Die französische Vierteljahreszeitschrift Commentaire, Bannerträgerin liberalen politischen Denkens in der Tradition Tocquevilles und Raymond Arons, widmet sich ausführlich dem Verhältnis von Islam und westlicher Gesellschaft.
Fünf Wahrheiten hält Brzezinski, der ehemalige Sicherheitsberater von Präsident Jimmy Carter und „Kalte Krieger“ par excellence, als Ausgangspunkt seiner Betrachtung für gegeben:
Fünf Wahrheiten über die aktuelle Weltlage
Die Rolle der USA als imperiale Supermacht geht zu Ende, auch wenn sie immer noch die politisch, wirtschaftlich und militärisch mächtigste Einheit sind. China ist dabei, zum ebenbürtigen Global Player und sogar zum Rivalen der USA aufzusteigen. Russland erlebe gerade die letzte Phase der Aufteilung seines ehemaligen Imperiums, könnte aber künftig zu einem einflussreichen europäischen Nationalstaat werden, wenn es nicht sein Verhältnis zu den ehemaligen Sowjetrepubliken Ukraine, Weißrussland, Georgien und den baltischen Staaten vollends ruiniere. Das Europa der EU ist keine Weltmacht und wird es wahrscheinlich nie sein. Aber seine feste Verankerung in der NATO ist grundlegend für die konstruktive Lösung der russisch-ukrainischen Krise. Schließlich: das von Gewalt begleitete politische Erwachen bei den Muslimen in den post-kolonialen Staaten ist eine verzögerte Reaktion auf die mitunter „brutale Unterdrückung“, die vor allem von den europäischen Mächten ausgeübt wurde. Zugleich ist die islamische Welt durch religiöse Schismen zerrissen, die nicht auf westlichen Einfluss zurückzuführen sind.
Die von islamischen Extremisten mit angefachte Gewalt im Nahen und Mittleren Osten könnte jedoch nur der Anfang eines Phänomens sein, so warnt Brzezinski, das eine neue Qualität erreichen könnte mit unter anderem mit Auswirkungen auf Afrika und Asien.
Kolonialismus befeuert Ressentiments gegen den Westen
Es gelte im Blick zu behalten, dass die Gewalttaten der europäischen Eroberer und Kolonialmächte (unter Einschluss Russlands) seit dem 16. Jahrhundert bis hin zu den Kriegen in Algerien, Vietnam, Afghanistan und Irak im 20. und 21. Jahrhundert, Millionen von Toten zur Folge hatten. Muslimische und andere postkoloniale Völker sind dabei, dies in ihren kollektiven Erinnerungen und Geschichtsschreibungen als Grundlage aufzubauen für ihre tiefreichenden Ressentiments gegenüber dem Westen und der kolonialen Vergangenheit.
Mit dieser Einstufung des islamischen Terrorismus zu einem Risiko für die globale Sicherheit revidiert Brzezinski jene Einschätzung, die er noch in seinem Buch „Strategic Vision: America And The Crisis of Global Power“ (2012) vertrat. Hier hieß es noch, dass islamische Terrorgruppen wie Al Qaida durch eine Schwächung amerikanischer Macht weder demotiviert, noch weiter Auftrieb erhalten würden, weil ihnen die territoriale Verwurzelung fehle, wie sie eine Hamas und eine Hisbollah hätten. Terroristen hätten, von Bakunin bis Al Qaida, niemals ihre politischen Ziele erreicht und Staaten als die Hauptakteure auf der internationalen Bühne abgelöst. „Terrorism can intensify international turmoil but it cannot define its substance.”
Aufgabe der USA: Partnerschaft mit Russland und China
Die Aufgabe der USA als immer noch stärkste globale Macht wäre es nun, das heißt im Jahre 2017 und darüber hinaus, geduldig und hartnäckig an einer Kooperation mit Russland und vor allem mit China zu arbeiten, um die Risiken des Islamismus einzudämmen. Vor allem China müsse deutlich gemacht werden, dass angesichts dieser Stabilitäts-Risiken eine Partnerschaft mit den USA notwendig ist. Ein militärischer oder ideologischer Unilateralimus seitens der USA, Russlands oder Chinas wäre jedenfalls für alle Player kontraproduktiv, so Brzezinski.
Man wird sehen, ob und wie die neue US-Regierung mit Donald Trump an der Spitze die globalen machtpolitischen Interessen der USA mit den inneren wirtschaftspolitischen Zielen – Wirtschaftswachstum, Produktionsstätten im Inland halten und mehr Jobs für die Unter- und Mittelklassen – in Übereinstimmung bringt. Ein Neuanfang jedenfalls ist nach dem Quasi-Isolationismus der letzten Obama-Jahre dringend nötig. Die Welt wartet darauf, dass Washington wieder Initiative und Führung zeigt, und Bereitschaft zu Stärke, Verantwortung sowie Berechenbarkeit.
Vieles hängt davon ab, ob die USA sich wieder dazu verstehen, ihre nationalen Interessen und ihre Rolle in der Welt klar zu definieren. Aus diesen Wertentscheidungen leiten sich alle weiteren politischen Ziele und Mittel ab. Es geht, wie immer in der politischen Strategie, um ein möglichst rationales Kalkül, Kosten und Nutzen von politischen Zielen gegeneinander abzuwägen und immer neu zu prüfen, ob die Ziele dem nationalen Interesse dienen oder nicht.
Erinnerungen an Politische Rationalität
Was man sich unter Rationalität des politischen Handelns einmal vorzustellen hatte, darin erinnert ein Vortrag des französischen Soziologen, Intellektuellen, Figaro-Leitartiklers und Gründers von Commentaire, Raymond Aron (1905-1983). Der Beitrag aus dem Jahre 1979 mit dem Titel „La rationalité politique“ war zuerst auf Deutsch erschienen unter dem Titel „Politische Rationalität“ in „Wissenschaftliche und nichtwissenschaftliche Rationalität. Ein deutsch- französisches Kolloquium, Stuttgart 1983.“ 1979 hatte Aron übrigens auch für seine Arbeit an der deutsch-französischen Freundschaft den Goethe-Preis der Stadt Frankfurt erhalten. Jedes Jahr, in der Ausgabe des Winterquartals, bringt Commentaire als Hommage an seinen Gründer einen bislang in Frankreich unveröffentlichten Text von Aron.
Politische Entscheidungen ohne Wahrheitsanspruch
Aron erinnert daran, dass in modernen demokratischen Gesellschaften zwar politische Entscheidung wirtschaftswissenschaftlich und/oder soziologisch begründet werden können. Aber, und dies sei den heute für die Migrationspolitik politisch Verantwortlichen in der Bundesrepublik in Erinnerung gerufen: „Die Entscheidungen konstituieren dennoch kein Äquivalent einer Wahrheit“, wie in den Naturwissenschaften. „Aber die Wirtschafts- oder Sozialwissenschaften erlauben den Beweis der Unmöglichkeit gewisser Gesellschaftsvorstellungen, die den Parteien als Ideologie dienen. … Eine Regierung, die von Wählern abhängig ist, hat selten Sinn für lange Dauer; sie gibt Forderungen nach, ohne die späteren Folgen zu bemessen; sie will die öffentliche Meinung nicht beunruhigen oder ist sich der Gefahren nicht bewusst … Auch in der Außenpolitik gilt: „Auf jeden Fall kann die Entscheidung niemals einer Wahrheit gleichgesetzt werden …“
Und en passant erinnert Aron an die grundlegenden Aufgaben von Politik: die erste Pflicht der Regierenden ist die Sicherheit des Gemeinwesens nach außen, sodann die innere Ordnung und schließlich Gleichheit und soziale Gerechtigkeit.
Offene Grenzen: Der Gefahren nicht bewusst, die Folgen nicht bedacht
Wenn man das Handeln der Regierenden in Deutschland seit dem Jahr 2015 betrachtet, dann scheinen sie alle hier aufgestellten klassischen Maßstäbe aus dem Blick verloren zu haben. So behaupten die Akteure, allen voran die Bundeskanzlerin, 2015 mit der unbegrenzten, unkontrollierten Immigration die einzig mögliche, wahre Entscheidung getroffen zu haben. Dabei haben sie, dies lässt sich im Nachhinein sagen, die Folgen nicht bedacht und waren sich der Gefahren nicht bewusst. Was hätte zum Beispiel dagegen gesprochen, zuerst ein funktionierendes Kontroll- und Registrierungssystem an den Grenzen aufzubauen, bevor man die asylsuchenden Migranten ins Land lässt? Stattdessen wurde der Primat des Politischen verschüttet unter einer Woge von moralischen und gesinnungsethischen Begründungsversuchen, die aber lediglich eine kapitale politische Fehlleistung verdecken sollen, damit die öffentliche Meinung nicht beunruhigt wird und die Wähler bei der Stange gehalten werden.
Geheimnisvolle Zeitkrankheit
Dem Anfang des Aron-Aufsatzes hat das Redaktionsteam von Commentaire auf der gegenüber liegenden Seite ein Zitat aus Robert Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“ vorangestellt. Wir sagen hier der Redaktion von Commentaire Dank für diesen erhellenden und anregenden Hinweis. Das Zitat sei hier ohne weitere Kommentare leicht gekürzt nach dem deutschen Original wieder gegeben. Es findet sich im ersten Buch in dem Kapitel „Eine geheimnisvolle Zeitkrankheit“ und es handelt von der Dummheit:
„Denn wenn die Dummheit nicht von innen dem Talent zum Verwechseln ähnlich sehen würde, wenn sie außen nicht als Fortschritt, Genie, Hoffnung, Verbesserung erscheinen könnte, würde wohl niemand dumm sein wollen, und es würde keine Dummheit geben. Zumindest wäre es sehr leicht, sie zu bekämpfen. Aber sie hat leider etwas ungemein Gewinnendes und Natürliches … und ein rechter Gemeinplatz hat immerdar mehr Menschlichkeit in sich als eine neue Entdeckung. Es gibt schlechterdings keinen bedeutenden Gedanken, den die Dummheit nicht anzuwenden verstünde, sie ist allseitig beweglich und kann alle Kleider der Wahrheit anziehen. Die Wahrheit dagegen hat jeweils nur ein Kleid und einen Weg und ist immer im Nachteil.“
Dr. Joachim Stark ist Politikwissenschaftler und Publizist.
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