Die französische Vierteljahreszeitschrift Commentaire, Bannerträgerin liberalen politischen Denkens in der Tradition Tocquevilles und Raymond Arons, widmet sich ausführlich dem Verhältnis von Islam und westlicher Gesellschaft.
Es ist für Besançon nicht ausgeschlossen, dass der zeitgenössische Westen mehr und mehr den Verlockungen des Islam erliegt. Aber er sieht auch, dass der Islam selbst in einer Krise ist, bedingt gerade durch den immer engeren Kontakt mit dem Westen, durch den Zwang, die unvorstellbar hohen Summen an Petro-Dollars profitabel anzulegen – vorzugsweise übrigens in westliche Unternehmen und Technologie – und sie so für die Zukunft zu sichern.
Aber auch der Islam ist in der Krise
Damit wird der Ausblick auf die künftige Entwicklung des Verhältnisses von Westen und Islam unsicher. Wird der Islam à la longue den prometheischen Versuchungen des Westens erliegen, wird er Luxus und demonstrativen Konsum zugunsten einer „protestantischen Ethik“ von Kosteneffizienz, Wirtschaftswachstum, Innovation, aufgeben? Es gibt gewisse Anzeichen dafür etwa in den wohlhabenden Golfstaaten, aber Extrapolationen bleiben riskant. Zudem scheinen kapitalistische Verhaltensmuster zumindest kompatibel zu sein auch mit autoritären und despotischen Regimen, die Koran und Scharia buchstabengetreu auslegen.
Der Islam macht es dem Menschen jedenfalls leicht, ohne Sorge um die Geschichte und die Zeit zu existieren, ohne Sorge um den freien Willen, ohne Sorge um die unabänderlichen Gesetze der Natur und ohne Sorge um die Zukunft.
Politik der Integration wird scheitern
Und eben deshalb, so Besançon, wird die Politik der Integration scheitern, die derzeit von den westlichen Gesellschaften, auch in Frankreich und Deutschland, betrieben wird. Mit diesem Integrationsansatz – Spracherwerb, Arbeitsplatz, Zulassung muslimischer Sitten – werde der wahre Islam nicht erreicht und zur Anpassung bewegt, ein Islam, den man zudem durch die so täuschende christliche Brille der Nächstenliebe nicht angemessen wahrnehmen kann.
Wenn Besançon recht behält, dann wird entweder die westliche Gesellschaft sich immer weiter kulturell entkernen und sich unmerklich schließlich dem Islam unterwerfen. Dass der Islam sich seinerseits in Richtung einer westlich-christlichen Grundhaltung hin entwickelt, scheint hingegen unwahrscheinlich. Sollten sich die westlichen Gesellschaften auf ihre Wurzeln und ihre Identität besinnen, die ihren Erfolg seit der Renaissance ausgemacht haben – Naturwissenschaften, Aufklärung, Wettbewerb der Ideen, Kritik, Schutz der Freiheiten des Individuums, Rechtsstaat und Demokratie -, dann stünden viele Muslime vor der Entscheidung, sich entweder dem westlichen Lebensentwurf anzupassen, oder den wahren Islam in jenen Ländern zu leben, wo er Mehrheits- oder Staatsreligion ist. Der Ausgang des welthistorischen Experiments in Europa scheint derzeit zumindest ungewiss und, falls im Westen doch noch ein Lernprozess einsetzen sollte, so wird er langfristig und schmerzhaft sein. Die politischen, kirchlichen und kulturellen Eliten etwa in der Bundesrepublik scheinen derzeit eher bereit, dem Islam weiter Tür und Tor zu öffnen, den Anschlägen von Paris, Brüssel, Berlin zum Trotz.
Terroristen aus Berufung
Warum Menschen sich dem radikalen Islam zuwenden, warum sie bereit sind Massenmorde zu begehen und dabei auch den eigenen Tod in Kauf nehmen, erläutert Alessandro Orsini, Direktor des Instituts für Internationale Sicherheit an der Universität Rom und Forscher am MIT, in seinem Beitrag über die „Terroristen aus Berufung“ (La radicalisation des terroristes de vocation). Der Titel spielt an auf Max Webers Konzept der Berufung, etwa in der Abhandlung „Politik als Beruf“, 1919.
Ein anderes Motiv, das ebenfalls einflussreich sein kann, sind Rache und Hass auf die ehemaligen Kolonialmächte, die noch heute auch von der dritten und vierten Generation nach der Entkolonialisierung für die heutigen Lebensbedingungen der Menschen in den post-kolonialen Staaten verantwortlich gemacht werden. Später, in der Vorstellung des Beitrags von Zbigniew Brzezinski werden wir noch sehen, dass dieses Motiv für die internationale Politik künftig noch ein wichtiger Faktor sein kann. So ist es nicht ausgeschlossen, dass der Berlin-Attentäter vom 19. Dezember 2016 dieser Kategorie zu zurechnen ist, wenn man sein Bekennervideo als Grundlage nimmt.
Entwicklungsphasen der Radikalisierung aus der Innenperspektive
Orsinis Klassifizierung betrachtet die Entwicklungsphasen der Täter nicht von außen oder aufgrund von statistischen Häufungen, er setzt von einer Innenperspektive aus an. Anhand von 21 Fallstudien kommt Orsini zu dem Ergebnis, dass die islamistischen Terroristen aus Berufung eine Mission zu haben glauben – wie abwegig und verbrecherisch diese auch sein mag -, dass sie von einem Sendungsbewusstsein erfüllt sind. Sie glauben, die Welt vor einer vom Bösen verursachten Katastrophe retten zu müssen, eine Rettung, die nur durch das höchste Opfer der moralisch überlegenen, „reinen“ Gläubigen möglich scheint. Der Islam bietet hierzu Anknüpfungspunkte und den Vorwand, sich als Verteidiger eines Gottes aufzuführen, der von Karikaturisten, Rockkonzert-Besuchern, Homosexuellen und anderen Ungläubigen entheiligt wird.
Orsini hat unter anderem Fälle analysiert, wie die der Attentäter von London (2005), des Boston-Marathon (2013), auf Charlie Hebdo in Paris (2015), auf den Nachtclub von Orlando, Florida, und den Mord an einem Priester in der Normandie (2016).
Diesen Fällen und Tätern gemeinsam ist zunächst eine Phase der Desintegration der sozialen Identität, ausgelöst durch Traumatisierungen oder eine Reihe von sozialen Niederlagen. Bei diesem Täter aus Berufung erfolgt eine kognitive Öffnung oder Suche nach Deutungssystemen, die einen neuen Lebensabschnitt heraus aus dem Gefühl der absoluten Wertlosigkeit des eigenen Daseins eröffnen können.
Die nächste Phase ist die der Rekonstruktion der sozialen Identität. Wer, veranlasst durch welche Kontakte und Einflüsse auch immer, die djihadistische Ideologie für sich entdeckt, erhält – sofern das kritische Bewusstsein gleichsam ausgeschaltet ist – auch gleich Anleitungen, wie er oder sie zur Erfüllung einer großen Mission beitragen kann. Es beginnt die Rezeption radikaler Auslegungen des Islam und die ideologische Aufladung der eigenen Existenz.
Die folgende Phase ist die Suche nach anderen Individuen oder Gruppen mit der gleichen Ausrichtung und Sendungsbewusstsein, die Phase der Integration in eine religiöse Sekte. Diese Integration kann direkt über persönliche Kontakte aber auch anonym, etwa über Internet-Seiten erfolgen. Im letzteren Fall handelt es sich um eine Teilhabe an einer „imagined community“ (Benedict Anderson 1983). Ein Beispiel dafür ist laut Orsini der Attentäter von Ottawa, der einen Wachsoldaten tötete, bevor er im Parlamentsgebäude von Sicherheitskräften erschossen wurde (2014).
Die letzte Phase, die Entfremdung vom sozialen Umfeld, ist für die Sektenmitglieder besonders wichtig, wenn es darum geht, im Sinne der eigenen Mission auch zu morden. Die soziale Isolierung unterbricht zum einen den Kontakt mit der moralisch verwerflichen, „unreinen“ westlichen Welt. Zum anderen verhindert sie, dass die umgebende Gesellschaft mit ihrer sozialen Kontrolle, ihren moralischen Geboten Zweifel sät bei den Sektenmitgliedern. Ein Beispiel für die Rolle der Entfremdung vom sozialen Umfeld ist der Attentäter, der die Morde im jüdischen Supermarkt in Paris beging (Januar 2015).
Abwendung vom Terror bleibt möglich
Orsini besteht darauf, dass diese Phasen sich in erster Linie bei Attentätern aus Berufung finden. Jene Fälle, wo eventuell eine narzisstische Persönlichkeitsstörung, oder das Ausleben von Allmachtphantasien vorliegt, diskutiert er nicht. Auch sei im Blick zu behalten, dass diese Phasen nicht zwangsläufig aufeinander folgen müssen. Auch besteht immer die Möglichkeit, dass die Entwicklung zum Terroristen aus Berufung unterbrochen wird, sei es, dass zumindest im Westen sozialisierte Individuen im direkten Kontakt mit der Wirklichkeit des Herrschaftssystems des Islamischen Staates in Syrien, sich vom Terror wieder abwenden, sei es, dass sie doch von therapeutischen Interventionen des sozialen Umfelds wieder von ihrer mörderischen Einbahnstraße abgebracht werden.
Die innerste Motivationsschicht bei den Attentätern aus Berufung, so Orsini, ist jedenfalls die Vorstellung, dass sie den Tod Gottes (Nietzsche) rückgängig machen können. In der Vorstellungswelt dieses Typs von djihadistischem Terroristen ist die letzte Rechtfertigung ihrer Taten, dass sie die Mörder Allahs zur Strecke bringen – z.B. in Gestalt der Karikaturisten bei Charlie Hebdo.
Beobachtung gefährdeter Jugendlicher und junger Erwachsener und ihre sozialpädagogische-therapeutische Begleitung mag Chancen bieten, das Abgleiten in den Terror zu verhindern. Die Chancen dafür sind jedoch besonders schlecht, wenn junge Menschen bereits als Terroristen aus Berufung in der Gastgesellschaft eintreffen. Wenn dann auch noch die Sicherheitsbehörden versagen, die den letzten Schutzwall für die Gesellschaft angesichts einer verfehlten Migrationspolitik darstellen, dann wird die Katastrophe unvermeidlich. Es scheint, dass die deutsche Gesellschaft künftig gezwungen sein wird, mit diesem Wissen und mit dieser Situation ist zu leben.
Initialzündung für asymmetrische Kriege gegen den Westen
Aber die islamistische Bedrohung könnte noch größere Dimensionen annehmen, als jene, welche etwa die USA, Frankreich, Belgien und Deutschland in den vergangenen Jahren erlebt haben. IS und andere islamische Terrorsekten können Initialzünder sein für eine neue Welle von asymmetrischen Kriegen gegen den Westen.
Ob es gelingt, die post-kolonialen muslimischen Regionen im Nahen und Mittleren Osten zu befrieden, hängt wesentlich davon ab, ob und wie die USA neue Koalitionen zur Wiederherstellung des Friedens zusammenführen kann, so Zbigniew Brzezinski in seinem Commentaire-Beitrag „Die neue weltweite Rollenverteilung“ (Vers une nouvelle donne mondiale“; zuerst in The American Interest, Juli/August 2016 unter dem Titel: Toward a Global Realignment.
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