Bei der Rentenversicherung drohen schon in der nächsten Legislaturperiode „schockartig steigende Finanzierungsprobleme“, so das aktuelle Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats des Bundeswirtschaftsministeriums. Die die rentenpolitischen Maßnahmen der letzten Jahre hätten „in eine Sackgasse geführt“.
Zentraler Kritikpunkt des Beirats ist, dass die Rentenreform der aktuellen Bundesregierung im Jahr 2018 den sogenannten Nachhaltigkeitsfaktor ausgehebelt hat. Dieser wurde 2005 eingeführt und dämpft den Rentenanstieg unter Berücksichtigung der demographischen Alterung. Ab 2025 sind daher entweder die Haltelinie von mindestens 48 Prozent für das Rentenniveau oder die maximal 20 Prozent für den Sozialversicherungsbeitrag der Erwerbstätigen nicht mehr zu halten. Andernfalls würde der Steuerzuschuss zur Rente, den „Bundeshaushalt sprengen“. Auch mit massiven Steuererhöhungen wäre die Rente nicht finanzierbar, so der Wirtschaftswissenschaftler und Beiratsvorsitzende Klaus M. Schmidt.
Das Gutachten ist ein Faktencheck, mit dem auf ungelöste und daher gerne verdrängte Probleme der Wohlstandssicherung hingewiesen wird. Dem Beirat gelingt es jedoch nicht, eine neue Perspektive zur Bewältigung der Rentenfinanzierung zu eröffnen. Denn er reduziert die Lösung des Rentenproblems – ebenso wie die vielen Kritiker des Gutachtens – auf eine reine Verteilungsfrage, also darauf, wer die zusätzlichen Lasten für die Versorgung von immer mehr Rentnern tragen soll und was deren eigener Verzichtsbeitrag sein könnte.
Die Rentenreformen der letzten Jahrzehnte erfolgten noch in einem Umfeld gesellschaftlichen Wohlstandszuwachses. Dieser Trend dürfte sich jedoch umkehren, was für einige Arbeitnehmergruppen bereits Realität ist. Denn seit Mitte der 1990er Jahre steigen die Reallöhne in Deutschland nur noch um durchschnittlich etwa 0,5 Prozent pro Jahr und Arbeitsproduktivitätssteigerungen – die Voraussetzung für steigende Reallöhne –, sind seit der Finanzkrise 2008 praktisch ausgeblieben. Bei weiter stagnierender Arbeitsproduktivität werden Reallohnsteigerungen für die Erwerbstätigen ausbleiben.
Gleichzeitig beschleunigt sich die demographische Alterung ab Mitte dieses Jahrzehnts. Dann stehen im Verhältnis weniger Erwerbstätige einer größeren Anzahl Rentenbezieher gegenüber. Durch die niedrige Geburtenrate und die weiter steigende Lebenserwartung steigt der Altersquotient, also das Verhältnis der Bevölkerung von über 65 Jahren zu den 20 bis 64-Jährigen, von derzeit etwa 36 Prozent auf voraussichtlich über 58 Prozent im Jahr 2060 an. Der steile Anstieg des Altersquotienten erfolgt jedoch nicht erst in ferner Zukunft, sondern schon bis 2035. Heute kommen noch etwa drei Erwerbstätige auf einen Rentner, dann werden zwei Erwerbstätige einen Rentner finanzieren müssen. Der produktive Teil der Bevölkerung muss dann bei stagnierenden Reallöhnen einen zusätzlichen Rentenbeitrag leisten, der entweder über höhere Steuern oder steigende Sozialversicherungsbeiträge transferiert wird.
Die historische Rückblende zeigt, dass der Schlüssel zur Lösung des Rentenproblems nicht etwa die Anpassung der Sozialsysteme an eine politisch kaum beeinflussbare demographische Entwicklung ist, sondern dass er in der Gestaltung der gesellschaftlichen Produktion liegt, also in der Wirtschaftspolitik.
Heute werden die in der schwachen Entwicklung der Arbeitsproduktivität liegenden wirtschaftlichen Ursachen der Rentenproblematik jedoch völlig ignoriert. So erscheint die wirtschaftliche Entwicklung nicht als soziale Variable, die sich gesellschaftlich beeinflussen lässt, sondern als hinzunehmendes Faktum. Damit verengt sich die Rentendiskussion zwangsläufig auf eine reine Verteilungsdiskussion. Es geht nicht darum, den Wohlstand zu mehren, sondern nur darum, den vorhandenen Wohlstand anders zu verteilen. Ein Problem sozialer Organisation – denn nichts anderes ist die Art und Weise des Wirtschaftens – wird über den Demographiediskurs zu einem quasi-natürlichen Problem umgedeutet. Die gesellschaftliche Entwicklung ist demzufolge diesen mehr oder weniger unabänderlichen Fakten unterzuordnen und anzupassen.
Mit der Begrenzung auf Verteilungsfragen ist die Rentendiskussion limitiert und zudem entpolitisiert. Sie ist limitiert, weil sie nur passive Seite der menschlichen Aktivität, den Konsum des gesellschaftlich erzeugen Reichtums, betrachtet und diesen sogar problematisiert. Die produktive und kreative Seite des Menschen, die die Basis für die soziale und wirtschaftliche Entwicklung bildet, wird vollkommen ausgeblendet. Die Diskussion ist entpolitisiert, weil sie ausschließlich an der Verteilung des Konsums ansetzt und nur hier die Interessen verschiedener gesellschaftlicher Gruppen anerkennt. Obwohl staatliche Institutionen durch Wirtschafts- und Ordnungspolitik maßgeblichen Einfluss auf die Ergebnisse der privatwirtschaftlichen Wertschöpfung ausüben, bleibt dieser Bereich ausgeklammert.
Die Rentenpolitik der letzten Jahrzehnte hat, wie der Wissenschaftliche Beirat des Bundeswirtschaftsministeriums kritisiert, also tatsächlich in eine Sackgasse geführt. Jedoch nicht in dem Sinn, wie der Beirat glaubt. Nicht die Verteilung des stagnierenden und zukünftig sinkenden Wohlstands ist falsch geregelt, sondern die eigentliche politische Aufgabe wird gar nicht erst adressiert: Warum gelingt es der vermeintlich so erfolgreichen deutschen Wirtschaft nicht mehr, für steigende Arbeitsproduktivität zu sorgen?
Es ist ein bedauerlicher Ausdruck der Entpolitisierung, dass ausgerechnet der Wissenschaftliche Beirat des Bundeswirtschaftsministeriums in seinem Gutachten nicht auf die Idee kommt, diese Fragestellung in seine Überlegungen mit einzubeziehen. Die Bundesregierung verfolgt nun sogar das Ziel, die vom Berat aufgeworfene Realität schnellstmöglich wieder unter den Teppich zu kehren. Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) ließ klarstellen, dass er sich die Schlussfolgerungen des Gutachtens „ausdrücklich nicht zu eigen“ mache und Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) wütete, das Gutachten liefere „Horrorszenarien, mit denen Rentenkürzungen begründet werden sollen, für die es keinen Anlass gibt.“