"Derzeit wächst die Zahl der Einsätze in internationalen Krisen wieder sprunghaft. NATO-Missionen im Irak und in Libyen sind in der Diskussion. Der beabsichtigte schrittweise Abzug aus Afghanistan wird überdacht. Und wer will ernsthaft ausschließen, dass es über kurz oder lang doch zum Einsatz von westlichen Bodentruppen im Kampf gegen den IS kommen wird?"
Holger Douglas sprach mit Ralph Thiele, Oberst a.D., Vorsitzender Politisch-Militärische Gesellschaft und Geschäftsführer StratByrd Consulting
Holger Douglas: Alarmstufe Rot am Bosporus. Zwischen Rußland und der Türkei herrscht Eiszeit. Wie kalt ist die?
Ralph Thiele: Hier treffen zwei versierte Pokerspieler aufeinander, die es auf ihre Weise jeweils ernst meinen und dennoch wissen, dass sie einander brauchen. Im Grunde erleben wir einen „Ball verkehrt“. Die Türkei macht, womit wir eher bei Russland rechnen. Sie holt kaltblütig und mit Bedacht das Flugzeug eines engen Wirtschaftspartners vom Himmel. Demgegenüber macht Putin, was wir uns eher vom westlichen Bündnis und von der EU erhoffen: Er engagiert sich ernsthaft in Syrien. Und er spricht Klartext über das unsägliche Verhalten der Türkei – die kommerzielle Unterstützung des IS.
Wohin wird das führen? Der Westen wird – nach ein paar rhetorischen Nebelkerzen – der Türkei und Russland vergeben, denn Europa sieht in der Flüchtlingskrise die entscheidende Bedrohung und braucht die Türkei zur Linderung des Flüchtlingsdruckes. Die Türkei braucht den Westen und Russland für die eigene Prosperität. Russland braucht den Westen und die Türkei als ökonomische Partner. Der Westen braucht Russland als Partner für das internationale Krisenmanagement. Genug Gründe, dass sich über kurz oder lang alle im selben Boot wiederfinden und gemeinsam mit arabischen Akteuren dem IS-Spuk ein Ende bereiten.
Holger Douglas: Was hat der militärische Einsatz Russlands in Syrien bisher tatsächlich bewirkt?
Ralph Thiele: Er hat Russlands internationale Rolle gestärkt und den IS sowie andere Rebellengruppen geschwächt. Er hat Assad eine Atempause verschafft und den syrischen Truppen eine Zukunftsperspektive gegeben. Diese Perspektive brauchen die syrischen Streitkräfte, die syrische Bevölkerung und selbst die syrische Opposition, denn irgendjemand muss sich künftig nach der Zerschlagung des IS mit dessen Nachlass auseinandersetzen. Jeder weiß inzwischen, dass nur schlagkräftige Bodentruppen Syrien und den Irak IS-frei halten können. Diese Truppen sollten in der Mehrzahl aus den betroffenen Ländern stammen, gegebenenfalls verstärkt aus einer Koalition arabischer Staaten.
Die russischen Kampfflugzeuge in Syrien fliegen täglich im Schnitt rund 50 Luftangriffe, davon in den Provinzen Hama, Homs, Aleppo und Rakka zuletzt bis zu 40 Luftangriffe zur Unterstützung der Freien Syrischen Armee (FSA) und machen den Terroristen zunehmend das Leben schwer. Ziele sind insbesondere Tanklastwagen, aber auch Kämpfer, Waffen und Waffensysteme sowie zugehörige Infrastruktur.
Längst stellt sich die Frage nach einer Kooperation Russlands mit den westlichen in Syrien engagierten Ländern. Ähnlich wie zuvor bei der Bekämpfung der somalischen Piraten sollte es uns möglich sein, auch mit ungewohnten internationalen Partnern wirkungsvoll zusammenzuarbeiten. Ein gemeinsames Vorgehen von NATO, Russland und arabischen Staaten wäre ein bedeutendes Hoffnungszeichen für die Krisen geschüttelte Region. Gelingt uns dies nicht, droht ein langer und blutiger Stellvertreterkrieg – Vietnam lässt grüßen. Kluge Politik sollte alle Beteiligten davor bewahren.
Holger Douglas: Alarmstufe Rot herrscht auch in den Wirtschaftsbeziehungen zwischen Deutschland und Russland. Der deutsche Maschinenbau exportierte aufgrund der Sanktionen ein Drittel weniger Maschinen nach Russland. Sollten die Sanktionen 2016 weitergeführt werden, droht dem Maschinenbau ein GAU. Was haben auf der anderen Seite die Sanktionen der westlichen Länder bisher in Russland bewirkt?
Ralph Thiele: Die Sanktionen treffen Russland und die russische Wirtschaft hart. Dienstleistungs- und Warenströme suchen neue Wege und Märkte. Die Oligarchen müssen Milliardenverluste verkraften. Vor allem die Banken leiden unter der Rubelkrise – viele wackeln.
Russland sieht sich aufgrund der Sanktionen großen wirtschaftlichen Problemen gegenüber. Die restriktiven Maßnahmen engen den Spielraum der russischen Unternehmen für die Beschaffung von Hochtechnologien und die Finanzierung von Investitionen ein. Betroffen sind Rüstungsgüter, Dual-Use-Güter, die Erdölförderung und auch staatliche Banken. Kredite für Importe sind nicht nur knapp, sondern auch teuer.
Der Trend geht zur Substitution von EU-Importen durch eigene Produktion oder Einfuhren aus Ländern, die keine Sanktionen gegen Russland beschlossen haben.
Die Folgen treffen längst auch die Menschen, auch wenn viele noch trotzig ihr bisheriges Leben fortführen. Auf Dauer wird dem Kreml nichts anderes übrig bleiben, als Steuern anzuheben, um die Krise abzufedern. Preise werden steigen. Dies wird die sozialen Spannungen in Russland verschärfen. Der bröckelnde Tourismus signalisiert die neue Lage. Viel weniger russische Bürger als bisher konnten sich in den vergangenen beiden Jahren in Auslandsurlauben ein persönliches Bild von den freiheitlich westlichen Demokratien machen.
Holger Douglas: Was, vermuten Sie, treibt Putin an? Häufig verdecken Politiker mit außenpolitischen Kraftmeiereien innen– und wirtschaftspolitische Schwierigkeiten. Denken Sie, dass es hier auch so ist?
Ralph Thiele: Eher nicht. Vor der Ukrainekrise war Russland auf Wertschöpfungs- und Diversifizierungskurs. Man wollte mit erheblichen Investitionen und in enger Zusammenarbeit mit westlichen Partnern die eigene schwache wirtschaftliche Leistungsfähigkeit auf ein belastbareres Fundament stellen. Dabei war Russland ein eigenwilliger, schwieriger, bedeutungshungriger, aber zugleich zunehmend kooperativer Partner des Westens.
Außen- und sicherheitspolitisch sah Russland in den vergangenen zwei Jahrzehnten seine strategischen Risiken vor allem im Süden und nicht im Westen. Im Zuge der ukrainischen Krise hat sich diese Wahrnehmung radikal verändert. Strategische Bedrohung aus dem Westen erscheint Russland wieder möglich. Im Grunde unterstellt man den USA Regime-Change Absichten mit zumindest fahrlässiger Beihilfe der Europäischen Union. Das ist auch die Hauptquelle des Vertrauensverlustes.
Putin beobachtet schon seit Jahren misstrauisch eine zunehmend ungenierte westliche Attitüde, unter dem Deckmantel von Menschenrechten das Recht des Stärkeren zu Lasten der Stärke des Rechts den Vorzug zu geben. Beispiele hierfür sind aus seiner Sicht der Kosovo und die Anerkennung dessen völkerrechtlich umstrittener Unabhängigkeitserklärung, der Einmarsch in den Irak und Afghanistan, die ungenierte Unterstützung des „Arabischen Frühlings“, die Drohneneinsätze der USA unter Verletzung fundamentaler Souveränitätsrechte anderer Staaten etc.
Auch der Regimewechsel in der Ukraine wurde aus russischer Sicht massiv vom Westen unterstützt und hat ein fragiles Gleichgewicht innerhalb des Staates zerstört mit massiven negativen Folgen. Für Putin war es der entscheidende Schritt über die rote Linie. Als Janukowitsch im Februar 2014 vor dem Druck einer aufgeputschten Bevölkerung nach Russland floh, entstand eine neue Regierung in Kiew, die im Kern pro-westlich und anti-russisch war. Auch wenn das volle Ausmaß der US-Beteiligung an diesen Vorgängen noch unklar ist, steht wohl fest: Washington hat den Putsch unterstützt. Es gab und gibt erhebliches U.S.-Engagement zur Förderung von Demokratie und westlichen Werten in der Ukraine – darunter Geld für Demonstranten, private Sicherheitskräfte in Kiew, erhebliche NGO-Finanzierung zur Förderung der Westbindung der Ukraine bis hin zu intensivem geheimdienstlichen Engagement.
Vor diesem Hintergrund hat sich für Putin das bisherige Modell der Beziehungen Russlands zum Westen erschöpft, das sich seit Gorbatschow von dem Grundsatz leiten ließ, dass ein konstruktives Verhältnis zum Westen – trotz aller Differenzen in Teilfragen – ein Wert an sich und unentbehrlich für Russlands Sicherheit ist. Angesichts der Bedeutung der Krim für die russische Nahrungsmittelversorgung, der politisch-strategischen Bedeutung der Ukraine für die Wirtschaft und – mehr noch – die nationale Sicherheit Russlands entwickelte sich die Krise zu einer Art Showdown, den Russland glaubt, gewinnen zu können. Für Putin ist jetzt Zeit der Abrechnung für das, was Russland aus seiner Sicht als ein Vierteljahrhundert der Respektlosigkeit, der Demütigung und des diplomatischen Mobbings wahrgenommen hat.
Vor diesem Hintergrund ist die Volksrepublik China eine strategische Alternative zum Westen. „Heute ist China unser strategischer Schlüsselpartner“, betont Russlands Präsident Wladimir Putin in letzter Zeit recht häufig. Er trifft sich in hoher Frequenz mit der politischen Führung Chinas. Es gibt viele Gemeinschaftsprojekte im Transport-, Energie- und Militärsektor. Deutsche Unternehmen spüren den wachsenden Druck und bringen sich deshalb bei chinesischen Investments als Zulieferer in Stellung.
Holger Douglas: Wie stark ist Putin wirklich?
Ralph Thiele: Er ist militärisch bedeutend stärker als wirtschaftlich und pflegt diese Stärke, denn sie nützt ihm innen- und außenpolitisch. Sie bringt ihm in Russland Wertschätzung und Rückhalt, im Ausland zunehmend Beachtung und auch Achtung.
Was er militärisch kann, hat er in der jüngeren Vergangenheit gezeigt. Russische Langstreckenbomber an den Grenzen des NATO-Luftraums verursachen Alarmstarts von NATO-Abfangjägern. Russische U-Boote in NATO-Gewässern lösen aufwendige Suchoperationen aus. Die NATO erfährt in der Ukraine-Krise, dass sie ihre Souveränität im Luftraum, im Seeraum oder auch im Cyberraum nicht effektiv schützen kann. Als Reaktion auf die geplante ballistische Raketenabwehr der NATO entlang Russlands Grenze wird Russland Nuklearraketen in den Dienst stellen, die diesen Schirm durchbrechen können.
Noch bis 2020 läuft ein 300 Milliarden US$ Modernisierungsprogramm der russischen Streitkräfte, während die Schwindsucht der militärischen Fähigkeiten des transatlantischen Bündnisses anhält – auch die USA fahren ihre Militärausgaben, wenngleich auf hohem Niveau, um knapp ein Viertel zurück –, und relevante europäische militärische Fähigkeiten weiterhin nicht in Sicht sind.
Putin will ernst genommen werden. Deshalb wird er die russischen Streitkräfte trotz der sich verschärfenden Wirtschaftskrise wie geplant modernisieren. Der Spott von US-Präsident Barack Obama über Russland als Regionalmacht hat ihn verletzt.
Holger Douglas: Offenkundig ist der enorme Vertrauensverlust zwischen Russland und dem Westen. Wie konnte es so weit kommen?
Ralph Thiele: Der Vertrauensverlust hat einen langen Vorlauf mit drei Schlüsselerfahrungen auf russischer Seite:
- NATO-Mitgliedschaft der osteuropäischen Länder
Für Russland liegt die Wurzel des Übels in der NATO Erweiterung. Seit Mitte der 1990er Jahre hat sich die russische Führung strikt gegen die NATO-Erweiterung ausgesprochen. Insbesondere in den letzten Jahren hat Russland deutlich gemacht, dass es nicht einfach zusieht, wenn seine strategisch wichtigen Nachbarn in eine westliche Bastion umgestaltet werden sollen. Als auf dem NATO-Gipfel 2008 in Bukarest erstmals der mögliche Beitritt von Georgien und der Ukraine thematisiert wurde, unterstützte George W. Bush deren Beitrittswunsch, während Frankreich und Deutschland besorgt waren, damit Russland nachhaltig zu verärgern. Die NATO-Staaten einigten sich damals auf einen Kompromiss: Die Allianz begann nicht den formalen Prozess, der zur Mitgliedschaft führt, aber begrüßten in einer Erklärung die Bestrebungen Georgiens und der Ukraine. Alexander Grushko, der damalige stellvertretende Außenminister Russlands, kommentierte lakonisch, „dass die Mitgliedschaft Georgiens und der Ukraine in der Allianz ein großer strategischer Fehler wäre, mit schwersten Folgen für die gesamteuropäische Sicherheit“.
- Entwicklungen im Nahen und Mittleren Osten
Das Engagement des Westens führte wiederholt zu blutigen Bürgerkriegen. Aus russischer Sicht gab es hier eine Serie von Völkerrechtsverletzungen seitens des Westens begleitet von einer indirekten Begleitung der aktiv angestrebten, gewaltsamen Regierungswechsel durch sogenanntes „Social Engineering“ – die Einbindung von NGOs zur Förderung unzufriedener sozialer Gruppen. Genau diese „modernen Formen der Aggression gegen Russland“ wirft Moskau derzeit dem Westen vor.
- Entscheidung der NATO, ein System ballistischer Raketenabwehr in Osteuropa zu stationieren.
Russland hat dem Westen nie das Argument abgenommen, das sei nicht gegen Russland gerichtet, sondern eine Reaktion auf die Bestrebungen des Irans, Atommacht zu werden. Für Russland war diese Entscheidung ein eindeutig feindseliger Akt gegen das russische strategische Dispositiv.
Im Grunde hat der Westen Schritt für Schritt Sensitivität, Fachwissen und auch Respekt gegenüber Russland und dessen strategischen Interessen verloren. Früher gab es beispielsweise Heerscharen von sogenannten Sowjetologen, die sich mit allen denkbaren Aspekten russischer Planungen, Fähigkeiten und Befindlichkeiten im Detail auskannten.
Mit dem Fall der Mauer konnten sie sich neue Jobs suchen. Heute fehlt deren Expertise. Die gegenwärtige Absenz von Vertrauen reflektiert schlechte Erfahrungen miteinander.
Die Absenz von direkten Drähten – wie beispielsweise Egon Bahr für lange Jahrzehnte als Mittelsmann der SPD für kritische Ost-West-Themen – offenbart Ignoranz, fehlendes Urteilsvermögen und mangelnden Respekt. Hier brauchen wir dringend wieder die Fähigkeit, wie es Hans-Dietrich Genscher kürzlich so treffend formulierte, sich in die „Schuhe des anderen“ zu stellen.
Holger Douglas: Vor allem in den baltischen Ländern blickt man mit größer werdender Furcht auf Russland. Dort ist die Erinnerung an die Zeiten des Ostblocks noch hellwach. Und die russische Armee hat direkt vor ihrer Haustür einen neuen hybriden Krieg geübt. Verstehen Sie die Sorgen der Balten? Sehen Sie eine Kriegsgefahr?
Ralph Thiele: Strategie zielt auf die Durchsetzung eigener Ziele und Zwecke auch gegen Widerstände. Diesen Weg geht Russland ganz offensichtlich mit Blick auf die Ukraine. Russland hat bisher die Initiative, täuscht und droht und zwingt den Westen zur Reaktion. Die Welt erlebt, wie dosierte und verdeckte militärische Aggression von Diplomatie, Informationskriegsführung, Propaganda, humanitären Aktionen, Cyberwar, Geheimdienstoperationen, Wirtschaftsinitiativen und innenpolitischen Repressionen abgeschirmt und begleitet wird.
Der damals frisch bestellte russische Generalstabschef Walerij Gerassimow hat Ende Januar 2013 in seiner Rede vor der Jahresversammlung der Russischen Akademie für Militärwissenschaft seine Vorstellungen moderner russischer Operationen öffentlich beschrieben. Er erläuterte, dass sich die Grenzen zwischen Krieg und Frieden auflösen. Kriege würden nicht mehr erklärt, und sie verliefen nach einem „ungewohnten Muster“. Ein prosperierender Staat könne – als Opfer einer ausländischen Intervention – in kurzer Zeit in einen Schauplatz erbitterter bewaffneter Auseinandersetzungen verwandelt werden mit Ausprägungen wie Chaos, humanitären Notlagen und Bürgerkrieg inklusive. Grundlage seiner Überlegungen war eine sorgfältige Analyse der „Farbenrevolutionen“ in Nordafrika und im Nahen Osten. Er forderte seine Zuhörer auf, von Siegern (er meinte die westlichen Staaten) das Siegen zu lernen.
Politische Ziele seien nicht mehr in erster Linie mit konventioneller Feuerkraft zu erreichen, sondern durch den – so Gerassimow wörtlich – „breit gestreuten Einsatz von Desinformationen, von politischen, ökonomischen, humanitären und anderen nichtmilitärischen Maßnahmen, die in Verbindung mit dem Protestpotential der Bevölkerung zum Einsatz kommen“.
Der russische Begriff dafür ist „nichtlineare Kriegsführung“. Militärische Maßnahmen seien zwar erforderlich, sagte der Generalstabschef weiter, aber sie müssten einen „verdeckten Charakter“ haben: Dazu gehörten Angriffe auf Informationssysteme und der Einsatz von Spezialtruppen. „Der offene Einsatz von Truppen – oftmals unter dem Deckmantel von Friedenserhaltung und Krisenbewältigung – kommt erst zu einem späten Zeitpunkt in Betracht, vor allem, um in einem Konflikt endgültig zu gewinnen“, so Gerassimow. Entscheidend dafür seien „Geschwindigkeit, schnelle Bewegungen, der kluge Einsatz von Fallschirmjägern und das Einkreisen feindlicher Kräfte“.
Das von ihm umrissene Einsatzkonzept wurde von den russischen Streitkräften im September 2013 tatsächlich geübt. Die Übung ZAPAD in Kaliningrad sowie an der russischen Westgrenze zum Baltikum und in Weißrussland diente als praktische Vorbereitung. Offiziell wurde die gemeinsame Verteidigung russischer und weißrussischer Einheiten gegen einen Angriff „illegaler bewaffneter Gruppen“ auf Weißrussland geübt.
Tatsächlich war es eine Art Generalprobe für den späteren Einsatz auf der Krim und im Osten der Ukraine. Zum Teil handelte es sich sogar um dieselben Bataillone. Offiziell wurde von beiden Staaten nur 12.900 Soldaten für die Übung angemeldet, da dies unterhalb der Schwelle liegt, jenseits der westliche Beobachter hätten zugelassen werden müssen. Nach Schätzung der NATO waren tatsächlich jedoch rund 70.000 Soldaten eingebunden.
Die Übung hatte übrigens eine zweite beunruhigende Botschaft: Der Gegenschlag der Verteidiger zielte auf die Eroberung des gesamten Baltikums. Die Balten haben also tatsächlich Grund zur Sorge.
Holger Douglas: Die „graue Eminenz der amerikanischen Außenpolitik“, Zbigniew Brzezinski, kommt in seinem Buch „Das große Schachbrett“ von 1997 zu dem Schluß, dass das erste Ziel amerikanischer Außenpolitik darin bestehen muss, „dass kein Staat oder keine Gruppe von Staaten die Fähigkeit erlangt, die Vereinigten Staaten aus Eurasien zu vertreiben oder auch nur deren Schiedsrichterrolle entscheidend zu beeinträchtigen“. (S. 283) Es gelte, „die Gefahr eines plötzlichen Aufstiegs einer neuen Macht erfolgreich“ hinauszuschieben. (S. 304) Die USA verfolgen das Ziel, „die beherrschende Stellung Amerikas für noch mindestens eine Generation und vorzugsweise länger zu bewahren“. Sie müssen „das Emporkommen eines Rivalen um die Macht (…) vereiteln“. (S. 306) Wie schätzen Sie seine Ansicht ein?
Ralph Thiele: Brzezinski’s Ansatz ist bis heute zutreffend. Allerdings haben weder der U.S. Präsident noch die anderen westlichen Staats- und Regierungschefs das Schachbrett im Griff. Nicht zuletzt deshalb gerät die „Welt aus den Fugen“, wie es Außenminister Frank-Walter Steinmeier konstatiert hat.
Die USA spielen auf dem „großen Schachbrett“ – machtvoll und zuweilen unkoordiniert mit einer Präferenz für die militärische und wirtschaftliche Ebene. Die europäischen Demokratien spielen überwiegend auf dem wirtschaftlichen Brett und verpassen dabei allerdings wesentliche Anteile des Spiels auf den anderen Brettern. Diktatorische Regime wie China und Russland, sicherlich auch Nordkorea oder der Iran, nutzen sehr koordiniert – glücklicherweise noch nicht sehr wirkungsvoll – die gesamte Palette ihrer Möglichkeiten auf den verfügbaren Brettern.
Holger Douglas: In der amerikanischen Gesellschaft gibt es einen immer größeren Unwillen, Weltpolizist zu spielen. Stimmen also heute noch Brzezinskis Einschätzungen?
Ralph Thiele: Was die USA wollen, sagt der U.S. Präsident alljährlich in seiner „State of the Union Address“: „Meine vornehmste Pflicht als Oberkommandierender der amerikanischen Streitkräfte ist es, die Vereinigten Staaten von Amerika zu verteidigen. In diesem Zusammenhang lautet Frage nicht, ob Amerika die Welt führt, sondern wie. … Wir führen am besten, wenn wir militärische Macht mit starker Diplomatie kombinieren, wenn wir unseren Einfluss und unsere Macht mit Bündnissen stärken, wenn wir uns nicht von Ängsten leiten lassen, sondern vielmehr von den Möglichkeiten, die uns das neue Jahrhundert bietet. Und genau das machen wir derzeit.“
Die USA verstehen sich als globale Macht, verpflichtet auf ihre Interessen sowie ihrer Führungsrolle in der westlichen Welt und darüber hinaus. Die US-Administration unter Präsident Obama setzt – wo immer möglich – auf die Stärken multilateraler Diplomatie und das Engagement in internationalen Organisationen, behält sich aber das Recht vor, gegebenenfalls allein zu handeln. Dementsprechend pflegen und entwickeln die USA ihre Partnerschaften zu Freunden und Verbündeten. Sie führen Bündnisse in der ganzen Welt.
Diese sind konstitutives Merkmal für die Fähigkeit der USA, weltweit wirksam zu agieren und globale Herausforderungen nachhaltig zu bewältigen, denn sie begegnen den Krisenherden in der Welt nicht nur mit eigenen Fähigkeiten, sondern darüber hinaus mit dem gesamten verfügbaren Instrumentarium aus partnerschaftlicher Kooperation.
Hauptträger der U.S.-Sicherheitspolitik sind deren Streitkräfte. Sie dienen sowohl der Abschreckung wie auch der Machtprojektion und Krisenintervention. Die USA verfügen über ein weltumspannendes Netz an Militärbasen in über 20 Ländern. Sie unterhalten darüber hinaus militärische Einrichtungen in über 130 Ländern sowie ein weltweites, dynamisch wachsendes Netz von militärischen Aufklärungseinrichtungen – vom Meeresboden bis in den Welt- und Cyberraum. Derzeit belasten erhebliche Bürden die Performance der U.S. Außen- und Sicherheitspolitik – der problematische Nachlass der militärischen Interventionen im Irak und in Afghanistan sowie Konsequenzen der Finanz-, Wirtschafts- und Schuldenkrise.
Allerdings: Die U.S.-Verschuldung hat inzwischen eine Dimension erreicht, welche die Handlungsfähigkeit der USA – nicht zuletzt durch strategische Abhängigkeit von ausländischen Gläubigern – beeinträchtigt.
Holger Douglas: Brzezinski beschreibt weiterhin, daß die Ukraine immer noch ein ›Schlüsselstaat‹ sei. Stimmt das denn heute noch? Das Land ist kaputt, die Produktionsanlagen sind weitgehend Schrott und die Landwirtschaft in diesem Jahr wohl kaum noch in der Lage, zum Beispiel Getreide zu exportieren und damit Devisen einzunehmen. Ein übriges tun die Kampfhandlungen im Osten.
Ralph Thiele: Die Ukraine ist ein Schlüsselstaat für die russische Sicherheit und Prosperität, weniger für die Sicherheit und Prosperität des Westens. Sie ist das einzige postsowjetische Land, das den Lebensstandard der Sowjetzeit nicht erreicht hat. Es ist zu einem der ärmsten europäischen Länder geworden. 20 Jahre erfolgloser Transformation haben in der Ukraine tiefe Spurrillen und Gegensätze hinterlassen.
In der Ukraine sind die bisherigen Regierungsmodelle gescheitert. Mit seiner Unabhängigkeit im Jahre 1991 erlangte die Ukraine ein schweres Erbe – Regionen mit völlig unterschiedlicher Geschichte, mit einer Fülle ungelöster ethnischer und religiöser, sozialer und wirtschaftlicher Konflikte. Halbherzige Reformen und weitverbreitete Korruption haben zu einem dysfunktionalen System geführt.
Die ukrainischen Administrationen haben bisher durchweg ihre Machtposition missbraucht, um für persönliche Vorteile Geld aus dem Land zu ziehen. Jede Regimewechsel wurde von großen Säuberungen bis hinunter auf die Ebene der Krankenhäuser und Mittelschulen begleitet. In einem Fall führte dies zu einem Punkt, an dem sich ein ganzes Dorf gegen seine korrupte Polizei erhob. Auch der Vorwurf der Existenz rechtsradikaler Kräfte in der Ukraine ist nicht aus der Luft gegriffen.
Für die Ukraine standen und stehen derzeit zwei große Gefahren vor der Tür:
• ein möglicher lang währender Bürgerkrieg;
• eine wirtschaftliche und humanitäre Katastrophe.
Beide Gefahren gehen über die Ukraine hinaus auch zu Lasten von Sicherheit und Prosperität in Russland und der Europäischen Union. Auch globale Auswirkungen sind zu befürchten. Denn der Westen verliert Russland als durchaus gewichtigen Partner im gemeinsamen Krisenmanagement bei regionalen und globalen Herausforderungen. In den meisten großen Krisen der letzten Jahrzehnte hat der Westen von der Kooperation Russlands profitiert.
Holger Douglas: Eine Technologie hat in den vergangenen Jahren politische und wirtschaftliche Gewichte entscheidend verschoben: das Fracking. Der Ölmarkt hat sich innerhalb kurzer Zeit dramatisch geändert. Die Vereinigten Staaten sind selbst ölexportierendes Land geworden und nicht mehr auf das Öl aus dem Mittleren Osten angewiesen, könnten also das Interesse verlieren, mit Milliarden Dollar ihre Militärpräsenz im Persischen Golf aufrechtzuerhalten und die freie Fahrt für Öltanker zu garantieren – zumal es wieder eine vorsichtige Annäherung an Teheran zu geben scheint. Im Augenblick allerdings gibt es einen gepflegten Krieg um den Ölpreis zwischen Saudi-Arabien und den USA. Beide unterbieten sich. Russland kann hier nicht mehr mithalten, ist aber dringend auf die Gelder aus dem Öl- und Gasverkauf angewiesen. Wie lange kann Russland noch mitmachen?
Ralph Thiele: Das „Center of Gravity“ des Systems Putin ist der Energieexport. Russland kann sich materiell allein auf Rohstoff- und Energieexport stützen. Putin braucht die Rohstofferlöse zur Unterstützung wichtiger Machteliten. Deswegen treffen ihn die derzeit niedrigen Energiepreise schwer. Angesichts einer ohnehin schwachen wirtschaftlichen Basis wird letztlich die Leidensfähigkeit des russischen Volkes Putins zeitlichen Spielraum bestimmen. Hier ist noch keine Belastungsgrenze in Sicht.
Holger Douglas: Wie beurteilen Sie die internationale Handlungsfähigkeit Deutschlands, dessen direkte Kontakte zu den Vereinigten Staaten und vor allem nach Russland? Sie scheint es nicht mehr so wie früher zu geben. Und einige vergleichen die Situation derzeit gar mit der unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg: Keiner will einen Krieg, doch relativ plötzlich ist eine relativ gefährliche Situation entstanden. Teilen Sie diese Einschätzung?
Ralph Thiele: Die Krise um die Unabhängigkeit der Ukraine traf die meisten westlichen Beobachter völlig unerwartet. Plötzlich ist die Rivalität zwischen Ost und West wieder da. Die wesentlichen Fortschritte zwischen Ost und West seit dem Fall des Eisernen Vorhangs in Bezug auf Frieden und Freiheit, Sicherheit und Prosperität sind unverhofft wieder in Gefahr.
Und es könnte noch schlimmer kommen. Die alten Mechanismen vertraulicher Kommunikation in Krisen gibt es nicht mehr – übrigens sind auch diesbezügliche Mechanismen mit den westlichen Partnern notleidend. In Richtung England hat sich eine (zu) stille Partnerschaft ausgeprägt. Der enge Schulterschluss mit Frankreich ist heute eher eine rhetorische Floskel. Die bewährte enge Bindung an die USA wurde so lange für selbstverständlich gehalten, bis man sich nur noch auf Konferenzen begegnet. Welche deutschen Politiker und Parlamentarier von Rang reisen regelmäßig in die USA und finden dort Gehör und vice versa?!
Von größter Bedeutung wird es sein, gegenseitiges Vertrauen wieder herzustellen. Dies ist der Kern einer besseren künftigen Entwicklung. Dabei spielt auch Vertrauen in die Wirksamkeit rechtsstaatlicher Prinzipien als ein Schlüsselelement der entstehenden neuen Weltordnung eine fundamentale Rolle, in der auch der Westen seine Performance verbessern kann und muss. Bewährte multilaterale Instrumente der Vertrauensbildung wie die OSZE und der NATO-Russland-Rat sollten für die friedliche Beilegung der Ukraine-Krise genutzt werden. Operative Herausforderungen wie Entflechtung, Überwachung einer Waffenruhe, Grenzüberwachung können aller Erfahrung nach nur gelöst werden, wenn es gelingt, einen allgemein akzeptierten multilateralen Verhandlungsrahmen zu schaffen.
Der bedeutende Historiker Herfried Münkler nannte unlängst den Ersten Weltkrieg ein „Kompendium falscher Entscheidungen“. Wir müssen sehr aufpassen, dass wir nicht ein weiteres Musterbeispiel für eine Serie falscher Entscheidungen liefern, die dann in einer Katastrophe münden. Noch ist es nicht zu spät. Insbesondere die deutsche Bundeskanzlerin und der deutsche Außenminister haben das Format, die Dinge zum Besseren zu wenden.
Holger Douglas: Die Bundeswehr scheint ihre letzten flugfähigen Geräte zusammen gekramt, die letzten Tropfen Sprit gesammelt zu haben und fliegt mit ganzen zwei Tornados nach Syrien. Auch wohl eher auf Druck von außen. Die Worte aus dem Verteidigungsministerium dazu klingt eher wie das Pfeifen im Walde. Was die Bundeswehr da soll, erschließt sich einem nicht so recht. Was soll der Einsatz?
Ralph Thiele: „Der König ist tot. Lang lebe der König“. Noch vor kurzem hieß es in Deutschland in Politik und Streitkräften: „nie wieder Afghanistan! Wir müssen uns viel stärker auf Verteidigungsoptionen in Osteuropa konzentrieren.“ So gerieten die Afghanistan-Erfahrungen in Verruf.
Derzeit wächst die Zahl der Einsätze in internationalen Krisen wieder sprunghaft. NATO-Missionen im Irak und in Libyen sind in der Diskussion. Der beabsichtigte schrittweise Abzug aus Afghanistan wird überdacht. Und wer will ernsthaft ausschließen, dass es über kurz oder lang doch zum Einsatz von westlichen Bodentruppen im Kampf gegen den IS kommen wird?
Ganz offensichtlich ist es genauso falsch, die Erfahrungen im internationalen Kriseneinsatz herunterzuspielen, wie es fahrlässig ist, die Verteidigungsfähigkeit der Bundeswehr insgesamt zu vernachlässigen.
Vor einem Jahr kam im Lichte einer schier unendlichen Mängelliste in der Ausrüstung der Bundeswehr in deutschen verteidigungs- und sicherheitspolitischen Kreisen die Forderung auf, sich „ehrlich zu machen“, Mängel klar zu benennen, um diese abstellen zu können.
Wie weit wir davon entfernt sind, zeigt die gegenwärtige Debatte um den Syrieneinsatz. Frei nach dem olympischen Motto „dabei sein ist alles“ kramen wir auf der Resterampe Ersatzteile zusammen, und schicken unsere Soldaten mit diesen in eine hässliche kriegerische Auseinandersetzung.
Wo materialisiert sich hier die Ernsthaftigkeit und das „Mehr“ an Verantwortung, das Bundespräsident, Außenminister und Verteidigungsministerin in der jüngeren Vergangenheit unisono propagiert haben?
In Zielsetzung, Engagement und materieller Ausstattung der deutschen Streitkräfte ist diese gewachsene Verantwortung nicht zu erkennen. Auch der derzeitige Ruf nach mehr Soldaten für die Bundeswehr wird dem nicht abhelfen, zumal der Sachkundige weiß, dass die Demografie keinen Spielraum für wachsende personelle Kapazitäten der Bundeswehr bereit hält.
Sie müssenangemeldet sein um einen Kommentar oder eine Antwort schreiben zu können
Bitte loggen Sie sich ein