„Ich habe mich mit Gerd Müller und einem Gemüsemesser radikalisiert“

ZDF, Süddeutsche und Co warnen ihre Gefolgschaft gerne vor radikalisierten Familienmitgliedern. Gehören Sie da auch dazu? Etwa seit der Pandemie? TE-Hauptstadtkorrespondent Mario Thurnes hat sich mal angeschaut, wie seine persönliche Radikalisierung aussieht.

IMAGO / Bihlmayerfotografie
Symbolbild

Du hast dich radikalisiert, Mario. So meint ein Freund aus Rheinland-Pfälzer Tagen zu mir. Er ist nach Berlin gereist und wir treffen uns dort in der Ständigen Vertretung. Er drückt seine Sorge über meine Radikalität aus. In unserem gemeinsamen Freundeskreis sei das ein Thema. Nun gut. Viele von denen haben mich auf Facebook entfolgt. Das habe ich wohl bemerkt. Es hat mich gekränkt, aber nicht enttäuscht. Denn um enttäuscht zu sein, muss man sich vorher getäuscht haben. Und dass die Grünen voller Janosch-Gesichter sind, wusste ich schon 2009, als ich dort anfing.

Angefangen hat das alles in der Pandemie. Sie war der Spaltpilz der Gesellschaft. Würde Präsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) sein tränenreiches Gerede ernst nehmen, müsste er in der Ursachensuche genau dort ansetzen. Es genügte seinerzeit schon, auf Widersprüche aufmerksam zu machen. Etwa wenn das RKI innerhalb eines Jahres sagte, dass Stoffmasken in der Pandemie nicht hilfreich seien, absolut unverzichtbar und nicht ausreichend. Wenn all diese drei Aussagen „die Wissenschaft“ gebot, was sie – jeweils zu ihrer Zeit – alternativlos machten. Schon das zu hinterfragen, genügte, um sich Wörter wie „Covidiot“, „Verschwörungstheoretiker“ oder besonders hübsch: „Corona-Leugner“ an den Kopf werfen lassen zu müssen. Nun bestand mein Freundeskreis zu größten Teilen aus Journalisten, Politikern und deren Mitarbeitern. Also Berufsgruppen, in denen die Regierungstreue seit der Pandemie zur Arbeitsmoral gehört. In der Kurve zeigt sich die Linientreue. Da nahm ich es dann hin, ein Covidiot zu sein.

Nun habe ich mich also radikalisiert. Fein. Wie sieht denn mein radikales Leben aus? Ich gehe täglich zur Arbeit und zahle Steuern. Dennoch habe ich zuhause keine 140.000 Euro rumliegen so wie die Linksterroristin Daniela Klette. Dafür besitze ich eine Tasse, in der ich Centmünzen sammele. Auch verfüge ich weder über Panzergranaten noch über Sprengstoff wie Klette. Dafür habe ich ein Gemüsemesser, mit dem ich Zwiebeln schneide. Sie gehören zu unserer Späti-Diät – so wie auch Haferflocken und Wodka.

Der Späti ist meine Sturmtruppe. Nicht wie die Schläger der linksradikalen Lina E. Heute plagt das arme Hascherl Rheuma, weswegen das Kind auch nicht ins böse Gefängnis muss. Als sie mit ihrer Sturmtruppe loszog, um Andersdenkende totzuschlagen, ging es ihr aber offensichtlich noch ganz gut. Im Späti haben wir mit Lina E. nichts am Hut, wir lassen andere Meinungen zu. Etwa, wenn wir die lebenswichtige Frage diskutieren, wer in die beste Elf aller Zeiten gehört: Mehmet würde Pele im Sturm spielen lassen, Ilkay sieht dort Marco van Basten und ich Gerd Müller. So vielen nationalen Chauvinismus erlaube ich mir. Andererseits plädiert Mehmet vehement für Toni Schumacher im Tor und ich für Dino Zoff.

Soll jeder glauben, was er will. Apropos. Dem Gott, an den ich glaube, danke ich, dass ich das Jahr 2021 überlebt habe. Das war zwischenzeitlich gar nicht so selbstverständlich. Doch deswegen setze ich mich noch nicht ins Auto und fahre Menschen in den Tod, um sie ebenfalls von diesem Gott zu überzeugen. Ich habe mal mit einem Auto meinen Arbeitsplatz gerammt. Das war aber kein Ausdruck spätkapitalistischer Kritik – sondern das mangelnde Vermögen eines 18-Jährigen, am Berg rückwärts anzufahren. Die Sportfreunde Hierscheid beseitigten die Schäden in Vereinsstunden. Wenn ich mit meinem Hund dort vorbei spaziere, stimmt es mich nostalgisch, dass die Spuren an der Sportklause immer noch zu sehen sind.

Der Hund ist übrigens ein Terrier. Das könnte ein Ausdruck meiner Radikalisierung sein. Aber Don ist kein Pitbull, sondern ein Jagdterrier und wurde aussortiert, weil er Schussgeräusche nicht verträgt. Die Eltern der Nachbarschaft lieben ihn, weil er sich von Kindern geduldig streicheln lässt. Sollte er je gefährlich gewesen sein, so ist er heute über 90 Hundejahre alt und hat Rheuma. Mitunter muss ich ihn von Spaziergängen nach Hause tragen, weil die Knie bei Kälte und Nässe versagen. Das mag ein radikaler Anblick sein, aber er bringt mir eher Blicke der Sympathie und des Mitgefühls ein als Angst und Schrecken. Von Leserbriefen, ich möge den Hund wegen seines Rheumas einschläfern lassen, bitte ich abzusehen. Das könnte der Verfassungsschutz im Zusammenhang mit Lina E. in den falschen Hals bekommen.

Nein. Ich habe mich nicht radikalisiert. Ich sehe heute kritischer darauf, was die Regierung tut. Und nach der Pandemie traue ich ihr mehr Ungutes zu. Das sehen viele so, wie Umfragen zeigen, und das ist noch nicht mal mehr eine Verschwörungstheorie, wie die RKI-Files belegen. Heute arbeite ich zudem für ein Medium, in dem ich Dinge klar beim Namen nennen darf. Ich muss keine allgemeine Rücksicht mehr auf Stadt, Land oder Bund nehmen, weil die Anzeigen in der Zeitung schalten. Meine ehemaligen Kollegen dürfen sich gerne einreden, dass sie beruflich Stadt, Land und Bund bejubeln, weil sie die ohnehin so geil finden. Ein jeder muss mit sich selbst leben können. Deswegen stört es mich auch nicht, wenn sie sich über meine Radikalisierung unterhalten – ich trage derweil bei kaltem Regenwetter meinen rheumakranken Hund nach Hause.

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Kommentare ( 22 )

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22 Comments
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Stuttgarterin
7 Monate her

Ich bekenne mich ebenso in dieser Zeit „radikalisiert“ zu haben: Indem ich die Lokalzeitung einfach nicht mehr lesen konnte. Ich hatte den Eindruck, dass die Redakteure verängstigt im Homeoffice ihre Aerosol-Alpträume festhielten, ohne Außenkontakt und Recherche, als gäbe es keinen anderen Missstand in der Welt. Gleiches gilt für die Öffentlich-Rechtlichen, bei denen ich eigentlich Ausgewogenheit erwartet hatte. Dankbar war ich u.a für skandinavische Medien und das „schwedische RKI“. Da ich einfach einmal annahm, dass ein Virus sich im Ausland gleich verhält, konnte ich das Gefahrenpotential dadurch besser einordnen. Ich suchte wie verrückt im Internet nach Informationen, so kam ich auch… Mehr

Ohanse
7 Monate her

Ich muss mich wohl auch, sogar von mir selbst unbemerkt, radikalisiert haben. Schon immer ziehe ich in meinem eigenen Garten im kleinen Rahmen Obst und Gemüse. Zum Zeitvertreib und zur Erhaltung und Weitergabe von Wissen und Fähigkeiten, nicht des Ertrages wegen. Seit einiger Zeit gelte ich deswegen wohl als ein Rechter, als eine Art Gärtnernazi (kein Gartennazi, das sind die, die Reinhard Mey mit ihrem Rasenmäher die Kompositionen verderben). Obwohl ich nichts anders mache als vorher. Es ist ein Rätsel…

Last edited 7 Monate her by Ohanse
kasimir
7 Monate her

Danke, Herr Thurnes! Genau so sieht es aus: nicht Sie haben sich radikalisiert, die anderen sind einfach immer noch nicht aufgewacht. Ist bei mir genauso. Auch mir haben 2 Personen die Freundschaft gekündigt (aber im realen Leben, ich bin nicht auf Facebook zu finden). Deren Begründung war, dass ich ihnen zu weit nach rechts abgerutscht bin, u.a. auch weil ich Online-Plattformen und Blogs wie „TE“ oder „AchGut“ folge. Auch bei Corona waren mein Mann und ich die schwarzen Schafe der Familie (wollten uns nicht impfen lassen, Kritik am Verhalten der Regierung während der Corona-Zeit, Lockdowns). Mittlerweile bin ich aber alt… Mehr

Deutscher
7 Monate her

Ich habe viele Jahre lang eine eher linke Politik unterstützt (zeitweise auch mit milden Sympathien für die Grünen). Ich tue es heute noch, sofern es um Arbeitnehmerrechte, soziale Gerechtigkeit oder auch eine vernünftige und maßvolle Einhegung kapitalistischer Eigendynamiken geht, wo diese übers Ziel hinausschießen. Aber ich werde nicht die Augen vor hässlichen Wahrheiten verschließen, nur weil diese nicht ins linke Weltbild passen. Die Zeiten haben sich gewandelt und wir stehen vor völlig anderen Herausforderungen als vor 20 Jahren. Politik, Kultur und die gesamte Öffentlichkeit sind nach links von der Fahrbahn abgekommen und es muß nach rechts gegengesteuert werden: Jetzt geradeaus… Mehr

Last edited 7 Monate her by Deutscher
Deutscher
7 Monate her

„Du bist zu radikal!“
Ja, das kenne ich auch. Es stört mich aber nicht länger. Man kann mich radikal nennen, von mir aus auch „Nazi“. Ich weiß, dass es nicht stimmt und ich bin niemandem Rechenschaft schuldig. Meine Ansichten kann ich schlüssig begründen und alles andere ist mir wurscht.

kasimir
7 Monate her
Antworten an  Deutscher

Das ist ja immer das schöne: Kommt es mal zu einer etwas tieferen Diskussion, etwa im Familienkreis, fällt ganz schnell der Vorhang. Denn die meisten Rot-Grünen-Wähler haben keine Argumente. Dann ist es immer ganz gut, wenn man ihnen mit ein paar Fakten und Quellen kommt. Danach ist meist Ruhe, oder die Gegenseite ist beleidigt :-)) Ich (wir) halten es jetzt immer so: wir fangen keine politischen Diskussionen an. Kommt es aber mal zu so einer Unterhaltung, sage ich schon meine Meinung. Immer ruhig und sachlich bleiben. Ich hoffe zumindest, dass das ein paar Leute zum Nachdenken bringt. Wir hatten voriges… Mehr

monique brodka
7 Monate her

Vielen Dank Herr Thurnes für diesen wunderbaren Text. Seit 2015 schaue ich nur noch ungläubig auf die Ereignisse. Nicht nur in Deutschland.
Es gab mal eine Zeit, da vertraute ich tatsächlich Politiker weil ich der Überzeugung war, dass es auch in deren Interesse lag, es uns gutgehen zu lassen. Falsch gedacht. Ich begreife immer noch nicht was deren Intention ist. Auf jeden Fall hat sich meine Einstellung grundlegend geändert.
Wie meine Schwester meinte: „Ich hätte nicht gedacht, dass ich mal mit dem Rollator auf die Barrikaden muss.“ Wir sind Rentner.

Wilhelm Roepke
7 Monate her

So ist es. Nur weil die Mehrheit neben einem in den letzten Jahren auf der Autobahn gewendet hat, wird man noch nicht selbst zum Geisterfahrer.

Angela Honecker
7 Monate her

Ich bin allerdings nicht der Meinung, das diese Spaltung unseres Landes erst mit Corona begonnen hat, sondern schon mit der „Flüchtlingskrise“ 2015 und mit einer Kanzlerdarstellerin und einem damals von einem „Helldeutschland-Dunkeldeutschland“ halluzinierenden Bundesgrüßaugust, der ebenfalls aus dem Osten stammte (wie ich selbst auch):. Oberste Spalterin damals: „Wir schaffen das!“ und „Dann ist das nicht mehr mein Land“-Merkel. Schon damals wurde hemungslos von der Exekutive gegen das Grundgesetz verstoßen. Und diese Hemmungslosigkeit begann eigentlich auch schon mit der Finanzkrise und den „Euro-Rettungsschirmen“ usw. Auch alles unter der Egide „Ihrer Unfehlbarkeit“ geschehen. Ansonsten aber: volle Zustimmung zu Ihrem tollen Text.

Deutscher
7 Monate her
Antworten an  Angela Honecker

Der Spalt war schon immer da. Er wird nur jetzt erst sichtbar.

Sichtbar werden vor allem die Radikalität der Angepassten, die Intoleranz der Toleranten, der Bellizimus der Pazifisten, die Autorität der Antiautoritären, der Antisemitismus der Antifaschisten, die Menschenverachtung der Humanisten, der Totalitarismus der Liberalen, der Hass der Liebevollen, der Egoismus der Altruisten, der Narzissmus der Empathiker, die Korruption der Unbestechlichen.

Last edited 7 Monate her by Deutscher
kasimir
7 Monate her
Antworten an  Angela Honecker

Sehe ich auch so. Es hat bereits mit der Euro-Rettung begonnen, richtig los ging es dann mit der Flüchtlingskrise.
Corona war dann nur der nächste Schritt zur Spaltung. Die Energiekrise wäre auch noch ein weiteres Thema, bei dem die Meinungen (jedenfalls in meinem Umfeld) hochkochen.

Stefan Z
7 Monate her

Wer die wirklichen Covidioten waren, steht mittlerweile ja wohl fest. Da hilft auch kein Leugnen. Allerdings möchten natürlich die wenigsten sich das selbst eingestehen. Darum wird radikal weitergeschwurbelt. Schließlich ist und bleibt man auf der „richtigen“ Seite.

gast
7 Monate her

Man musste sich radikalisieren, um nicht verrückt zu werden. Als jemand, der Recht und Ordnung sehr schätzt, wurde einem beides genommen, das eigene Leben wurde auf Null reduziert und die Polizei fuhr Patrouille und drohte. Es hat dann doch was stattfinden können unter verherenden Einschränkungen und die von Merkel und Spahn erfundenen Bedingungen erfüllten wir natürlich nicht. Wir planten ernsthaft einen Fluchtweg, auf dem wir entkommen können, sobald die Polizei aufkreuzt.

Last edited 7 Monate her by gast