Es gibt keine Steuererhöhung, dennoch steigen die Steuern – immer weiter. Die große Koalition zeigt ein bizarres Staatsverständnis.
Zwei Zahlen reichen aus, um den herrschenden Steuerwahn zu beschreiben: 2005 kassierten Bund, Länder und Gemeinden rund 450 Milliarden Euro Steuern. Im Jahr 2015 werden es 670 sein, also knapp 50 Prozent mehr. Zwischen den beiden Zahlen liegen eine Finanzkrise, eine Fast-Weltwirtschaftskrise, das Griechenland-Debakel und die Staatsschuldenkrise. Das war alles ganz fürchterlich – auf die Steuereinnahmen hat das aber kaum Auswirkungen gehabt. Stellt sich die Frage: Wo bleibt eigentlich das ganze Geld? Oder anders herum: Könnte man davon nicht etwas an die zurückgeben, die es erwirtschaften, die Steuerzahler nämlich?
An dieser Stelle lohnt der Blick ins Kleingedruckte, und das besagt: Es wird noch viel mehr abkassiert; die Rekordeinnahmen reichen immer noch nicht. Eigentlich sollten Beschäftigte und Betriebe seit Januar um 7,5 Milliarden Euro entlastet werden – durch die gesetzlich vorgesehene Senkung des Rentenversicherungsbeitrags. So ziemlich als erste Maßnahme hat die große Koalition dieses Geld aber einbehalten, um es für das Nahles-Rentenpaket wieder auszugeben. Ebenfalls zum Januar wurden, wie jedes Jahr, die Beitragsbemessungsgrenzen in der Sozialversicherung angehoben. Die Grünstrom-Umlage schießt um 18 Prozent nach oben. Nimmt man alle die weitverzweigten und versteckten Abgaben zusammen, dann zahlt ein Reicher heute gut 62 Prozent seines Einkommens – und reich ist schon, wer als Single rund 70.000 Euro zu versteuern hat.
Reicht eigentlich – oder?
Es könnte tatsächlich reichen. Aber mittlerweile haben die Politiker der großen Koalition eine Argumentation aufgebaut, nach der es nie reichen wird, und wenn es morgen Geld in 200-Euro-Scheinen auf Berlin regnet. „Ihr wollt funktionierende Straßen? Dann müsst ihr auch jenseits von Steuern bereit sein, etwas in einen Reparaturfonds zu geben – so lange, bis wir wieder heile Straßen haben“, sagte Torsten Albig, der SPD-Ministerpräsident in Kiel. Das ist klasse. Bisher galten Steuern als eine Art Flatrate – der Bürger zahlt ein Mal, und dafür erhält er Polizei, Verteidigung, Verwaltung, Infrastruktur. Neuerdings wird praktisch jede öffentliche Leistung wie Straßen oder Schule an eine neue Steuer geknüpft. Dahinter steht der Gedanke, dass, was immer kassiert wird, einer und nur einer Gruppe zur Verfügung steht: den Politikern. Jede staatliche Leistung, die eigentlich damit abgegolten sein sollte, wird ein zweites Mal in Rechnung gestellt.
Nun geht es in diesem Jahr um Peanuts. Das ist die kalte Progression, also die Steuern, die wir auf inflationär aufgeblähte Löhne zahlen, ohne dass unser kaufkräftiges Einkommen steigt. Vier Milliarden Euro pro Jahr würde den Staat eine Abschaffung kosten. Das wird verweigert: „Keinen Spielraum“ gäbe es dafür, lässt Angela Merkel erklären. Wie bitte? Die Rekordmehreinnahmen und keinen Spielraum? Aber wohin geht dann die Kohle?
Ähnlich hübsch ist die Verweigerungsargumentation der SPD-Rechten, die eine „solide Gegenfinanzierung“ einklagen. Die Steuerzahler sollen also eine Finanzierung erbringen für Steuern, die man ihnen ungerechtfertigterweise abgeknöpft hat – eine Beweislastumkehr. Das ist die verfeinerte Variante der Torsten-Albig-Rotzigkeit. Von da an ist es nicht weit zur SPD-Linken, die dem nur zustimmen will, wenn dafür Steuern für „Reiche“ erhöht werden. Reichen 62 Prozent Abgaben immer noch nicht?
Das Wortgeschwindel offenbart einen herrschaftlichen Gestus wie aus vordemokratischen Zeiten: Dem Staat gehört alles, dem Bürger nur noch das, was der Steuereintreiber ihm gnadenhalber zu überlassen geneigt ist. Bemerkenswert, dass neuerdings die Gewerkschaften dagegen aufmucken und sogar SPD-Chef Sigmar Gabriel zumindest teilüberzeugt haben. Schon an ihrer eigenen Gehaltsabrechnung wird den DGB-Bossen klar, dass sie Lohnforderungen nicht vor den Fabriktoren stellen sollten, sondern besser vor dem Finanzamt streiken. Denn dort wird mehr Brutto zu immer weniger Netto.
(Erschienen auf Wiwo.de am 03.05.2014)
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