Der „bescheuerte“ Wahlkreis Nr. 229 Passau

Am 1. April erfuhren die verdutzten Bürger von Passau, sie würden ihrer Erststimme beraubt. Denn ihr Wahlkreis werde bis zum Ende der Legislaturperiode unbesetzt bleiben. Überall auf der Welt wird ein leerstehender Wahlkreis durch Nachwahl neu besetzt, nur in Passau nicht?

IMAGO / Bernd Elmenthaler
Andreas Scheuer (CSU), Berlin, 07.09.2023

Just am 1. April machte die Nachricht die Runde, Andreas Scheuer (CSU) habe genau zu diesem Datum sein Mandat im Deutschen Bundestag niedergelegt. Er war bei der Bundestagswahl v. 26. September 2021 im Wahlkreis Nr. 229/Passau mit 30,7 % der Erststimmen direkt in den Bundestag gewählt worden, kein „rosiges“ Wahlergebnis. Damit nicht genug, erfuhren die verdutzten Bürger von Passau, sie würden ihrer Erststimme beraubt. Denn ihr Wahlkreis werde bis zum Ende der Legislaturperiode unbesetzt bleiben. Überall auf der Welt wird ein leerstehender Wahlkreis durch Nachwahl neu besetzt, nur in Passau nicht?

„Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung gebunden.“ Aus dieser Vorschrift im Grundgesetz leitet sich das staatliche Willkürverbot ab. Am 26. Dezember 2023 ist Wolfgang Schäuble verstorben. Er hatte bei der Bundestagswahl 2021 im Wahlkreis Nr. 284/Offenburg das Direktmandat errungen. Dieser Stimmkreis liegt in Baden-Württemberg. Für Schäuble rückte der Listen-Anwärter aus Baden-Württemberg, Stefan Kaufmann, nach, der noch nicht zum Zuge kam. Vier Monate später ist am 1. April 2024 Andreas Scheuer aus dem Bundestag ausgeschieden. Scheuer hatte das Direktmandat im Wahlkreis Nr. 229/Passau bekleidet. Der Stimmkreis liegt in Bayern. Für Schäuble rückte Kaufmann nach. Für Scheuer rückt jedoch niemand nach. Viel willkürlicher kann man es nicht machen.

Gleiches darf grundsätzlich nicht ungleich behandelt werden. „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.“ Auch das steht so im Grundgesetz. Außerdem wird in der Verfassung eigens betont: „Die Abgeordneten … werden in … gleicher Wahl … gewählt.“ Die Wähler im Stimmkreis 284/Offenburg werden anders behandelt als die Wähler im Stimmkreis 229/Passau, das kann niemand übersehen. Und wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt. Die Wahlprüfungs-Beschwerde nach Art. 41 Grundgesetz folgt den Leerstand in Passau daher auf dem Fuße.

Die Wähler aus Passau haben ja keinen Anspruch auf einen leeren Wahlkreis. Im Gegenteil, haben sie sogar ein Grundrecht darauf, einen Mitbürger aus ihrem Heimat-Stimmkreis, Passau in den Deutschen Bundestag zu wählen, und das kann ihnen niemand wegnehmen. Schon im geltenden Bundeswahlgesetz heißt es gleich am Anfang: „Von den Abgeordneten werden 299 … in den Wahlkreisen … gewählt“. Weiter heißt es im einfachen Gesetz: „Jeder Wähler hat … eine Erststimme für die Wahl eines Wahlkreisabgeordneten …“. Beide Vorschriften werden schwer verletzt: Denn in Passau fehlt eines der 299 Direktmandate. Und die Wähler in Passau werden an der Ausübung der Erststimme gehindert.

Die Volksherrschaft ist der Kern der Demokratie. Die Urheber der Verfassung haben 1949 in das Grundgesetz geschrieben: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus und wird vom Volke in Wahlen … ausgeübt.“ Wer in den Bundestag einzieht, das entscheidet allein das Volk, und zwar in den Wahlkabinen, auf amtlichen Stimmzetteln. Das Volk stimmt ohne Ausnahme über alle Männer und Frauen ab, die es bei der parlamentarischen Willensfindung im Bundestag vertreten sollen. Die Wähler in Passau werden jedoch an der Ausübung der Staatsgewalt durch Abstimmung über den Abgeordneten ihrer freien Wahl gehindert. Sie können den Leerstand nicht durch eine zügige Nachwahl im Stimmkreis 229/Passau beenden. Der direkt gewählte Volksvertreter, der den Stimmbürgern in Passau zusteht, der fehlt. Ganz Passau bleibt für den Rest der Legislaturperiode von der Ausübung der Erststimme ausgesperrt. Das Grundgesetz bleibt auf der Strecke.

Der Freistaat Bayern hat ohne Wenn und Aber Anspruch auf 46 der insgesamt 299 Direktmandate. Denn „Deutschland ist ein … Bundesstaat.“ Die sehr verschiedenen Bundesländer nehmen im Verhältnis ihrer Bevölkerungsanteile an der Besetzung des gemeinsamen Parlaments teil. Dem kleinen Saarland stehen demnach vier Direktmandate zu. Aus Bayern kommen 46 und aus NRW 64 direkt gewählte Volksvertreter. Usw. Wenn jetzt in Bayern der Stimmkreis 229/Passau unbesetzt bleibt, verschiebt sich der Länderproporz bei den Direktmandaten im Bundestag. In Berlin ist bei der Wahlwiederholung am Faschings-Sonntag, den 11. Februar 2024, bereits ein Mandat verschwunden. Am 1. April 2024 hat Bayern einen Sitz im Bundestag verloren. In beiden Fällen wird der Länderproporz verletzt, der mit der Bundesstaatlichkeit untrennbar verbunden ist.

Nirgendwo im Grundgesetz findet sich eine Vorschrift, dass Wahlkreise nicht nachbesetzt werden dürfen. Ein dauerhafter Leerstand ist eine besonders bescheuerte Rechtsidee. Das Schöne an der Demokratie ist, dass niemand weiß, wer die Nachwahl gewinnt. Das weiß auch in Passau niemand, selbst die CSU weiß das nicht. Aber sie weiß irgendwie schon, dass sie im Bundestag einen Sitz verloren hat. Doch weiß sie das wirklich?

Der am 1. April 2024 im Wahlkreis 229/Passau entstandene Leerstand ist unverzüglich durch Nachwahl bei den Erststimmen zu beenden. Das ergibt sich aus den Grundrechten der Volkssouveränität, der Bundesstaatlichkeit, des Willkürverbots und folgt außerdem aus dem Grundsatz der gleichen Wahl. Alles verbindliche Rechtsnormen, die im Grundgesetz fest verankert sind. Eines müssen alle Passauer wissen: Die Nachwahl fliegt ihnen nicht wie eine „gebratene Taube“ in den Mund. – Wo kein Kläger, da kein Richter.


*) Der Autor lebt in München und hat als freier Publizist und Blogger in namhaften Fachzeitschriften zahlreiche Beiträge und mehrere Bücher zum Wahlrecht veröffentlicht. Zu den Fundstellen vgl.: https://www.manfredhettlage.de/kleine-beitraege-zum-wahlrecht-seit-11-2017/; zur Vita des Autors vgl. https://www.manfredhettlage.de/about/ .

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Kommentare ( 34 )

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Marco Mahlmann
7 Monate her

Endlich mal ein Artikel von Herrn Hettlage, dem man zustimmen kann. In der Tat muß der Wahlkreis im Bundestag vertreten sein, und wenn der bisherige Mandatsträger ausscheidet, kann die Folge nur eine Neuwahl sein.

Berlindiesel
7 Monate her

In der Tat ist es erstaunlich, dass die CSU den Sitz nicht nachbesetzt. Bis zum regulären Ende der laufenden Legislaturperiode im September 2025 sind es noch 18 Monate, das bedeutet eine Diätenzahlung von 180.000 € – selbst wenn es danach nicht für eine Pension reicht, dazu muss man eine volle Legislaturperiode durchgestanden haben. Vermutlich eine parteiinterne Intrige der CSU. Leider scheint niemand auch aus der alterativen Presse recherchieren zu wollen, was den plötzlichen Angang Scheuers verursacht hat. Wird gegen Scheuer ermittelt, hat er potente Feinde in der OK, eine 19jährige neue Gespielin, ist er überhaupt noch in Deutschland oder schon… Mehr

Michael W.
7 Monate her

Nein.
Nur die Hälfte der Abgeordneten wird gemäß Art. 38 GG gewählt. Die andere Hälfte bzw. noch viel mehr (Ausgleichsmandate) werden über Listen eingesetzt. Über die Zusammensetzung der Listen entscheidet nicht der Bürger, sondern eine Partei.

Art 38 (1) Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt. Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.

Listenwahlen sind nur mittelbar, somit also grundgesetzwidrig.

Michael Palusch
7 Monate her

Für Andreas Scheuer scheint nun der Tag gekommen, nachdem er 22 Jahre als BT-Abgeordneter und Minister dem Steuerzahler auf der Tasche lag, seine in der Politik gesammelten „wertvollen Erfahrungen“ zu vergolden. Sorgen muss man sich vorerst keine machen, denn schließlich kassiert Andreas Scheuer für max. 18 Monate das sogenannte Übergangsgeld in Höhe von ~10.600€.

Last edited 7 Monate her by Michael Palusch
Waehler 21
7 Monate her

Der „ Andi“ macht das was man ihm sagt, aber nicht das, was der Wähler will.
Von daher kein Verlust. Er war nur teuer.

andreas
7 Monate her

Richtig lustig würde es erst, wenn bei der nächsten Bundestagswahl die CSU unter fünf Prozent fiele und alle ihre Direktmandate verlieren dürfte.

Voltaire
7 Monate her

Sehr schlecht formulierter Beitrag, den zu lesen qualvoll ist. Der Autor mag zwar in der Sache Recht haben, ich hätte mir aber eine deutlich flüssiger formulierte Darstellung der Situation und vor allem ihrer Hintergründe gewünscht, statt ständiger, hölzern formulierter Hinweise auf das Wahlrecht.

Niklot
7 Monate her

Selbst wenn jemand klagt, wird das BVerfG bestenfalls in drei Jahren erklären, dass jemand nachrücken hätte müssen. Zugunsten einer Nachwahl gar würde das BVerfG niemals entscheiden, da es das noch niemals entschieden hat und es könnte ja den Souverän stärken und die Macht der Parteien schwächen und das wird sicher nicht entschieden.

Last edited 7 Monate her by Niklot
A-Tom
7 Monate her

Das sogenannte Bürgerliche ist in Dt. auch immer das Dumme und Lächerliche.
Und schaut man sich das Wahlergebnis im beschriebenen Wahlkreis an, ist es vermutl. auch richtig so, dass Wählers Stimme nicht mehr beachtet wird.

mileiisteinanderernamefuermeloni
7 Monate her

Ob einer nachrückt oder nicht ändert gar nichts für die „Wähler“. Wird höchstens billiger wenn der Platz unbesetzt bleibt. Wer den Scheuer gewählt hat sollte sowieso nicht nochmal wählen dürfen. Ist schon gut so. Warum der Autor sich aufregt erschließt sich mir nicht. Als ob Wahlen irgendwas ändern oder irgendwas bewirken würden. Traumtänzerei daran zu glauben.