drohen und jene Parallelgesellschaften wuchern, an denen jede Gesellschaft zerbricht. Die Öffnung braucht Selbstbewusstsein: Ja, dieses Deutschland bietet Freiheit, Wohlstand und Anstand. Es kann daher erwarten, dass seine Kultur und seine Lebensstile als weltoffene Leitbilder akzeptiert werden. Sie sind für viele erfolgsorientierte Aufsteiger aus der dritten Enkelgeneration eine bare Selbstverständlichkeit in Deutschland, das immer ein Einwanderungsland war. Warum sollte es diesmal nicht klappen?

(Erschienen auf Wiwo.de)

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