Hände weg vom Wahlergebnis

Der Entwurf für ein erneuertes Wahlrecht liegt auf dem Tisch. Das Ziel der Ampel ist, CDU und CSU einen Teil ihrer rechtmäßig erworbenen Direktmandate abzujagen.

IMAGO / photothek

Die Union wird bei der nächsten Wahl ein blaues Wunder erleben. Der Entwurf für ein erneuertes Wahlrecht liegt auf dem Tisch. Um den beiden Schwesterparteien CDU und CSU einen Teil ihrer wohlerworbenen Direktmandate abzujagen, ist den Ampelmännern und -frauen im Bundestag jedes Mittel recht. Wenn es nach ihnen gegangen wäre, hätte die bayerische CSU schon bei der letzten Bundestagswahl 11 Direktmandate verloren, die CDU in Baden-Württemberg 10. Die CSU hat bei der Bundestagswahl 2021 in 45 der insgesamt 46 bayerischen Wahlkreise den Sieg errungen. – Da kommt natürlich Neid auf.

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Es sind aber 11 vermeintliche „Überhänge“ entstanden, weil die CSU mit den bayerischen Zweitstimmen nur 34 Listenplätze erzielen konnte. Wenn man jetzt 11 von den 45 CSU-Wahlkreis-Siegern das Direktmandat abspricht und die entsprechenden Wählerstimmen für ungültig erklärt, wären die Überhänge verschwunden, doch hätte die CSU ein Viertel der gewählten Mitglieder ihrer Landesgruppe in Berlin verloren. Bei der CDU in Baden-Württemberg ist es nicht besser. – Das wäre für die CDU und für die CSU ein GAU!

Aber so einfach kann man der „Ampel“ diesen heuchlerischen Taschenspielertrick nicht durchgehen lassen. Wenn man nach wie vor schon mit zwei Stimmen wählen soll, kann man nicht nach der Wahl einen Teil der Erst- oder Wahlkreis-Stimmen für ungültig erklären und die entsprechenden Direktmandate wieder einkassieren, ohne den Willen der Wähler zu vergewaltigen. Denn gewählt ist gewählt. Und zwei unterschiedliche Stimmen sind zwei unterschiedliche Wahlen, die man nicht zu einem Eintopf vermengen und vermischen darf. Das liegt auf der Hand.

Es gibt seit 2002 insgesamt 598 Mitglieder des Bundestages, aber nicht 598, sondern nur 299 Wahlkreise. Wenn die Zahl der Direktmandate und die Zahl der Listenplätze auf Bundes-, auf Landes-, und vor allem auf Parteienebene übereinstimmen soll, dann muss es in der Summe auch 598 Wahlkreise geben, in denen die Listen- oder Parteienwahl durch die Direkt- oder Personenwahl personifiziert wird. Die Zahl der Wahlkreise blieb schon immer hinter der Zahl der Mitglieder des Bundestages zurück. Es gab also schon immer nicht zu viel, sondern viel zu wenig Wahlkreise, um überhaupt von einer „mit der Personenwahl verbundenen Verhältniswahl“ reden zu können, die auch als „personalisierte“ Verhältniswahl bezeichnet wird.

Erschwerend kommt hinzu, dass aus den 299 Wahlkreisen nicht mehr als 299 Direktmandate entstehen können. Deshalb gibt es für fälschlich sogenannte „Überhangmandate“ im Sinne von überzähligen Direktmandaten jenseits der 299 Wahlkreise gar keinen Raum. Die Stimmen in den 299 Wahlkreisen werden ausgezählt. Wer die meisten Stimmen erzielt hat, ist von allen der Beste und zieht zurecht als Wahlkreis-Sieger in den Bundestag ein. Jenseits der 299 Wahlkreise kann es weder zulässige noch unzulässige Direktmandate geben, die man als „Überhang“ etikettieren und auf das ausgezählte Wahlergebnis oben draufsatteln darf.

Parallele Partei-Interessen
Die Ampel-Wahlrechtsreform ähnelt einem AfD-Gesetzentwurf
Es führt also kein Weg daran vorbei: Das amtliche Wahlergebnis, das die Wahlleiter in den letzten drei Wahlen verkündet haben, kann wegen dieser groben Zählfehler keinen Bestand haben. Die Wahlleiter müssen sich vorhalten lassen, dass sie zu den 299 Wahlkreis-Siegern regelmäßig weitere „Überhangmandate“ aus der Luft gegriffen und zum Wahlergebnis hin­zugezählt haben, obwohl es für „Überhangmandate“ gar keine Wahlkreise und folgerichtig auch keine Erst- oder Wahlkreis-Stimmen gibt. Zu den 299 Wahlkreis-Siegern wurden 2013 vier, 2017 sechsundvierzig und 2021 vierunddreißig „Überhänge“ hinzugemogelt, für die es keine Wahlkreise und daher auch keine Wahlkreisstimmen gibt. – Und es wird Zeit, dass dieser Spuk ein Ende findet.

„Die Bundesrepublik Deutschland ist ein (…) Bundesstaat.“ So steht es im Grundgesetz. Zu einem föderativen Bundesstaat gehört vor allem ein föderatives Wahlrecht. Gewählt wird mit Landeslisten. Die mögliche Zusammenfassung zu Bundeslisten wurde abgeschafft. Sie gehören endgültig der Vergangenheit an. Gemessen an den Bevölkerungsanteilen stehen den einzelnen Bundesländern sehr unterschiedliche Landessitzkontingente zu. Das Saarland darf zum Beispiel 7, der Stadtstaat Hamburg 12 Plätze im Bundestag besetzen, usw. Unter den großen Flächenstaaten darf der Freistaat 93 Bayern und NRW 127 Nord-Rheinländer und Westfalen in den Bundestag schicken.

Das Gewicht der einzelnen Länder im Bundestag hängt von ihren Bevölkerungsanteilen und den sich daraus ergebenden Landessitzkontingenten ab. Die Wahlergebnisse sind deshalb länderweise auszuzählen. Dabei sind zuerst die Landessieger in den Wahlkreisen der Bundesländer zu ermitteln. Hinzu kommen die Listenplätze der Landesparteien, die verblei­ben, um das verbindliche Landessitzkontingent voll auszuschöpfen, das anhand der erreichten Zweitstimmenanteile schließlich auf die Landesparteien aufgeteilt wird.

Strapaze für die Logik
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Wenn die vorgegebenen Landessitzkontingente nicht überschritten werden, kann es keine Überhangmandate geben. Leider ist das nicht der Fall. Der Länderproporz wird von den Wahlleitern über den Haufen geworfen. Statt 7 gibt es 9 Saarländer und statt 13 sitzen 16 Hamburger im Bundestag, usw. Statt 93 stammen 116 Abgeordnete aus Bayern und statt 127 gibt es 142 Nord-Rheinländer und Westfalen im Berliner Parlament. Schwer zu glauben, doch das alles geschieht unter der Verantwortung der Wahlleiter, hochrangiger Experten, die es besser wissen sollten, sich aber über den verbindlichen Länderproporz überhaupt keine Gedanken machen.

Als das Grundgesetz 1949 beschlossen wurde, wollte aus gutem Grunde niemand zu den Weimarer Verhältnissen zurückkehren. Anders als in Art. 22 der Weimarer Reichsverfassung ist die sogenannte Verhältniswahl nicht in das Grundgesetz übernommen worden. Sie hat also keinen Verfassungsrang. Im Gegenteil sagt das Bundesverfassungsgericht sogar: „Eine bloße Parteienwahl schließt die Verfassung aus“ (BVerfG v. 26.2.1999; BVerfGE 97, 313 (323)). Der Grundsatz der unmittelbaren Wahl verlangt, dass die Wähler auf den Stimmzetteln eine natürliche Person kennzeichnen, die das Wahlvolk in der laufenden Wahlperiode vertreten soll. Die Personenwahl ist also ein Verfassungsgebot. Natürlich kann man alle Abgeordneten zweimal wählen, aber einmal ist genug.

Und das darf man der SPD schon ins Stammbuch schreiben. Herbert Wehner hat gegenüber Günter Gaus (Gespräche mit Herbert Wehner, Hamburg 1966, Seite 105) gesagt: „Ich bin für ein unmanipuliertes Mehrheitswahlrecht, also für das englische System.“ – Wehner wusste warum. Rolf Mützenich und Olaf Scholz wissen das nicht und haben die SPD vollkommen heruntergewirtschaftet.


Der Autor hat im Netz unter www.manfredhettlage.de insgesamt 224 Artikel zum Wahlrecht veröffentlicht. Von ihm ist 2018 im wissenschaftlichen Verlag Berlin in zweiter Auflage das Taschenbuch „BWahlG Gegenkommentar“ (ISBN 978-3-96138-053-1) erschienen.

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Kommentare ( 24 )

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Joe X
1 Jahr her

Herr Hettlage übersieht die folgenden Punkte: Auch bisher wurde schon ein großer Teil der Erststimmen für „ungültig“ erklärt (wie er das nennt), nämlich diejenigen, die nicht den Wahlkreissieger gewählt haben. Die Direktmandate, die nach dem vorliegenden Entwurf wegfallen würden, wären erfahrungsgemäß diejenigen, die in ihrem Wahlkreis nur um die 30 % der Stimmen bekommen haben, die also keineswegs die Mehrheit der Wähler in ihrem Wahlkreis vertreten. Die Ampelparteien blicken nicht mit „Neid“ auf die Überhangmandate der Union, sondern bei einer Verkleinerung des Bundestages würden alle Fraktionen anteilmäßig gleich viele Mandate verlieren. Die von ihm anscheinend favorisierte Lösung mit ausgleichslosen Überhangmandaten… Mehr

ktgund
1 Jahr her

Das Problem ist, dass das englische System nur funktioniert hätte, wenn es gleich 1949 eingeführt worden wäre. Heute ist klar, dass vom englischen System nur die CDU profitiert. Die faktische Abschaffung des Direktmandats, was den Grünen vorschwebt, ist dagegen eine faktische Abschaffung der Demokratie, was wir ohnehin längst haben.
Es ist egal, was man wählt, die Parteien kungeln unter sich aus, welche Mehrheiten herauskommen und welches Personal genehm ist.

Marco Mahlmann
1 Jahr her

Herr Hettlage kommt dauernd mit demselben Sermon; diesmal zeigt er, daß er nicht begriffen hat, was Überhangmandate sind. Überhangmandate sind nicht hinzugemogelt, sie sind auch nicht zusätzlich in anderer Form. Es gibt genau 299 Direktmandate. Es kann nicht mehr und nicht weniger geben. Der Begriff „Überhangmandat“ beschreibt den Umstand, daß eine Partei mehr Direktmandate erworben hat, als ihr prozentualer Anteil an den Zweitstimmen vorgibt. Was es zusätzlich gibt, sind die Ausgleichsmandate, die allerdings nicht, wie Herr Hettlage behauptet, der Wahlleiter aus dem Hut zaubert, sondern die das BVerfG eingefordert hat, das nämlich die Zusammensetzung des Bundestages am Zweitstimmenergebnis orientiert sehen… Mehr

Querdenker73
1 Jahr her

Wie wäre es, wenn nur parteilose Personen mit nachweislich abgeschlossener und nicht zu Unrecht erworbener höherer Ausbildung und einer gewissen persönlichen Reife in den Bundestag kämen? Die persönliche Reife ist im Wahlkampf in freier Rede im semantisch guten Stil in mindestens 15 Minuten zu einem aktuellen politischen Thema vor einem neutralen Gremium -öffentlich zugänglich- zu leisten. Das Thema wird 1 Stunde vorher bekanntgegeben. Damit wäre die jetzige grün/rote Truppe weitestgehend außen vor (Frau Baerbock z.B. hätte beide Voraussetzungen nicht überstanden). Damit sind auch die Probleme der sogenannten Überhang- und/oder Ausgleichsmandate hinfällig. Deutschland gewinnt seinen Ruf im In- und Ausland allmählich… Mehr

Wolfbert
1 Jahr her

Im Prinzip eine gute Idee, die Zahl der Abgeordneten zu beschränken. Aber es sollten nur so viele (und ausschließlich!) Direktmandate vergeben werden, wie es Wahlkreise gibt. Ohne den ganzen Schmu mit ausgekungelten Landeslisten, Überhang-, Ausgleichsmandaten und dem ganzen überflüssigen Kram.
Vielleicht kommen wir damit auch wieder zu einem Abstimmungsverhalten, das nicht der Generalsekretär der jeweiligen Partei vorgibt. Raus mit diesem Parteienfilz aus der Politik, raus mit den ganzen parasitären Berufspolitikern aus den Parlamenten!
Und dann noch eine Beamtenquote im Parlament: maximal zehn Prozent. Damit wäre schon viel gewonnen.

Rob Roy
1 Jahr her
Antworten an  Wolfbert

Bitte auch die Mitglieder des Bundesrates direkt vom Bürger wählen lassen, zudem den Bundespräsidenten.

nachgefragt
1 Jahr her

Um die Absurdität eines Wahlgesetzes exemplarisch zu zeigen, kann man auch einfach nur die Extrembeispiele heranziehen. Dass das absolut berechtigt ist, zeigt der Gegenbeweis für das andere Extrem, das absolut realistisch ist. Angenommen 1) in einem Bundesland sind alle Direktmandat-Gewinner von einer bestimmten Partei (oder für diesen Zweck parteilos), 2) aber 95-100 Porzent der Zweitstimmen für andere Partei(en) bundesweit, die 3) selbst keine Direktmandate erreicht hat/haben, würden alle Direktmandate bundesweit gestrichen werden. Klingt extrem als Beispiel, ist es aber nur bedingt. Tatsache ist, dass Grüne, FDP, Linke und AfD Prozentual rund 1 Prozent aller Direktmandate im Bundestag haben. Es gibt… Mehr

DiasporaDeutscher
1 Jahr her

Völlig Wurscht, wie die Parteivertreter gewählt werden. Ihre Loyalität gilt einzig und allein der Partei, die sie als Direkt- oder Listenkandidaten nominiert hat. Niemand kennt die austauschbaren Typen vom Wahlplakate-Wald. Jeder weiß, wofür sie stehen: Fraktionszwang, Masseneinwanderung, Energiewende… und ein saftiges Tagesgeld ?

RMPetersen
1 Jahr her

ich bin für Direktmandate, ausschliesslich.
299 Direktmandate in denn 299 Wahrlkreisen – und weg mit den Landeslisten und den „Überhandmandaten“ und ähnlichem Unsinn.
Dann wäre der Einfluß der Parteien und deren Filz gedämpft, die Persönlichkeit der Kandidaten und deren Leistung in den Wahlkreisen messbar. Dass wir heute eine Inflation an Abgeordneten haben, die sich aus den parteiinternen Beziehungen in Landeslisten hochgemogelt haben, wäre vorbei.
Die Grünen, Roten und Gelben müssen dann auch entweder Direktmandate erringen oder untergehen. Ohnehin sind ja Grüne und Rote Positionen in den beiden Großparteien dominant.
Statt über 736 nur 299 – welch ein Segen.

Nibelung
1 Jahr her

Das macht doch nichts, die verzichten doch gerne für die gute Sache und geben damit auch freiwillig Stimmen ab, denn wer fremdbestimmt ist muß doch nicht selbst Regierungspolitik betreiben, da reicht etwas Opposition der Form halber und wenn man brav ist, dann darf man auch mal im Kanzleramt vorsprechen und wer sich in so eine Position begibt, den kann man doch nicht für voll nehmen, wenn man in die Vergangenheit vor Merkel zurück blickt. Normal wäre es die Roten und Grünen zu vertreiben, aber mit denen koalieren sie ja schon in den Ländern und müssen still sein, sonst haben sie… Mehr

Tesla
1 Jahr her

Im Gesetzentwurf fehlt noch die Umbenennung des „Bundestags“ in „Volkskammer“. Aber ganz ehrlich: Was soll der ganze Quatsch mit den Ausgleichsmandaten? Wenn gemäß GG 50% des Bundestags durch Direktwahl und die anderen 50% durch Parteilisten über Verhältniswahl bestimmt werden, dann sollte man dieses Hybridsystem auch so akzeptieren, wie es ist – und es nicht durch Aufblähung mit Listenkandidaten, für die es in der Verhältniswahl nicht gereicht hat, und die demnach auch nicht gewählt wurden, in eine 100%-ige Verhältniswahl zu verwursteln, und sie dem Fußvolk vorzugaukeln. Und wenn die Parteischranzen das Hybridsystem nicht zu akzeptieren bereit sind, dann bin ich als… Mehr