Urschreie im Fortschrittslager und andere sehr ergreifende Szenen

Der Ausgang der US-Wahl vor genau vier Wochen hat die Progressisten des Westens im Innersten getroffen. Sie merken selbst: Ihrer Wirklichkeitsdefinition folgen die meisten nicht mehr. Und ihrem Faschismusbegriff schon gar nicht.

picture alliance / ZUMAPRESS.com | Gina M Randazzo

Auch genau vier Wochen nach der Wahl in den USA sitzt die Erschütterung der sinnprägenden Klasse über ihren Ausgang tief, so tief, dass sich manche ihrer Vertreter nur wortkarg und rudimentär dazu äußern. In wenigen Wochen findet auch in Deutschland eine Abstimmung statt, die möglicherweise wieder nicht zur Zufriedenheit derjenigen ausgeht, die über eine „nach vorn gerichtete Haltung“ (R. Habeck) verfügen. Demnächst dürfen auch die Bürger in Kanada über ihr Parlament entscheiden. Aller Wahrscheinlichkeit nach überlebt Justin Trudeau diesen Vorgang politisch nicht. Bei ihm handelt es sich exakt um den Typus, der herauskäme, wenn Journalisten von CNN, New York Times, Guardian und Spiegel, Davos-Dauergäste und Großdenker von Noah Harari bis Marina Mazzucato ihre Vorstellungen in ein KI-Programm einspeisen und ihm den Auftrag geben würden: Entwirf uns den idealen Führer der guten Gesellschaft.

Es gibt eine strikt auf den Westen beschränkte Globalgemeinschaft von Sinnschöpfern, deren Angehörige nicht nur exklusiv wissen, wie Wahlen ausgehen müssen, damit die von ihnen projektierte bestmögliche Gesellschaft entsteht. Sie verfügten im Fall der US-Wahl wie auch in allen anderen gesellschaftlichen Fragen über die innere Sicherheit, dass nichts und niemand den korrekten Gang der Geschichte verhindern, sondern höchstens kurzfristig verzögern kann. Der authentische Ausdruck dieses Bewusstseins hört sich übrigens so an:

— Liberty Hannes (@LibertyHannes) November 30, 2024

Die Sprecherin gehört gewiss nicht zur intellektuellen Spitze des Fortschrittslagers; die Pointe besteht darin, dass sich ihre Ausführungen zu diesem zentralen Glaubenssatz trotzdem überhaupt nicht von komplizierteren Formulierungen einer NYT-Leitartiklerin oder eines Professors der Geisteswissenschaften in Harvard unterscheiden.

Zur Niederlage von Harris (und dem bevorstehenden Ende Trudeaus wie der absehbaren Nichtkanzlerschaft Robert Habecks) gilt in diesem länderübergreifenden Milieu ein unhintergehbares Dogma: Es lag nicht an der Kandidatin und ihren Botschaften und es liegt auch bei den künftigen Wählerentscheidungen niemals an der Qualität des Angebots. Da sich Angehörige der Progressivkoalition Geschichte gar nicht anders denken als mit einem Richtungspfeil, der in ihre Zukunft weist, scheidet diese Möglichkeit von vornherein aus.

Jedenfalls galt das bis vor wenigen Wochen. Die Verhältnisse schlagen jetzt derart rücksichtslos zurück, dass manche die einzige Spannungslösung im Urschrei sehen. In den USA gibt es bei jüngeren Frauen auch den Trend, sich die Haare aus Protest gegen den Weltlauf abzuscheren und sich zur freiwilligen Enthaltsamkeit bis mindestens 2028 zu verpflichten (falls J.D. Vance dann übernehmen sollte, auch für länger). Die Verzweiflung findet vor Kameras statt, an ihrer Echtheit sollte man trotzdem nicht zweifeln.

Nicht nur asymmetrische Blauhaarfrisuren verschwinden auf diese Weise, sondern auch die grundsätzliche Zuversicht der Progressiven, dass die Dinge eigentlich nur in ihre Richtung laufen können, weil ihnen alle anderen Wege verstellt sind. Um zu verstehen, warum sich ein Milieu von Seattle bis Wien, das ansonsten seine Aufgabe darin sieht, die Welt zu kurieren, jetzt erst einmal an seiner psychischen Genesung arbeitet, müssen wir einen Blick zurück auf die Wochen vor dem 5. November werfen. Damals begründeten sehr viele Meinungspräger, warum Trumps Niederlage gewissermaßen schon wissenschaftlich bewiesen feststand. Deshalb handelte es sich bei dem Wahlkampf eigentlich nur um eine bestenfalls mittelgroße Formalität, an dessen Ende Trump in die wohlverdiente Tiefe fallen würde wie weiland King Kong im Film vom Empire State Building.

Was mit dieser Wahl über Leute kam, deren ganzes Selbstbild darauf ruht, auf der exklusiv richtigen Seite zu stehen, das gehört nicht einfach in die Kategorie Irrtum. In der Wahlnacht erlebten sie eine seelische Zertrümmerung. Am ehesten lässt sich ihre psychische Situation mit der des deutschen Linkslagers unmittelbar nach dem Mauerfall im November 1989 vergleichen. Ausnahmsweise kommentierten die Fortschrittler damals nicht die Geschichte. Die Geschichte kommentierte sie. Den ewigen Visionären, die dieses Ereignis gerade gar nicht vorausgesehen hatten, kam es damals so vor, als hätte sich in dem Boden ihrer Tatsachen plötzlich eine Falltür geöffnet.

Analysen und Fingerzeige gab es in den vergangenen Wochen reichlich. Im Telegraph, deren Redaktion sich von Harris zugebenermaßen nicht so begeistert zeigt wie die Mehrheit ihrer amerikanischen und deutschen Kollegen, nannte Camilla Tominey den Wahlkampf der Demokratin rein unter handwerklichen Gesichtspunkten „die schlechteste Kampagne in der modernen amerikanischen Geschichte“, wofür in der Tat ziemlich viel spricht. In den USA und zeitversetzt 24 Stunden erregten sich sehr viele Medienleute über die Tatsache, dass die Washington Post keine Wahlempfehlung für Harris aussprach. Deren Besitzer Jeff Bezos wechselte damit für sie schlagartig vom Lager der hellen zu den finsteren Milliardären. Dass die Brotherhood of Teamsters, die größte Einzelgewerkschaft der USA, zum ersten Mal seit Jahrzehnten keine Empfehlung für die Demokraten gab, bedeutete zwar unendlich viel mehr als die in der Redaktion vielfach begrummelte Entscheidung des Post-Eigners. Aber was Dienstleistungsbeschäftigte und ihre Vertreter denken, liegt so weit jenseits des Ereignishorizonts der politisch-medial-organisatorischen Klasse, dass sie davon einfach keine Notiz nahm, ganz egal ob von New York oder Berlin aus.

Es hätte schon im Lauf der Wahl genügend Gelegenheit für die oben in dem Schaubild zitierten Pressevertreter gegeben, einen Hauch von Wirklichkeit in die Redaktionsbüros zu lassen. Und spätestens nach dem 5. November wäre es an der Zeit gewesen, die eigene Wahrnehmung wenigstens graduell zu korrigieren. Selbst in der Demokratischen Partei soll es gerüchtehalber die eine oder andere selbstkritische Diskussion geben. In die einschlägigen amerikanischen Blätter und Sender dringt nur ein Minimum davon vor. Und in ihre deutschen Schwestermedien gar nichts. Die Zeit überschrieb ihren Kommentar zum Wahlausgang so:

Screenprint ZEIT

Um ganz authentisch zu wirken, hätte der Text das four letter word einfach nur fünftausendmal wiederholen müssen.

Trumps Kaliber ragt natürlich etwas heraus. Aber auch auf die Wut- und Trauerbekundungen nach der Abwahl des kanadischen Vorbildpremiers und der Nichtkanzlerwerdung Robert Habecks kann sich die Öffentlichkeit schon jetzt einstellen. Natürlich auch auf die Generalanklage, dass eine tumbe Mehrheit den eigentlich längst vorbestimmten Fortschritt immer wieder sabotiert. Aus diesem Psychodrama lässt sich eine Schlussfolgerung ziehen, die das Verständnis großer gesellschaftlicher Prozesse im Westen erleichtert: Die progressive Fraktion glaubt ihre wesentlichen Dogmen ernsthaft. Sie glaubt an den historisch einprogrammierten Fortschritt, an ihre eigene Berufung und die Höllenstrafe für alle, die nicht folgen wollen, wobei sie für dieses Satansreich einen speziellen Begriff bereithält, nämlich Faschismus. Dass sie mit dieser Formel weder den historischen Faschismus Mussolinis noch den Nationalsozialismus meint, versteht sich von selbst. Sie will damit ja etwas über die Gegenwart aussagen, nicht über die Geschichte.

Nicht sämtliche Mitglieder dieses Milieus glauben alles, was an kleineren Welterklärungen in ihrer Sphäre herumschwirrt. Sie glauben vielleicht nicht in toto, dass nicht nur Mathematik, sondern auch Milch rassistisch ist (dietary racism), dass der Begriff „schwarze Löcher“ Rassismus befördert (nach Ansicht von zwei Professoren der Cornell-University), und dass es sich um Kolonialismus handelt, wenn Westler Yoga betreiben. Manche glauben möglicherweise noch nicht einmal an den weiblichen Penis.

Kurzum, sie folgen dem Katechismus vielleicht nicht in jedem Detail. Aber ihrer Berufung zur Rechtleitung der Gesellschaft wie die absolute Verdammnis beim Sieg ihrer Gegner (also Faschismus), das empfinden sie offenbar so real wie die Menschen des Mittelalters Gottesnähe und Teufelsdrohung. Die wesentlichen Auseinandersetzungen in den USA, Deutschland und anderen Ländern lassen sich deshalb mit politischen Kategorien nur sehr unzureichend erfassen. Wer nicht auch psychologische und parareligiöse Maßstäbe verwendet, bleibt ziemlich orientierungs- und erkenntnislos. Vielleicht eignet sich auch ein quasiliterarischer Begriff zur Klärung, der hier eingeführt werden soll: fantastischer Irrationalismus.

Anders als im fantastischen Realismus, dessen Autoren ja wissen, dass sie den Boden des Tatsächlichen nicht ganz verlassen, aber knapp darüber schweben, glauben die fantastischen Irrealisten buchstäblich an das, was sie nicht ohne Grund Narrativ beziehungsweise Erzählung nennen. Dass die Realität beispielsweise bei Wahlen einen anderen Weg nimmt, akzeptieren sie nicht als Gegenbeweis. Sie unterscheiden säuberlich zwischen Realität (abgeleitet von res, die Sache) und ihrer entworfenen Wirklichkeit (abgeleitet von dem neulateinischen actualitas, was sich wiederum auf actus bezieht, dessen Wurzeln in den griechischen Philosophiebegriffen entelecheia und energeia liegen).

Im Terminus ‚Wirklichkeit‘, nach diesem Verständnis, liegen also die Wortbedeutungen von Vollzug, Verwirklichung, Energie, Richtung; die Wendung passt hervorragend zu einem Denken, das die Ebene der Gegenwart hinter sich lässt und sich eigentlich schon auf die Höhen einer vorbestimmten Zukunft richtet. Der heiße Glaubenskern der fantastischen Irrealisten aka Progressiven besteht darin, dass ihre Wirklichkeit elfenbeinturmhoch über jeder Realität steht.

Irgendwie müssen sie natürlich die Lücke zwischen beidem argumentativ füllen. Denn, dass die Wahl in den USA nicht nach ihrem Wunsch und Willen ausging, lässt sich selbst für diejenigen nicht bestreiten, die der Realität ihren fuck-Zeigefinger entgegenhalten. Zum einen lag der Sieg des Gottseibeiuns natürlich an dem Schuldigen Nummer eins, Elon Musk, der mit seiner Plattform X nicht zugunsten der Demokraten in den Wahlkampf eingriff wie der frühere Twitter-Chef Jack Dorsey 2020, und der persönlich Trump so unterstützte wie Bill Gates und andere Milliardäre Harris und vorher Biden. Der Verantwortliche Nummer zwei hört auf die Bezeichnung Mann. Männer, namentlich Latinos und Schwarze, analysierte die Autorin Maureen Dowd, hätten sich geweigert, eine Frau ins höchste Amt zu befördern.

Und drittens lag der beleidigende Fehlgang der Geschichte natürlich an der Dummheit der Wähler. Dass die gleichen Leute, die der Mehrheit nach dem 5. November eine unzureichende Intelligenz diagnostizierten, vor dem 5. November felsenfest davon ausgingen, diese Mehrheit würde ihr Kreuz bei Harris setzen – so etwas gehört eben zu den Nebenwidersprüchen, wie sie nur in der Realität vorkommen, zum Glück aber nicht in der genau deshalb bevorzugten höheren Wirklichkeit. Gleich nach dem 5. November reichten amerikanische und auch eine Menge deutscher Nutzer auf X Statistiken herum, die zeigten, dass Amerikaner mit Universitätsabschluss mit höherer Wahrscheinlichkeit zu Harris neigten als Nichtakademiker. Das gleiche Erklärmuster gibt es auch etwas einfacher. Die Schauspielerin Sharon Stone folgte kürzlich diesem basic instinct, als sie die Trump-Wähler kollektiv als ungebildet (uneducated) bezeichnete.

Nun geben Statistiken nur über formelle Bildungsabschlüsse Auskunft und nie und nimmer über Bildung, erst recht nicht über Lebensnähe. Davon, dass es mit der Bildung selbst vieler Harvard-Studenten nicht gut steht, legte sie und andere Ivy-League-Kinder in der letzten Zeit ein sehr beredtes Zeugnis ab. Außerdem verläuft die Normalverteilungskurve bekanntlich exakt symmetrisch. Da Personen mit hohem soziokulturellen Status – und da gibt es tatsächlich eine Korrelation mit dem IQ – eher dazu neigen, sich an Wahlen zu beteiligen, müsste das Fortschrittslager Sieg um Sieg einfahren, wenn die Klugen tatsächlich progressiv und die Unterdurchschnittlichen den Unkandidaten wählen würden. Auch die oben abgebildeten Wahlprognosen sprechen nicht dafür, dass schneidende Intelligenz und ein Kommentatorenjob bei Newsweek oder der Berliner Zeitung zwingend Hand in Hand gehen.

Die Welt der fantastischen Irrealisten muss man sich ähnlich vorstellen wie die Commedia dell‘ arte: Es treten dort keine Vertreter der Realität auf, sondern Knallchargen, die jeweils einen Typus verkörpern, einen Charakter, der sich niemals ändert: die verzweifelten Klugen. Musk, Mann und der Allgemeindumpfe. Auch bei den politischen Protagonisten selbst handelt es sich durchweg um Kunstfiguren. Der Joe Biden der guten Medien – erst sharp as a tack, dann tragischer Greis – hatte so gut wie nichts mit dem realen Joseph Biden zu tun, die von innen leuchtende mediale Kamala Harris nichts mit der realen Kandidatin, so, wie schon 2021 kaum eine Beziehung zwischen der von Süddeutscher bis Spiegel ausstaffierten Figurine Annalena Baerbock und der Baerbock in echt existierte. Diese Metaerzählungen sollen die Wirklichkeit auch gar nicht abbilden, sondern korrigieren.

Aber nirgendwo schlägt diese höhere Wirklichkeit die Realität so deutlich wie bei dem Begriff Faschismus, der Neolinken heute flüssiger über die Lippen kommt als ‚guten Tag‘. Die Formel Trump = Faschist benutzen formal durchaus intelligente Leute, die eigentlich wissen müssen, was Faschismus und Nationalsozialismus bedeuten, etwa der Historiker Timothy Snyder. Jonathan Franzen, Autor der großartigen „Korrekturen“, erklärte in einem Interview mit der Welt den designierten Vizepräsidenten J.D. Vance zu einem „offenen faschistischen Talent“, wobei er allerdings nicht mitteilte, wie man sich ein verborgenes faschistisches Talent vorstellen muss. Der ZDF-Augur Elmar Theveßen will den Faschismus nicht nur für die Zukunft, sondern sogar im Rückblick erkennen. Bei Lanz meinte er, „dass alle Elemente, die wir in den letzten Jahren von Donald Trump erlebt haben, schlicht und ergreifend belegen, dass es faschistische Tendenzen sind.“

Seine ARD-Kollegin Anja Reschke wiederum verwendet die F-Formel in einer laufenden innenpolitischen Debatte: Die Journalisten hätten sich eine wirklich große pädagogische Mühe mit der Bevölkerung gegeben, trotzdem wählten nicht wenige Bürger immer noch AfD. Deshalb sei das Verbot der Partei der Joker, um uns vor dem Faschismus zu beschützen.

Wie beim Rassismus- geht es auch beim Faschismusbegriff der fantastischen Irrationalen darum, die Kampfzone ständig auszuweiten. Als faschistisch bestempeln etliche Medien mittlerweile auch Elon Musk und den radikallibertären argentinischen Präsidenten Javier Milei. Faschisten, die den Staat zurückschneiden, Steuer- und Ausgabenkürzungen fordern? Da Faschist für die Progressiven einfach eine Bezeichnung für Gegner jedweder Art darstellt, sehen sie darin überhaupt keinen Widerspruch. Seit einigen Jahren setzt sich eine kleine libertäre Bewegung für das Konzept der Freien Städte ein, in denen Bürger durch Verträge alle wesentlichen Angelegenheiten regeln, während der Minimalsaat sich nur um öffentliche Sicherheit und Justiz kümmert (mehr dazu hier und hier).

Eine kleine Enklave dieser Art in Mittelamerika existiert bereits. Offenbar sehen die Progressiven, die neben sich selbst nichts so sehr verehren wie den Staat, darin eine echte Bedrohung. Jedenfalls lautet das neueste Modewort neben dem guten alten Faschismus jetzt „autoritärer Libertarismus“. Die Zeit veröffentlichte einen Text, entstanden in der Kooperation einer Meldestelle mit einer Journalistennachwuchsklasse, der nicht nur vor der Gefahr selbstorganisierter Bürger warnt, sondern dafür auch das fantastische Wort „Marktfaschismus“ vorschlägt.

Die Progressisten lesen durchaus die Zeichen an der Wand. Elon Musk schaffte tatsächlich die Manipulations- und Shadowbanning-Methoden auf Twitter ab, Milei in Argentinien setzte sein Versprechen um, jedes zweite Ministerium zu schließen und tausende überflüssige Beamte zu entlassen. Möglicherweise stutzt Trump den Staat in den USA ein wenig zurück. Durch die bloße Tatsache seiner Rückkehr demolierte er schon das Ansehen der wohlgesinnten Prognosemedien ziemlich gründlich, ihm darf man also alles Schlimme zutrauen. Und warum sollen reine Bürgerstädte nicht hier und da entstehen und damit die Alternativen für alle erweitern, die in ihrem Land ans Auswandern denken?

In fast jeder wohlmeinenden Politikerrede des Westens heißt es, die Demokratie – auch gern „unsere Demokratie“ genannt – stünde „unter Druck“. Der originären Demokratie geht es überall dort ganz gut, wo Wahlen zu politischen Veränderungen führen, danke der Nachfrage. Unter Druck steht die Deutungshoheit einer Klasse, die große Teile von Medien, Universitäten und Organisationen einschließlich Parteien beherrscht, und deren Angehörige jetzt feststellen, dass selbst diese Machtstellung nicht mehr ausreicht, um der Welt eine bestimmte Richtung zu befehlen. Sie bestimmen zwar weitgehend die Sinnproduktion. Trotzdem unterstellt sich die dumme Realität nicht mehr so ohne weiteres ihrer höheren Wirklichkeit. Unter diesen Umständen bleibt offenbar nichts anderes übrig, als sich die Haare gegen Trump auszuraufen, Urschreie auszustoßen und Bevölkerungsmehrheiten zu beschimpfen, sich also in die Regression zurückzuziehen. Wie das ganz wortwörtlich vor sich geht, zeigten 66 deutsche überwiegend nur auf X bekannte Matadore, die sich gerade von Musks Plattform verabschiedeten und die Welt davon durch einen offenen Brief in Kenntnis setzten. In ihrem dramatischen Abgangsschreiben heißt es:

„Seit der Übernahme durch Elon Musk ist Twitter kein Ort mehr für freie und faire Meinungsäußerung und einen offenen Austausch. Schlimmer noch, Twitter ist ein Ort der Zensur, des Rassismus, Antisemitismus und des rechten Agendasettings geworden. Die Abschaffung von Moderationsmechanismen und die gezielte Verstärkung extremistischer Inhalte untergraben die Grundprinzipien einer deliberativen Plattform und machen X zu einem Werkzeug der Polarisierung, der Manipulation und der Menschenfeindlichkeit.“

„Abschaffung von Moderationsmechanismen“ gleich Zensur, das bedeutet vermutlich: Freie-Rede-Faschismus. Gegenwärtig benutzen 335 Millionen Menschen weltweit X, davon 106 Millionen in den USA. Einer der 66 Ausgereisten klärte das Publikum darüber auf, dass ihre Aktion die Musk-Plattform jetzt endgültig in die Irrelevanz stößt.

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Dieser Text befasst sich vor allem mit der Frage, wie die fantastischen Irrealisten auf alle anderen schauen. Dieses letztgenannte Detail illustriert darüber hinaus schön, wie sie sich selbst sehen. Für sie wächst neuerdings alles zu einem großen finsteren Konglomerat zusammen: Trump, Musk, Milei, X, Männer, dumme Wähler und nichtprogressive Bürger überhaupt. Viel außerhalb bleibt da nicht übrig. Einige der 66 löschten übrigens ihre X-Konten bisher trotz des angeblich vollzogenen Abschieds nicht, sondern hängten nur ein virtuelles Schloss davor. Vermutlich sieht man in ein paar Monaten den einen oder die andere wieder auf der Bühne des Muskfaschisten herumgeistern, weil sie sich und andere drüben auf „stuhlkreis social“ sonst zu Tode langweilen.

Es gibt ja auch gute Gründe, warum nur die bekämpften Libertären ihre eigenen Städte gründen wollen, aber nie die Angehörigen der Fortschrittskaste. Das liegt zum einen daran, dass irgendwoher ihre materiellen Ressourcen kommen müssen, vor allem in Deutschland, wo sich fast niemand aus dieser Gruppierung den Marktkräften aussetzt. Aber zweitens, und das zählt noch sehr viel mehr, brauchen fantastische Realisten jemanden außerhalb ihres Milieus, der ihrem Glaubenssystem zumindest in Teilen folgt, und wenn auch nur aus Opportunismus. Sie brauchen die Bestätigung von außen als Stützvorrichtung, weil ihr fantastischer Irrealismus konstruktionsbedingt keine Stabilität aus sich selbst erzeugt. Sie brauchen also die anderen, die sie verachten. In der Psychologie nennt man diesen Zustand double bind. Sie können nicht mit dem großen Rest der Gesellschaft leben, aber auch nicht ohne ihn auskommen. Alles in allem erinnern sie an eine besondere Sorte Frauen und Männer (das Phänomen kommt hier wie dort vor), die ihren Partner zwar nach Strich und Faden beschimpfen und für alles Unglück verantwortlich machen, sich aber an sein (oder ihr) Hosenbein klammern, sobald er respektive sie tatsächlich den Koffer packt, um auszuziehen.

Aber genau dieser Auszug findet durch die Wahl in den USA und demnächst in Kanada und anderswo statt. Auf den Wahlzetteln stehen nicht nur Kandidaten, sondern ganze Milieus. In ein paar Jahren könnte die Entwicklung dahin gehen, dass die Dummen, Dumpfen, die Markt- und Free-Speech-Faschisten die fantastischen Irrealisten sanft therapieren müssen. Sie selbst werden höchstwahrscheinlich auch das nicht hinbekommen. Aber ein verwegener Traum bleibt es doch, irgendwohin auszuwandern, wohin sie einem mit ihrem Zeter, ihren protestgeschorenen Haaren und ihren todsicheren Zukunftsprognosen nicht folgen können. Ja, der Autor sagt sich sofort: jetzt bloß nicht selbst den Fehler machen, die Realität einfach wegzuwünschen.

Aber: Du könntest in deinem Inselparadies sitzen, wo du dir alles zu deiner Zufriedenheit aufgebaut hast, bis ein Schiffbrüchiger in seinem lecken Kahn erscheint, den du im letzten Moment aus den Wellen ziehst. Sobald er das Salzwasser ausgespuckt hat, kräht er dich an: „Faschist.“ Als nächstes verteilt er deine Vorräte um. So geht die Fabel leider in der echten Wirklichkeit aus.


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