Türkei: Wie Attentate in die Präsidialdiktatur führen sollen

Das mörderische Attentat in der Türkei ist Höhepunkt einer schrittweisen Übernahme der Macht durch die AKP, die sich immer stärker islamisiert und radikalisiert. Damit ist die Hoffnung ausgeträumt, es könnte eine Art fortschrittliche, westlich-islamische Politik geben. Und die Angst vor Putin schützt Erdogan vor Kritik aus Berlin und Washington.

Erdogan erblickt in dem jungen Rechtsanwalt nicht zu Unrecht die eigentliche Gefahr für seine Präsidialdiktatur – und er hat nicht vergessen, wie schnell seine eigene Bewegung gut zehn Jahre die bis dahin dominierenden Parteien verdrängen konnte. Sollte die HDP in den Neuwahlen einen weiteren Sprung nach vorn machen, wäre es nicht nur um den Alleinherrschaftsanspruch der islamischen AKP geschehen – angesichts der dokumentierten Korruption nicht nur der Präsidentensippe stünde dem Aufsteiger ein Absturz in einen tiefen Abgrund bevor, sollte der „tiefe Staat“, den er selbst in Ablösung der entsprechenden Kreise der alten Eliten geschaffen hat, nun versagen. Erdogan, der noch vor der Juni-Wahl den halbherzigen Versuch unternommen hatte, die kurdische Bevölkerung an die AKP zu binden, legte die Hebel um. Hatte er schon im Kampf um die nordsyrische Stadt Kobane die kurdischen Kräfte nur nach großem außenpolitischen Druck ihren Verteidigungskampf gegen den Islamischen Staat zugelassen hatte, fand er nun zurück zum Kampf gegen die als Terrororganisation verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK.

Anschläge ohne Verantwortliche führen zum Kampf gegen die PKK

Am 20. Juli 2015 kam es im südost-türkischen Suruc/Pirsus zu einem Selbstmordattentat, bei dem 34 junge Kurden, die beim Aufbau von Stadt Kobane helfen wollten, getötet wurden. 76 weitere überlebten zum Teil schwer verletzt. Die türkischen Sicherheitskräfte machten den syrisch-iraken „Islamischen Staat“ verantwortlich – der sich jedoch trotz seiner sonst offensiven Öffentlichkeitsarbeit bis heute nicht zu diesem Attentat bekannt hat.

Als Erdogan diesen Anschlag zum Anlass nahm, nunmehr seine Teilnahme an den Luftangriffen der von den USA geführten Anti-IS-Allianz zu erklären, diese sich aber trotz eines bestehenden Waffenstillstands fast ausschließlich gegen die PKK richteten, machten schnell Gerüchte die Runde, Erdogan selbst sei Urheber des Anschlags gewesen. Bestärkt wurden diese Gerüchte durch eine unvermittelt einsetzende Propaganda-Kampagne gegen die aus nationaltürkischer Sicht klassischen „Verräter“ des Landes. Zu „Armeniern“ – bis heute ein türkisches Schimpfwort für Verräter, mit dem der Völkermord gegen das christliche Volk in der jungtürkischen Phase 1915 legitimiert werden soll – erklärte die Propaganda einmal mehr insbesondere die einer liberalen Richtung des Islam anhängenden, kurdischen Aleviten, welche allerdings nicht mit den schiitischen Alawiten des syrischen Diktators Assad verwechselt werden dürfen.

Mit Vorsatz in den Bürgerkrieg

Die türkische Armee trug den von Erdogan verursachten Kampf im Eiltempo in den kurdischen Osten und ließ insbesondere Städte, die bei den Wahlen mit über 90 Prozent für die HDP gestimmt hatten, unter Ausnahmezustand stellen. Gleichzeitig reagierte die PKK mit Vergeltungsschlägen auf die gegen sie im Irak geführten Angriffe, bei denen junge türkische Soldaten, die sich mangels Geld nicht vom Wehrdienst freikaufen können, zu Opfern des türkischen Präsidenten wurden.

Demirtash, der von Erdogan und der AKP gezielt in die Nähe zum vorgeblichen PKK-Terrorismus gerückt wird, bemüht sich verzweifelt, den sich anbahnenden Bürgerkrieg zu verhindern und kämpft gleichzeitig nicht nur um sein nicht nur politisches Überleben, sondern mehr noch für den Bestand einer demokratischen Türkei.

Der verheerende Anschlag auf eine von der HDP organisierte Friedensdemonstration in Ankara am 10. Oktober mit offenbar über 100 Toten und bis zu 200 Verletzten kennzeichnet einen traurigen Höhepunkt des von Erdogan um seines Machterhalts willen vom Zaum gebrochenen Konflikts. Nach aktuellem Ermittlungsstand sollen die zum Einsatz gekommenen Bomben der von Suruc entsprechen. Erdogans amtierender Premierminister Ahmet Davutoglu verdächtigt wahlweise die kurdische PKK, den radikalsunnitschen IS oder linksextreme Terrorgruppen. Die Kurden sehen hier wie beim Anschlag von Suruc entweder AKP-nahe, türkisch-islamische Nationalisten oder auch die türkischen Geheimdienste selbst am Werk.

Wem nützt es?

Folgt man dem „cui bono“ – der Frage, wem diese Anschläge nützen, fällt der Blick zwangsläufig auf den Präsidenten. Denn alle Umfragen im Vorfeld der Neuwahlen sprechen dafür, dass die HDP weitere Zugewinne und die AKP deutliche Verluste hinnehmen muss. Deshalb zieht Erdogan alle Register der Ablenkung und Radikalisierung. Die Verteufelung der Kurden als Volksverräter soll nicht nur die türkisch-sunnitischen Kräfte hinter dem Präsidenten sammeln – sie dienen auch dem Ziel, notfalls vor einer weiteren verlorenen Wahl die Notbremse in Form einer durch den vorgeblichen kurdischen Terror veranlassten Notverordnung mit „vorübergehender“ Ermächtigung des Präsidenten zur totalitären Staatsführung durchsetzen zu können. Soll dieses einen demokratischen Anstrich haben, muss das Parlament zustimmen – und dazu die HDP rechtzeitig verboten werden. Das wiederum kann Erdogan nur dann begründen, wenn er die HDP als „zivilen“ Arm der PKK diffamiert – woran er mit Hochdruck arbeitet. Erdogans AKP muss die HDP offiziell als staatsgefährdende Organisation verbieten können – und er wird dafür einen neuen Bürgerkrieg in der Türkei ebenso riskieren wie den abschließenden Zusammenbruch der Tourismusbranche mit der umgehenden Implosion des türkischen Wirtschaftswunders.

Demirtash lebt derzeit auf des Messers Schneide, denn jeden Tag kann es geschehen, dass ihn die AKP-Sicherheitskräfte unter einem fadenscheinigen Vorwurf im Verlies verschwinden lassen oder ein fanatisierter Nationalist aus eigenem Antrieb oder im Auftrag interessierter Kreise den jungen Charismatiker ermordet. Stirbt Demirtash, stirbt die türkische Demokratie ebenso wie sie stirbt, wenn Erdogan im November allen Voraussagen zum Trotz eine absolute Mehrheit seiner AKP präsentieren sollte.

Das besonders Traurige an dieser Situation: Die NATO-Demokratien wissen um die Situation und stützen Erdogan dennoch im vermeintlichen Kampf gegen den IS, den Erdogan zu keinem Zeitpunkt geführt hat, als Bollwerk gegen Russlands Imperator Putin, der gegenwärtig vor der südlichen Haustür der Türkei sein eigenes Protektorat einrichtet und damit die NATO in die Zange nimmt.

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