Twitter ist ein Massenmedium - nicht trotz, sondern wegen seiner Kürze. Konsumenten lieben den Kurznachrichtendienst - Investoren hassen ihn.
Die Bundestagsabgeordnete Dagmar Wöhrl hat es versucht: Nicht mehr twittern, keine spitze Bemerkung mehr auf maximal 140 Anschlägen absondern. (Wenn Sie bis hierher gelesen haben: Das waren schon 143. Ohne „absondern“ paßt es. Twitter versaut die Grammatik). Wöhrl ist seit 2008 dabei, damit eine „Silver-Surverin“, denn Twitter gibt es heute seit genau 10 Jahren. Wöhrl wollte vor dem ständigen Dauershitgewitter fliehen. Immerhin von Ende Januar bis vergangenen Donnerstag hat sie es ausgehalten. Aber dann hat es sie doch wieder gepackt: „Digitalen Kaffee mit Menschen von Bayern bis Bremen und vom Saarland bis Sachsen trinken, Kontakt mit Menschen, die man sonst nie kennenlernen würde“.
Viele Politiker twittern mehr, als sie im Bundestag debattieren: Legendär die Kriege in 140 Anschlägen zwischen @Volker_Beck vs. @SteinbachErika und @alle gegen @SteinbachErika. @peteraltmaier schafft es, trotz Flüchtlingen immer noch regelmäßig zu Allem Stellung zu beziehen und @FraukePetry schießt (vorerst nur) digital zurück.
Längst beobachten Zeitungen und Fernsehsender das Gezwitscher aufmerksam; aus dem Gezirpe wird ein Mediensturm, wenn sie es übernehmen.
Barack Obama beispielsweise, er hat 71 Millionen Mitleser (Follower heißen die auf TwEnglisch) und rangiert damit hinter Katy Perry (84 Mio. Follower), Justin Bieber und Taylor Swift auf Platz 4 der Twitter-Rankings: Immerhin vor Rihanna und Lady Gaga.
In Deutschland haben die Stars nicht so viele Nullen. Und Twitter ein anders Profil: So sind unter den Top10 geführt von Mesut Özil (10 Mio. Follower) und Toni Kroos insgesamt 7 Fußballspieler und Bayern München. Nur Heidi Klum (3,5 Mio) auf Platz 3 und Zedd haben es zwischen das Runde geschafft.
Die Beckhams haben nach Seitensprung Wiedervereinigung auf Twitter gefeiert.
Twitter ist politisch: die arabische Revolution wäre ohne die schnellen Twitter-Kommentare nicht möglich gewesen. Das Netzwerk ersetzt, was Diktaturen verhindern wollen: Information, Austausch, Zusammenschluss.
Naturkatastrophen oder Terroranschläge, die quicken Tweets sind die Beats des Nachrichtengeschäfts.
Die Türkei sperrt Twitter nach den jüngsten Anschlägen.
320 Millionen Mitglieder gibt Twitter als Familie an; aktuell kommen in Deutschland monatlich mehr als zwölf Millionen Menschen zu Twitter. 500 Milliarden Tweets sollen insgesamt verschickt worden sein.
Aber nicht die schiere Menge zählt. Genau 9 Tweets in 9 Jahren verschickte „Justin!“.
Immerhin 3146 Follower hat er, die seinem lapidaren „Hey“ aus 2015 folgen.
Er ist der Anti-Twitter-Star, der große Schweiger im Dauerlärm des Twitter-Gewitters.
Kein Wunder, Geld hat Twitter noch nicht verdient, die Aktie ist nach einem legendären Hoch im Dauertief. Irgendwann sollte sich Kursphantasie in echte Zahlen umsetzen.
Die Fans lieben Twitter, die Geldgeber verzweifeln. Twitter verspricht viele neue Möglichkeiten, um attraktiv zu bleiben, hat sogar darüber nachgedacht, statt konzentrierten 140 Anschläge lange 10.000 zuzulassen. Aber die Fans protestieren, sie wollen es kurz & knackig statt lang & langweilig. Twitter soll so bleiben, wie es ist.
Käme Twitter nicht aus Kalifornien, sondern aus Deutschland, gäbe es vermutlich bald GEZ-Gebühren dafür.
alle Bilder: via Twitter. Zuerst kürzer erschienen in BildamSonntag
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