Die überforderte Nation

Wie gut, dass die Deutschen die Welt nicht erobern wollen! Aber warum verlangen alle, dass wir sie retten? Das geht auch nicht gut.

Es ist ein bizarres Bild: Einerseits schrumpft Deutschland – die Bevölkerung, weil wir lieber konsumieren statt Kinder aufzuziehen, und die Wirtschaft im Weltmaßstab, weil die aufstrebenden Länder Asiens und Südamerikas ungefähr zehn Mal so schnell wachsen wie wir mit unseren 0,9 Prozent Miniwachstum. Wir schrumpfen auch, weil wir uns selbst Fesseln anlegen und jedem, der was unternimmt und dabei Lärm macht, gerne ein Bein stellen – die dynamischen Unternehmerpersönlichkeiten der Welt haben heute indische, chinesische oder mexikanische Pässe. Aber je länger wir also unsere mörderischen Welteroberungsjahre hinter uns lassen, kommod verschweizern und Gipfel allenfalls mithilfe eines von der Krankenkasse finanzierten Treppenlifts erklimmen wollen – desto lauter fordern alle, dass wir die Welt retten. Allen voran US-Präsident Barack Obama, diese begeisternde Mischung aus Jugendlichkeit, Optimismus und Dynamik mit der begehrenswertesten First Lady seit Jacqueline Kennedy: Der jugendliche Held also bittet, drängt und fordert, dass Deutschland die Konjunkturlokomotive anheizt, dafür Schulden aufnimmt, die eine Schrumpfnation niemals wird bedienen können, um damit die lahmende US-Konjunktur rechtzeitig zum Termin seiner Wiederwahl aus dem Tal zu ziehen. Es fehlt auch nicht an Mahnungen aus den vorwärtspreschenden Schwellenländern, dass Deutschland endlich die Wachstumsblockaden lösen soll. Und von üppigen Wünschen unserer europäischen Nachbarländer ganz zu schweigen: Euro-Bonds, Bankenunion, Fiskalunion, Lohninflation – die Rezepte klingen immer fantasievoller und laufen doch immer nur auf das eine hinaus: her mit der Kohle, der deutschen, für mehr Wachstum. Obskure historische Analogien werden zurechtgedengelt: War es nicht Deutschland, das Anfang der Dreißigerjahre mit immer neuen Spar-Notverordnungen des Reichskanzlers Heinrich Brüning in eine Schuldenkrise stürzte, auf diese Weise Adolf Hitler möglich gemacht und den Weltbrand provoziert hat – Austerität nicht als ökonomische Tugend, sondern als Totalversagen? Die historische Realität und Komplexität legt anderes nahe: Die hohen Reparationsleistungen, die Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg aufgebürdet worden waren, ein durch Hyperinflation von 1923 verwüsteter Kapitalmarkt und das Plündern der Kassen für die ersten und erfolglosen Konjunkturprogramme brachten Deutschland an den Rand der Zahlungsunfähigkeit; die Notverordnungen, mit denen Brüning regierte, waren demnach blanke Not: Jeder Kredit war verspielt.

Die heutige Krise zugespitzt hat wie damals eine Politik des leichten Geldes in den USA, ein künstlich angefachter Börsenboom, der dann im Crash kulminierte und über die Finanzindustrie die gesamte Welt erschütterte. Wir verdanken Sebastian Haffner die Einsicht, dass Adolf Hitlers expansiver Keynesianismus die Konjunktur ankurbelte – aber neben Rassismus und Größenwahn war auch das Diktat der leeren Kassen mitverantwortlich dafür, dass Deutschland zu seinem Kriegszug durch Europa aufbrach, um zu rauben, was nicht mehr zu finanzieren war, wie der aktuelle Börne-Preisträger Götz Aly vorrechnet.

Geschichte wird zur Farce, wenn man sie wiederholt. Die hohe Verschuldung der westlichen Welt kann und muss abgebaut werden; der Versuch, beispielsweise eines François Hollande, einfach neue (deutsche) Quellen für absurde Sozialpolitik zu finden, verschafft bestenfalls Frankreich eine Atempause vor dann noch schwierigeren Notwendigkeiten, seine Wettbewerbsfähigkeit wieder herzustellen. Die Verantwortung dafür einseitig Deutschland zuzuschieben, ist falsch und geht nicht gut: Das Wirtschaftsbarometer deutet auch in Deutschland nach Süden. Ein wirtschaftlich starkes Deutschland ist besser für Europa als ein geschwächter Zahlmeister.

(Erschienen am 16.06.2012 auf Wiwo.de)

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