Wie der Kirchentag die Bibel für seine ideologischen Zwecke zurechtbiegt

Am letzten Sonntag ist der 38. Deutsche Evangelische Kirchentag in Nürnberg zu Ende gegangen. Im Nachgang möchte Achijah Zorn das Augenmerk auf eine kleine Nuance legen, die die tragischen Tücken einer politischen Theologie ans Tageslicht bringt.

IMAGO / epd

Eine politische Theologie verdirbt zum einen die Politik, indem sakralisierte Themen (Gender, Migration, Impfung) nicht mehr offen und frei kritisiert werden dürfen. Eine politische Theologie verdirbt zum anderen aber auch die Theologie selber. Diesen theologieverderbenden Aspekt möchte ich mit folgendem Beispiel verdeutlichen:

„Jetzt ist die Zeit“, so lautete der Slogan für den Kirchentag 2023. Als biblischen Beleg für diese Losung hat der Kirchentag Markus 1,15 angegeben. Wer diese Bibelstelle aufschlägt, muss aber feststellen, dass dort „jetzt ist die Zeit“ gar nicht steht:

Mk 1,15 – Lutherübersetzung 1984: „Die Zeit ist erfüllt.“
Mk 1,15 – Lutherübersetzung 2017: „Die Zeit ist erfüllt.“
Mk 1,15 – Zürcher Übersetzung: „Erfüllt ist die Zeit.“
Mk 1,15 – Elberferlder Übersetzung: „Die Zeit ist erfüllt.“
Mk 1,15 – Einheitsübersetzung 2016: „Die Zeit ist erfüllt.“
Mk 1,15 – Neue Genfer Übersetzung: „Die Zeit ist gekommen.“
Mk 1,15 – Basisbibel: „Die von Gott bestimmte Zeit ist da.“
Mk 1,15 – griechischer Urtext: peplärootai ho kairos

In Mk 1,15 wird am Anfang des Markusevangeliums auf die einzigartige Zeit hingewiesen, die mit Jesus Christus begonnen hat; mit Jesus Christus erfüllt sich die Zeit.

Der Kirchentag weiß, dass sein Slogan „Jetzt ist die Zeit“ in Mk 1,15 gar nicht vorkommt und spricht deshalb etwas entschuldigend von „Übersetzungsvariante“. Wenn er ehrlich gewesen wäre, hätte er allenfalls von „Interpretationsvariante“ sprechen können, denn das griechische Original von Mk 1,15 lässt sich nicht mit „jetzt ist die Zeit“ übersetzen.

Es gibt allerdings eine Bibelstelle, die mit „jetzt ist die Zeit“ übersetzt werden kann oder sogar so übersetzt werden muss: 2. Korinther 6,2. Dort heißt es:

2. Kor 6,2 – Lutherübersetzung 1984: „Jetzt ist die Zeit der Gnade“
2. Kor 6,2 – Lutherübersetzung 2017: „Jetzt ist die willkommene Zeit“
2. Kor 6,2 – Zürcher Übersetzung: „Jetzt ist sie da, die ersehnte Zeit“
2. Kor 6,2 – Elberferlder Übersetzung: „Jetzt ist die hochwillkommene Zeit“
2. Kor 6,2 – Einheitsübersetzung 2016: „Jetzt ist sie da, die Zeit der Gnade“
2. Kor 6,2 – Neue Genfer Übersetzung: „Jetzt ist die Zeit der Gnade“
2. Kor 6,2 – Basisbibel: „Jetzt ist die rechte Zeit.“
2. Kor 6,2 – griechischer Urtext: „nyn kairos“; kann fast schon ohne Griechischkenntnissse als „jetzt ist die Zeit“ erkannt werden: „nyn“ – nun/jetzt und „kairos“ – Zeit/günstige Zeit.

Damit stellt sich die entscheidende Frage, warum der Kirchentag als Beleg für seinen Slogan ausgerechnet eine Bibelstelle angibt, die gar nicht so recht zu seinem Slogan passt; und warum er nicht die Bibelstelle angibt, die viel besser zu seiner Losung passt.

Die Antwort gibt der Kirchentag selber. Bei der Vorstellung der Kirchentagslosung betont der Kirchentag, dass es ihm um ein „klares Aufbruchssignal zur Abkehr von zukunftsgefährdenden Lebensweisen und Verhaltensweisen“ geht.

Diese Intention des Kirchentags passt zur Politik von Zeitenwende, Energiewende, Heizungswende, Verteidigungswende, Ernährungswende, Wohlstandswende.

Zu dieser Intention passt allerdings 2. Korinther 6,2 gar nicht, denn dieser Bibelvers betont die Gegenwart als Gnadezeit: „Siehe, jetzt ist die Zeit der Gnade. Siehe, heute ist die Stunde des Heils.“ Die biblisch eigentlich viel besser zum Kirchentags-Slogan passende Bibelstelle widerspricht der gegenwärtigen politisch korrekten Meinung, nach der die Gegenwart eine Klima-Katastrophenzeit ist, die die Zukunft gefährdet.

So erkläre ich mir, warum der Kirchentag auf Markus 1,15 ausgewichen ist und warum er versucht, diese Bibelstelle mit einigen angestrengten Klimmzügen auf seinen Slogan hin umzubiegen. Der Zweck heiligt die Mittel. Der Zweck der politischen Korrektheit heiligt das Mittel der Bibelzurechtbiegung.

Aus dem evangelischen „allein die Schrift“ („sola scriptura“) ist „allein die Ideologie“ geworden. Der politischen Ideologie hat sich die Heilige Schrift unterzuordnen.

Im Slogan des Kirchentags mit seiner fragwürdigen biblischen Unterlegung spiegelt sich die theologische Krise eines ideologisch-politisierten Protestantismus wie in einer kleinen Nußschale. Politische Theologie verdirbt nicht nur die Politik, sondern ebenso die Theologie.

PS. Ich danke herzlich den TichysEinblick-Lesern „Radler“, „Pseudolisa“ und „Susa“, die so hartnäckig dieses Thema eingefordert haben.

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Kommentare ( 64 )

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Sidon
1 Jahr her

Oh doch. In der Bibel steht genau die Einsetzung der Kirche durch Jesus. Und seist gut, daß wir Katholiken den Papst haben, der die Aufgabe hat dem Diabolos (Durcheinanderwerfer) Widerstand zu leisten und den Gläubigen den rechten Weg weist
Matth 18: „Ich aber sage dir: Du bist Petrus und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen und die Pforten der Unterwelt werden sie nicht überwältigen.[1] 19 Ich werde dir die Schlüssel des Himmelreichs geben; was du auf Erden binden wirst, das wird im Himmel gebunden sein, und was du auf Erden lösen wirst, das wird im Himmel gelöst sein“.

jensberndt
1 Jahr her

Prediger 12, Vers 1: „Dies sind die Tage, von denen wir sagen, sie gefallen uns nicht!“ Sinngemäß…

Monostatos
1 Jahr her

Ich habe den Kirchenaustritt schon vor Jahre vollzogen. Wem der Glauben und Jesus etwas bedeuten, der sollte in diesem Sinne spätestens jetzt sagen: „ Jetzt ist die Zeit…“. Nebenbei: bei der katholischen Kirche sieht es kein bisschen besser aus.

Rene Meyer
1 Jahr her

Danke für diese Verdeutlichung. Mir ist es inzwischen ein Graus, wie Bibelstellen wild herausgepickt, aus dem Zusammenhang gerissen und zum Teil willkürlich, sinnentstellend wiedergegeben werden, um eine Art Marketing für die verfolgte Ideologie zu betreiben und den eigenen Opportunismus zu rechtfertigen. Letztendlich werden die Menschen in und von den Kirchen, wie andernorts auch, vera…scht.

alter weisser Mann
1 Jahr her

Die Schwachen im Geiste müssen eben selbst hinter ihr gewillkürtes Motto eine Pseudobibelstelle angeben, statt ihre Aussage selbst zu treffen.

Andreas Meier
1 Jahr her

Es ist interessant, wie sich die Theologen über Neben-Probleme streiten können. „JETZT ist die Zeit“ wurde vor knapp 2000 Jahren ausgesprochen. Das hat nun den Neuerungswert des last call mit meiner Flugnummer: Wenn ich nicht sofort mit Ticket und Visum zum Gate gehe, dann bleibt mein Sitzplatz auf der Reise in die Neue Welt leer. Der Herr selbst hat das Ticket bezahlt. Es ist mir selbst überlassen, ob ich zum last call in eine andere Richtung gehe. Ein weiterer Kernsatz ist das „Gott sprach: es war sehr gut“ aus 1Mo1,27+31. Unterschlagen war das vorherige „ER schuf sie als Mann und… Mehr

derostenistrot
1 Jahr her

Wäre interessant zu erfahren, wie sich das wirre Reden dieses „Gottesmanns“ auf die Besucher seines Gottesdienstes auswirkt. Er hat sicherlich den gleichen Effekt auf die Kirchenaustritte wie Bedford-Strohm seinerzeit.

Dr.Remberg
1 Jahr her

Wir wissen doch alle, dass Bibelsprüche IMMER irgendwie passend gemacht werden, damit sie zum Anlass passen, sei es in Predigten, bei einer Trauerrede usw. Von dieser freien und für meine Begriffe oftmals willkürlichen Interpretation leben doch alle Pfaffen. Insofern stört mich das Motto des Kirchentages überhaupt nicht. Viel bedeutender ist die Tatsache, die Josef Kraus richtig beschreibt, dass ein ev. Kirchentag heute 1:1 auch ein Grünen-Parteitag sein könnte. Schlimm nur, dass sich die Kirche nicht nur die Bibelsprüche immer schon zurechtlegt wie sie will, sondern dem Zeitgeist entsprechend ihren Allerhöchsten heutzutage auch noch ungestraft als „queer“ bezeichnen darf. Wer dann… Mehr

Evero
1 Jahr her

Es scheint, dass unter den Pastoren viele politische Geister sind. Sie verkünden eben nicht mehr das Wort der Bibel, sondern biegen sich den Glauben zurecht, sodass er zu ihrer politischen Einstellung passt. Die haben im Studium wohl nicht Theologie gehört, sondern Volksdemagogie und sie sind eine glatte Fehlbesetzung im Amt. Besser passten sie in die Redaktionsstuben der zeitgeistigen MSM-Haltungsmedien.
Es verhält sich vermutlich so wie bei den Journalisten der MSM, dass ca. 80% Grüne unter ihnen sind.
Soll nicht der Priester das Wort Gottes aus der Bibel verkünden und Hirte seiner Herde sein?

h.milde
1 Jahr her

Während der „queer“theologische Aktivist Quinton Caesar mit seiner „Predigt“ Deutschland als sicheren Hafen bejubelt und bewirbt und noch mehr Schiffe schicken will, „we leave no one to die“, ist tragischerweise wieder ein schrottreifer 30 Meter-Kutter mit wohl mehreren hundert Menschen (-> Bilder u Bericht vom Kutter: WOnline ua) auf dem Weg vom sicheren(!) Ägypten, bzw. Lybien nach Italien gekentert und gesunken. Vorher mehrfach angebotene Hilfe von Küstenwache und anderen Schiffen sei von den Passagieren und Besatzung abgelehnt worden. Bisher konnten nur 104(?), meist junge Männer, gerettet werden. Der „Fahrpreis“ auf solch einem iwSdW. Seeenverkäufer allein, soll nach Auskunft eines Geretteten(?)… Mehr

h.milde
1 Jahr her
Antworten an  h.milde

P.S. unter den Geretteten waren „wundersamerweise“ auch die Besatzung und „Käptn“. Prima, die können ja, da ihr Kahn abgesoffen ist, auf N/GOs-Kirchen-Kähnen anheuern, Fachwissen und Können haben sie ja.