Natürlich ist der Keim zu Gewalt, Krieg, Hass und Zerstörung in jedem Individuum angelegt. Dürfen wir daraus die Forderung ableiten, dass Menschen oder Gesellschaften ihre Identität vorrangig aus der Erinnerung an das Böse ableiten sollten? Das erscheint Gero Jenner als unheilvolle Verirrung.
Geht man in der Generationenfolge jedes beliebigen Erdenbürgers nur weit genug in die Vergangenheit zurück, so ist eines absolut sicher: Irgendwo im eigenen Stammbaum begegnet man zwangsläufig einem Schwerverbrecher. Diese aus logischen Gründen unbestreitbare Tatsache scheint dennoch nirgendwo auf der Welt Menschen zu motivieren, sich ein Bild gerade dieser Person in den Empfangsraum zu hängen oder sie auch nur in Erinnerung zu behalten – vielmehr ist das Gegenteil zu beobachten: Die Verbrecher werden geflissentlich aus der Erinnerung, oft überhaupt aus der Geschichte getilgt, niemand ist darauf erpicht, die eigene Identität gerade durch sie zu definieren. Ganz anders verhält es sich dagegen mit jenen Ahnen, auf die man mit Stolz zurückblicken kann. Auch der kleinste Hinweis auf eine Tugend oder gar eine hervorstechende positive Eigenschaft pflegt in diesem Fall sorgfältig konserviert und an die Nachkommen als wertvolle Erinnerung weitergegeben zu werden.
Das unbesonnene Diktum eines deutschen Außenministers
Joschka Fischer bekannte sich zu einer anderen Meinung. Er sprach nicht von jenem Teil deutscher Geschichte, mit dem sich seine Landsleute gern identifizieren, sondern meinte, dass ihr schrecklichster und schamvollster Teil, der Holocaust, für alle Zeiten der wesentliche Bestimmungsgrund deutscher Identität bleiben müsse.
Wie ist das zu verstehen? Wenn Fischer seine Aussage in dem Sinne aufgefasst wissen wollte, dass die Antriebe zum Bösen jedem Menschen bewusst bleiben sollten, weil sie latent immer vorhanden sind, dann sprach er eine Wahrheit von universaler Geltung aus. Auch Menschen, die im eigenen Stammbaum grundsätzlich nie nach Verbrechen oder Verbrechern, sondern ausschließlich nach dem Guten suchen, können sich zu dieser Wahrheit bekennen, weil das Gute eben nie ein fester Besitz ist, so wenig wie die Demokratie, der Rechtsstaat oder ganz allgemein menschliche Anständigkeit.
Aber ist Joschka Fischer auch dann noch beizupflichten, wenn er seine Äußerung in einem ganz anderen Sinne verstand, nämlich so, als gehörte es seit dem Holocaust zur Pflicht eines Deutschen, sich vorrangig mit den Verbrechen ihrer Väter und Großväter zu befassen, weil das der wesentliche Bestimmungsgrund ihrer nationalen Selbstdefinition, eben ihrer Identität, sein müsse? Soll es ihnen – wie man weiter folgern müsste – geradezu als unanständig verboten sein, das zu tun, was anderen Menschen und Völkern als völlig natürlich und selbstverständlich erscheint, nämlich in erster Linie nach dem Gelungenen, dem Richtungsweisenden, dem Vorbildlichen in der eigenen Geschichte zu suchen und dieses an künftige Generationen weiterzugeben?
Die Zerstörung der eigenen Geschichte – eine unheilvolle Verirrung
Ich glaube, dass ein solches Verständnis von Identität ein schwerwiegender Irrtum wäre, weil es die eigene Vergangenheit zerstört, die in jedem Menschen und in jeder Gesellschaft komplex ist, nämlich aus Tatsachen und Bestrebungen zusammengesetzt, die für ein friedliches Zusammenleben ebenso die besten wie die schlechtesten Antriebe enthält. Natürlich entfaltet sich das Böse im einzelnen Menschen selten zu so apokalyptischen Proportionen wie es die große Politik zu inszenieren vermag, aber der Keim zu Gewalt, Krieg, Hass und Zerstörung ist in jedem Individuum angelegt. Dürfen wir daraus die Forderung ableiten, dass Menschen oder Gesellschaften ihre Identität vorrangig aus der Erinnerung an das Böse ableiten sollten? Das erscheint mir als unheilvolle Verirrung.
Richard Wagner – ein bösartiges Genie
Denken wir zum Beispiel an einen so großen und zugleich so furchtbar kleinen Deutschen wie Richard Wagner, weil die Gleichzeitigkeit von schriller Bösartigkeit und eklatantem Genie bei wenigen anderen Menschen so sichtbar in die Augen springt. Die vielen Menschen, die sich weltweit von seiner Musik begeistern lassen, wissen entweder nichts von der teuflischen Seite dieses Mannes oder haben sie bewusst verdrängt (weil man eben nur die schönsten Porträts verehrter Menschen in den Empfangsraum hängt). In seiner 1850 – wohlweislich unter einem Pseudonym veröffentlichten – Schrift „Das Judenthum in der Musik“ hatte der überaus intelligente, aber ungemein feinnervige und leicht zu kränkende Mann nicht weniger hinterhältig, raffiniert-bösartig über die jüdischen Mitbürger gesprochen als es die Nazis ein dreiviertel Jahrhundert später tun sollten. Diese konnten sich auf Richard Wagner berufen und haben es bekanntlich auch gerne getan.
Der Ausbruch von Hass war alles andere als eine einmalige Entgleisung. Als Wagner ein viertel Jahrhundert später, im Jahr 1876, das Buch des französischen Erzrassisten Arthur de Gobineau „Über die Ungleichheit der menschlichen Rassen“ in Händen hielt, war er augenblicklich hingerissen, eine Neigung, die sich dann zusätzlich darin bekundete, dass er dem zweiten einflussreichen Rassisten der damaligen Zeit, dem Engländer Stewart Chamberlain, die Hand seiner Tochter Eva gab. Richard Wagner, ursprünglich ein linker Revolutionär, der am vierten Mai 1849 an dem blutig niedergeschlagenen Aufstand gegen die sächsische Regierung in Dresden beteiligt war, verurteilte zwar mit Proudhon die Ungleichheit der Eigentumsverteilung als Verbrechen, hielt die Ungleichheit der Menschen, vor allem die Minderwertigkeit der „Jüdischen Rasse“, dagegen für zweifelsfrei erwiesen.
Wie sollen wir Wagners Identität definieren?
Was würde ein Joschka Fischer sagen, wenn er die Identität Wagners zu würdigen hätte? Wird sie durch seine Musik bestimmt, die viele begeistert und weiter begeistern wird, oder durch seine gehässigen Ressentiments gegen die Juden? Zum Beispiel sein Hass auf Mendelssohn-Bartholdy, der von Jugend an als Wunderkind galt, gelehrter als manche Gelehrten, und dem noch dazu alles scheinbar mühelos in den Schoss fiel, wohingegen Wagner jahrzehntelang zu einem entsagungsvollen, manchmal peinlich armen Leben verurteilt war.
Oder müssen wir die Identität Wagners durch seine verachtungsvollen Bemerkungen über den jüdischen Opernkomponisten Meyerbeer definieren, den Wagner wohl gerade deswegen so verhöhnte, weil dieser in Paris überaus erfolgreiche Musiker sich geweigert hatte, ihm einen größeren Betrag zu leihen, was Wagner als umso schmerzhafter empfand, als er um des bloßen Überlebens willen wohlhabende Mitbürger ständig um Geld angehen musste – Thomas Mann nannte ihn deshalb ein „Pumpgenie“.
Wie sollen wir, bei nüchterner Betrachtung, die Identität dieses komplexen Menschen beschreiben? Hat in erster Linie die raffiniert-zugespitzte Gehässigkeit und Hetzerei zu gelten, die Wagner aus tödlich gekränkter Eitelkeit und vermutlich einer guten Portion von Neid gegen Konkurrenten empfand, die zu seiner Zeit so viel erfolgreicher waren als er? Wäre es gerecht, in ihm nur den Rassisten zu sehen, der den Nazis in geistiger Hinsicht den Boden bereitet hat; oder ist es umgekehrt legitim, in Wagner nur den Meister einer in ihrer Art unübertroffenen Musik zu erblicken?
Die gespaltene Identität
Ich glaube, die Antwort lässt keinen Zweifel zu. Der Mensch Wagner ist beides zugleich: ein bewundernswertes Genie und ein bösartiger Hasser. Auf der einen Seite ist er Vorbild, auf der anderen abschreckendes Beispiel für menschliches Versagen. Richard Wagner besitzt eine gespaltene Identität. Es wäre ebenso aberwitzig, ihn nur mit seinem Versagen zu identifizieren, wie ihn auf den Podest des großes Mannes zu heben und seine gefährlichen Schwächen dabei aus den Augen zu verlieren.
In diesem Sinne, meine ich, ist auch die deutsche Identität eine gespaltene. Es gibt den Holocaust in ihr, ein Grund für andauernde Scham auch bei jenen, die dafür keine Verantwortung tragen. Und es gibt eine andere Vergangenheit, die sich mit dem Erbe anderer Völker selbstbewusst messen kann. Beides gehört gleichermaßen zur Definition deutscher Identität. Einer unverzeihlichen Einseitigkeit macht sich jeder schuldig, der, wie es Joschka Fischer zu suggerieren schien und manche in der Nachkriegszeit taten und weiterhin tun, in der eigenen Vergangenheit nur nach den Keimen zum Bösen sucht. „Nichts zu vergessen“, das kann nur heißen, beiden Erbschaften in gleichem Maße gerecht zu werden.
Der Abschied von Vorurteilen
Dazu gehört auch eine Abwendung von gängigen Vorurteilen. Deutschland war nicht aggressiver als seine europäischen Nachbarn. „Zwischen 1815 und 1935 hatten Preußen und Deutschland an sechs entscheidenden (in zwei Fällen kleineren) Kriegen teilgenommen, wohingegen Frankreich in dieser Zeit zehn entscheidende Kriege führte (sechs in Europa, vier in Übersee), Russland dreizehn (zehn davon in Europa), Großbritannien siebzehn (drei in Europa, vier in Afrika, zehn in Asien), und die Vereinigten Staaten sieben… Es lassen sich also keine Nachweise dafür finden, dass Preußen respektive Deutsche in irgendeinem genetischen oder historischen Sinn besonders militaristisch waren“ (Militärhistoriker Trevor Dupuy 1977: 9).
Auch der Antisemitismus war vor dem Ersten Weltkrieg keineswegs vorrangig eine Sache der Deutschen, sondern vor allem religiöser Natur. „Die katholische Kirche insbesondere bekämpfte ja bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil offen die Juden und Andersgläubigen. Das Ziel … war ihre Bekehrung“ (Haffner 2003: 107). Im Vergleich mit Frankreich und Russland war der Antisemitismus in Deutschland weniger ausgeprägt: „Die Dreifuß-Affäre hatte in über dreißig französischen Städten zu antisemitischen Krawallen geführt, und in Russland war es zu sechshundertneunzig dokumentierten Pogromen gekommen, bei denen mehr als dreitausend Juden ermordet und Hunderttausende obdachlos gemacht wurden” (Peter Watson 2014: 36).
Preußen hatte die Emanzipation der Juden sogar früher ermöglicht und gefördert als andere Staaten. In seinem Buch “Der Traum vom Frieden und die Versuchung der Macht“ (1988) schrieb Fritz Stern, dass der Aufstieg des deutschen Judentums im 19. Jahrhundert einer der spektakulärsten gesellschaftlichen Sprünge in der europäischen Geschichte gewesen sei.
Denn nach dem Preußischen Judenedikt vom März 1812 und der endgültigen rechtlichen Gleichstellung von 1869 waren die Voraussetzungen für den Aufstieg der Juden nirgendwo so günstig wie gerade im protestantischen Teil des deutschsprachigen Raums. Bildung zählte hier mehr als irgendwo sonst – und wenn es ein zweites Volk gab, das schon seit mehr als zweitausend Jahren der Schriftgelehrsamkeit, also der Bildung, eine überragende Bedeutung zuerkannte, so waren es die Juden. Deutsche und Juden waren sich in diesem Bestreben mehr als nur einig, sie waren sich überraschend ähnlich. Nur so ist zu erklären, dass den Juden nirgendwo sonst innerhalb von wenigen Jahrzehnten eine so vollständige Integration gelang. „… die deutschen Juden waren in ihrer großen Masse bis zu Hitler – rührenderweise zu einem kleinen Teil sogar über Hitler hinaus und trotz Hitler – geradezu in Deutschland vernarrt“, schrieb Sebastian Haffner (2003: 118).
Eine bittere Erkenntnis
Ist die Vermutung ganz von der Hand zu weisen, dass es vielleicht gerade dieser sensationelle Integrationserfolg war, der den Juden in Deutschland zum Verhängnis wurde? Ihr Anteil an der Bevölkerung war verschwindend gering, zur jüdischen Religionsgemeinschaft zugehörig erklärten sich in der Volkszählung von 1925 überhaupt nur 0,9% der Bevölkerung. Rechnet man den assimilierten Teil hinzu, so ergeben sich insgesamt maximal zwei bis drei Prozent von Menschen mit jüdischer Wurzel. Diese numerisch unbedeutende Minderheit war aber in sämtlichen geistigen Berufen sehr bald nicht nur überdurchschnittlich, sondern in sensationeller Zahl vertreten. Es war also gerade der außerordentliche Assimilationserfolg der jüdischen Minderheit, der erst den Neid und dann den offenen Hass gegen sie schürte. Ab 1841 kontrollierten sie mehr als 40% aller Banken im Reich, nur ein Viertel befand sich im ausschließlichen Besitz von Christen. In der Weimarer Republik waren 13 Prozent aller Ärzte jüdischer Herkunft, 1933 traf das auf 36 Prozent aller Medizinstudenten zu.
Dass Neid eine im Verhältnis von Juden und Deutschen eine ausschlaggebende Rolle spielte, scheint jedenfalls die Meinung keines Geringeren als des großen Historikers Theodor Mommsen gewesen zu sein, der das ganze Gewicht seiner Autorität für seine jüdischen Mitbürger mit den Worten auf die Waage legte: “Der Kampf des Neides und der Missgunst ist nach allen Seiten hin entbrannt” (so in seiner Akademierede vom 18. März 1880 in der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität).
Das Ressentiment der Bildungsbürger gegen das neue Deutschland
Die überdurchschnittliche Präsenz der jüdischen Minderheit im modernen Wirtschaftsleben des Deutschen Reichs seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erwies sich als folgenreich. Aus dem Volk der Dichter und Denker war gleichsam über Nacht ein Volk von Erfindern und Industriellen geworden – von vielen wurde dies als traumatischer Einschnitt erlebt. War Deutschland am Todestag Goethes noch ein Land der Dörfer, Wälder und Weiher, wie es die Romantiker besungen hatten, so entwickelte sich das Land in der zweiten Hälfte im Eiltempo zu einem Industriestaat, der um 1910 allein auf seinem Gebiet fast so viele Großstädte beherbergte wie der Rest Europas zusammen. In einer bald gründlich verwandelten Landschaft von rauchenden Fabrikschloten und Arbeitermietskasernen gerieten Romantik und Idealismus, wie sie das klassische Bildungsbürgertum kannte, sehr schnell ins Abseits. Doch darin lag nicht einmal die schlimmste Auswirkung einer im Eiltempo vorangetriebenen Industrialisierung; schlimmer war, dass diese zur gleichen Zeit eine Deklassierung des Bildungsbürgertums bewirkte, also ihrer bis dahin tonangebenden Schicht.
Hatten in der ersten Hälfte des Jahrhunderts neben den Duodezhöfen der vielen Fürstentümer vor allem die Beamtenschaft und die Universitäten den Ton angegeben, so ging die Führung seit der zweiten Hälfte nun (neben dem Militär) auf die Parvenüs der Industrialisierung, also auf die erfolgreichen Kaufleute, Journalisten, Börsianer, Banker und Industriellen über. Innerhalb weniger Jahrzehnte war ein gründlich verwandeltes Deutschland entstanden, dem von Seiten der ihrer früheren Stellung beraubten Bildungsschicht ausgeprägtes Ressentiment und Misstrauen entgegenschlugen. Beides, das Misstrauen und das Ressentiment, richteten sich nun aber ganz besonders gegen die Juden – eben deswegen, weil gerade sie eine hervorragende Rolle in dem für die Bildungsschicht so nachteilig verwandelten Deutschland spielten. Hier wurde das Bündnis von Mob und Elite vorbereitet, von dem Hannah Arendt spricht (2000: 713).
Die Auflehnung gegen den Kapitalismus wurde auf die Juden übertragen
Wie überall sonst hatte sich auch in Deutschland der moderne Kapitalismus mit seinen typischen Vorzügen und Gebrechen den Durchbruch erkämpft. Nach dem Sieg über Frankreich im Jahr 1871 setze eine Boomphase ein, die schon nach zwei Jahren zu einem spektakulären Zusammenbruch führte, der ersten “Großen Depression”. Man suchte nach Schuldigen – der Kapitalismus als solcher war zu abstrakt, er eignete sich schlecht, um diese Funktion zu erfüllen. Ein Gesicht hatten dagegen die Männer an den Schalthebeln von Industrie und Banken – und da war den Juden überall zu begegnen. Zwar hatte erst die Industrialisierung Deutschland in kurzer Zeit reich und mächtig gemacht, aber große Teile der Bevölkerung litten unter der allzu schnell verlaufenen Transformation, die, wie es vielen Deutschen schien, ihre frühere Identität, ihre Traditionen, ihre Kultur bedrohte; selbst bewunderte Intellektuelle wie Thomas Mann glaubten in eine seelenlose “Zivilisation” hineingeglitten zu sein. Die Schuld für die allzu schnell, allzu heftig herbeigeführte Modernisierung wurde denjenigen angekreidet, die ihre erfolgreichsten Akteuren und Proponenten waren: den Juden.
Der hässliche Rand der Gesellschaft
In jeder Gesellschaft – ausgenommen einer idealen, die vermutlich bis heute nie real existierte – gibt es Radikale des rechten wie linken Lagers, gibt es Unzufriedene, Verlierer, Schlecht-Weggekommene, Ressentimentgetriebene, potentielle Aufrührer und Umstürzler und natürlich auch eine gewisse Zahl von geistig und moralisch schlichtweg Verrückten. In Deutschland und seinen Nachbarstaaten hatte es führende antisemitische Intellektuelle und Künstler gegeben: Wagner, Gobineau, Chamberlain habe ich schon genannt, der Historiker Treitschke, Alfred Rosenberg und eine große Zahl anderer könnten der Liste hinzugefügt werden; auch ein weltbekannter amerikanischer Industrieller wie Henry Ford, der unter dem Titel „The International Jew“ eine Reihe an Aufsätzen veröffentlichen ließ, die es an Gehässigkeit durchaus mit Wagners unseliger Hetzschrift aufnehmen konnten. Es gab diese Hasser, und es gab sie in wachsender Zahl, als die Deutschen eine Zeit der Unsicherheit und Transformation durchlebten, aber es gab, wie schon gesagt, nicht mehr von ihnen in Deutschland als etwa in Frankreich oder Russland. „… den Hitlerschen Ausrottungsantisemitismus gab es nirgends außer in Osteuropa, von wo er Hitler ihn hatte“ (Sebastian Haffner 2003: 107).
Hitler, ein arbeitsloser Postkartenmaler und Exgefreiter, hatte eine ganze Schar hässlicher Randfiguren um sich versammelt, aber bis 1929 blieb seine Bewegung bedeutungslos. Von einer überwältigenden Mehrheit gebildeter Deutscher wurde der geifernde Demagoge und Massenhypnotiseur als eine Art Kabarettfigur betrachtet und dementsprechend verlacht und verspottet – auch und gerade von jenen, denen die ganze Gewalt der Hitlerschen Hasstiraden in erster Linie galt: von den Juden. „Die goldenen zwanziger Jahre, die Jahre von 1925 bis 1929 waren für Hitler die Jahre vollkommener Erfolglosigkeit, in denen seine lärmende Republikfeindschaft völlig ohne Echo blieb und fast schon der Lächerlichkeit verfiel (Haffner 2003: 65). Bis zum Jahr 1929 hatte man guten Grund davon auszugehen, dass dieser Mann dort enden würde, wo der geifernde Radikalismus gewöhnlich immer und überall sein verdientes Ende erfährt, nämlich auf dem Müllhaufen der Geschichte.
Die Not und der Wahnsinn
Das Wort “gewöhnlich” verdient hier aber besonders betont zu werden. Nach dem verlorenen Krieg und der großen Inflation von 1923 ging es der Wirtschaft und der Bevölkerungsmehrheit mit jedem Jahr etwas besser. Das war eine gute Entwicklung, denn in Zeiten der Besserung haben Menschen keinen Bedarf an Radikalen und Schuldigen. Noch in den verworrenen Zwanziger Jahren waren die Deutschen – trotz einer verschwindenden Minderheit lautstarker Nazi-Hetzer – nicht judenfeindlicher als andere Völker, und sie trugen auch nicht mehr Mordlust und Aggression in ihren Genen. Das sollte sich allerdings schlagartig ändern, als die allmähliche Besserung innerhalb eines einzigen Jahres in eine Katastrophe abstürzte, die noch traumatischer war als der vor einem Jahrzehnt verlorene Krieg. Im gleichen Augenblick, als nach 1929 der größte Wirtschaftszusammenbruch des 20. Jahrhunderts immer größere Teile der deutschen Bevölkerung in die Arbeitslosigkeit und das Elend trieb, wurde aus den verspotteten Spinnern, Radikalen und Hasspredigern um Hitler plötzlich eine Bewegung, welche das bis dahin als abseitig Verworfene mit einem Mal als wahr und rettend erscheinen ließ.
Wir wissen, dass der Mensch in Notsituationen, wenn sein Leben bedroht ist, zu Handlungen fähig ist, zu der er sich unter normalen Bedingungen nie hätte hinreißen lassen. Die Weltwirtschaftskrise, die im Jahr 1929 begann, war für nahezu jeden zweiten Deutschen eine solche Notsituation. Im Laufe des allmählichen wirtschaftlichen Aufstiegs war die Partei der Hitlerkabarettisten im Reichstag zwischen 1924 und 1928 von 6,6 auf 2,6 Prozent geschrumpft, denn die Zahl der Arbeitslosen hatte sich innerhalb der gleichen Zeit von 340 Tausend 711 um etwa ein Drittel auf 268 Tausend 443 vermindert. Mit anderen Worten, die Nazipartei war von der Bildfläche nahezu verschwunden.
Das änderte sich radikal und gleichsam über Nacht nach 1929. Der Reichstag wurde von den Gefolgsleuten Hitlers geradezu überschwemmt, und zwar in strikter Parallelbewegung zur steigenden Not der Arbeitslosigkeit. Etwa vervierfacht auf 1 Million 62 Tausend hatte sich der Verlust an Arbeitsstellen im September 1930, und dementsprechend war der Anteil der Nazi-Stimmen von 2,6 Prozent bis auf 18,3 Prozent in die Höhe geschnellt. Für Juli 32 und März 33 betrugen die jeweiligen Relationen 5.355.000 / 37.4% und 5.598000 / 43,9% respektive. „Instinktsicher wie kein anderer“, so sagt es Joachim Fest, „… sah Hitler die Katastrophenkulisse erstehen, die seiner demagogischen Durchgängerei den dramatischen Hintergrund gab.“ Hitler selbst erklärte, „niemals in meinem Leben habe ich mich so wohl und innerlich zufrieden gefühlt wie in diesen Tagen“ (Fest 1973: 379, 380).
Ohne die Weltwirtschaftskrise wäre der blutrünstige Demagoge und Kabarettist nie an die Spitze Deutschlands gelangt
Not hat die Menschen in Deutschland in die Fänge der Verführer getrieben. Eric Hobsbawm, selbst ein aus Wien vertriebener Jude, der in England zu einem der weltweit renommiertesten Historiker der vergangenen zweihundert Jahre wurde, hat daran keinen Zweifel gelassen: „Ohne sie die Weltwirtschaftskrise, hätte es keinen Hitler gegeben“… „Würde der Faschismus auch ohne die Große Depression für die Weltgeschichte von Bedeutung gewesen sein? Vermutlich nicht. Italien war eine zu kleine Plattform, um von dort aus die Welt zu erschüttern… Offensichtlich war es die Weltwirtschaftskrise, welche Hitler von einem politischen Randphänomen zum Aufstieg zu einem potentiellen und schließlich tatsächlichen Meister seines Landes verhalf“ (1994: 86, 130; meine Übersetzung).
Wo liegt die eigene Identität?
Soll ein Deutscher der Empfehlung Joschka Fischers folgen; soll er im Empfangsraum seines Hauses ein Porträt Adolf Hitlers aufhängen, um sich und seine Gäste stets daran zu erinnern, dass die eigene Identität, die eigene Vergangenheit durch diesen Mann und seine Gefolgschaft besudelt wurden? Oder soll er umgekehrt verfahren, indem er in der eigenen Geschichte in erster Linie nach dem Guten sucht, weil es genug davon gibt, um es mit bestem Gewissen sich selbst und anderen vor Augen zu halten?
Ich meine, gerade weil es diesen Mann auch in der deutschen Geschichte gab, ist aus der Zukunft nur Hoffnung zu schöpfen, wenn man auf die zweite Weise verfährt – nicht anders als es die Menschen zu allen Zeiten immer schon taten. Auch nach Ausschwitz – und dieses Wort steht für alle Verbrechen, die sich Menschen gegenseitig angetan haben und antun werden – dürfen, ja müssen, Gedichte geschrieben werden, darf und muss Musik gespielt werden, weil alles, was das Leben lebenswert macht: Liebe, Musik, Dichtung, Barmherzigkeit, Erfindungskraft, nur dann möglich bleibt, wenn man den Schrecken vergisst und täglich von Neuem beginnt. Nur darf der Neuanfang nicht in gewaltsamer Verdrängung verstehen, so als würden Not, Krieg und alle Verbrechen, die damit verbunden sind, nicht stets vorhanden sein: als latente Möglichkeiten oder als brutales Geschehen wie gegenwärtig in Syrien. Das Bewusstsein, sich ihren Ursachen und Betreibern stets aktiv widersetzen zu müssen, darf nie aus den Köpfen verschwinden, denn die Lehre aus der eigenen wie überhaupt aus aller Geschichte sollte, so glaube ich, in der Einsicht bestehen, dass der Boden der Humanität überaus dünn, und in Zeiten von Not und Krieg jederzeit in Gefahr ist, unter den Kommissstiefeln der Demagogen erneut einzubrechen. Aber eine Überwindung der dunklen Seite menschlicher Existenz findet nicht dadurch statt, dass Menschen sich von der Finsternis lähmen lassen, sondern dass sie Licht verbreiten.
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