1970 erschien im Rowohlt Verlag die deutsche Übersetzung eines Klassikers der Managementliteratur, „The Peter Principle“ (Das Peter-Prinzip oder die Hierarchie der Unfähigen) von Laurence J. Peter und Raymond Hull. Als das Buch Einzug in die Regale des deutschen Buchhandels hielt, war Heiko Maas gerade vier Jahre alt. Die Zentrale These lautete: „In einer Hierarchie neigt jeder Beschäftigte dazu, bis zu seiner Stufe der Unfähigkeit aufzusteigen.“
Nun wäre es unfair, den SPD-Politiker mit diesem Buch in Verbindung zu bringen, denn die Grundthese des Buches ist zweifelhaft, schließlich liegt das Versagen der Bundesregierung in Afghanistan nicht nur am Peter-Prinzip, sondern vor allem an einer zunehmenden Oligarchisierung der deutschen Politik, an der Undurchlässigkeit der sich verhärtenden Parteiapparatedemokratie, am Milieu der deutschen Massenuniversität und dem Siegeszug der sogenannten Sozialwissenschaften. Hinzu kommt, dass wir den Protagonisten des politischen Geschehens, die sich dem Bürger jahraus, jahrein in erstaunlich personeller Kontinuität präsentieren, beim Altern zusehen wie in einer Langlaufserie. Ihre Gegenwart hat ihre Vergangenheit ausgelöscht, sie sind, nicht weil sie geworden sind, sondern sie sind, weil sie sind – und damit ewig.
Nachdem Ministerpräsidentin Annegret Kramp-Karrenbauer die Koalition mit der FDP und den Grünen am 6. Januar 2012 für beendet erklärt hatte, fanden nach gescheiterten Sondierungsgespräche zwischen CDU und SPD zur Bildung einer neuen Landesregierung am 25. März 2012 Neuwahlen statt. Wieder trat Heiko Maas als Spitzenkandidat an, wieder reichte es nicht für einen Wahlsieg, aber diesmal wenigstens für einen Ministerposten in einer Koalitionsregierung mit der CDU. Im Jahr 2013 durfte Heiko Maas also nach Berlin wechseln und wurde Bundesminister der Justiz und für Verbraucherschutz im dritten Merkel-Kabinett. In der Bundestagswahl 2017 unterlag Heiko Maas im Bundestagswahlkreis Saarlouis Peter Altmaier, kam aber über über die Landesliste der SPD dennoch in den Bundestag. Wen der Bürger nicht wählt, bringt eben der Parteiapparat ins Parlament.
Heiko Maas stellt den Typ Politiker dar, der seinen Aufstieg letztlich nicht siegreichen Wahlen, sondern der Protektion des Parteiapparates der SPD zu verdanken hat. Nachdem Martin Schulz 2018 doch nicht das Amt des Außenministers, das er für sich in den Koalitionsverhandlungen ausgehandelt hatte, antreten konnte, wurde irgendwie und überraschenderweise Heiko Maas Bundesaußenminister – ein Amt, das vor ihm ein Hans-Dietrich Genscher oder ein Joschka Fischer inne gehabt hatten. Im Jahr 2016 erhielt der Politiker den „GQ Best Dressed“, den Preis für den bestangezogenen Mann.
Bis vor kurzem waren die Taten des Außenministers weniger bekannt als die Meinungen des unermüdlichen Kämpfers gegen „rechts“, wie er sie in dem Buch „Aufstehen statt wegducken: Eine Strategie gegen Rechts“ veröffentlichte. Schaut man auf das Wirken des Außenministers in der Katastrophe am Hindukusch, gewinnt man allerdings den Eindruck, dass dieser Politiker in der realen Welt das „Wegducken“ besser als das „Aufstehen“ beherrscht.
Der Co-Autor von Heiko Maas, Michael Ebmeyer, half jüngst auch Annalena Baerbock bei der Erstellung ihres Buches „Jetzt. Wie wir unser Land erneuern“. Die öffentliche Wahrnehmung beider Bücher war beeindruckend, allerdings war die Publicity von der Art, wie man sie sich nicht unbedingt wünscht. Als Stilübungen in leichter Sprache kann man das erste Buch und als missglückte Zitationsversuche das zweite bezeichnen.
Vielleicht aber hat den Außenminister dieses publicityträchtige Versprechen im Rahmen seines Kampfes „gegen rechts“ und gegen den deutschen Rassismus, der ein struktureller sein soll, so in Anspruch genommen, dass er die Katastrophe, die sich in Afghanistan anbahnte, schlicht und ergreifend übersah.
Am 9. Juni 2021 informierte jedenfalls der Außenminister den Bundestag über die Lage in Afghanistan wie folgt: „All diese Fragen haben ja zur Grundlage, dass in wenigen Wochen die Taliban das Zepter in Afghanistan in der Hand haben werden. Das ist nicht die Grundlage meiner Annahmen. Wir gehen aber davon aus, […] dass die Kampfhandlungen zunehmen werden. Gleichzeitig gibt es aber einen Friedensprozess zwischen den Taliban und der afghanischen Regierung, der ja nicht ausgesetzt worden ist, und den ich auch nicht für unerreichbar halte.“ Die Grundlage der Annahme des deutschen Außenministers war das sicher nicht, es war nicht mehr und nicht weniger nur die ganz banale Realität, eine Realität übrigens, die jeder halbwegs informierter Laie dem Außenminister hätte prophezeien können. Doch für den Außenminister ist Grundlage der Annahme die Annahme der Grundlage.
In einem Tweet am 23. Juni schrieb Heiko Maas – ganz Herr der Lage – : „#Afghanistan: Ich möchte unseren Soldat*innen danken für ihren Mut, ihre Ausdauer & ihre Tapferkeit. Gemeinsam haben wir Verantwortung übernommen: gegenüber Afghanistan, gegenüber unseren Bündnispartnern, aber auch für unsere eigene Sicherheit. (1/2)
Jeder Aufschub der Verhandlungen bedeutet nur noch mehr Gewalt & unnötige Opfer auf beiden Seiten. Die Taliban müssen zur Kenntnis nehmen, dass es kein „Zurück ins Jahr 2001“ geben wird. Dagegen steht eine selbstbewusste afghanische Zivilgesellschaft. (2/2)“
Ein Zurück gibt es in der Tat nicht, denn die Taliban haben gelernt und werden ihre Herrschaft diesmal besser absichern. Auch wenn die simple Tatsache in einem vulgärmarxistischen Weltbild nicht vorkommt, so gibt es niemals ein Zurück, sondern nur ein Fortschreiten, die Frage ist nur worin. Das Bild von den „Steinzeitkriegern“ und dem „Steinzeitislam“ verharmlost die Taliban, ihr Islamismus ist eine effektive und sogar moderne Mobilisierungsideologie und sie haben nur in wenigen Tagen ein Land erobert und dem so hoch modernen Westen eine Niederlage bereitet.
Dabei gingen im Auswärtigen Amt nach bisherigem Informationsstand die Warnungen aus Kabul bereits Wochen zuvor ein. Hat der Außenminister diese Warnungen nicht zur Kenntnis genommen? Hat eine Ignoranz im Ministerium von Heiko Maas eine geordnete Evakuierung verhindert? Kostet die falsche Einschätzung des Ministers Menschleben in Afghanistan und beschert Deutschland durch das dadurch entstandene Chaos in Kabul die Einreise auch von Islamisten und bereits abgeschobenen Straftätern, statt bedrohter Ortskräfte?
Nach einem Bericht des ARD-Hauptstadtstudios warnte die deutsche Botschaft in Kabul „das Auswärtige Amt offenbar wochenlang vergeblich vor einer möglichen Gefährdung ihres Personals“. Der stellvertretende deutsche Botschafter van Thiel schrieb „in seinem Lagebericht“, „„dass den dringenden Appellen der Botschaft über längere Zeit erst in dieser Woche Abhilfe geschaffen“ worden sei. Darüber hinaus betonte der Diplomat: „Wenn das an irgendeiner Stelle diesmal schief gehen sollte, so wäre dies vermeidbar gewesen.“… Am Freitag hatte Bundesaußenminister Heiko Maas betont, man habe sich seit Wochen auf diese Situation vorbereitet. Wie das ARD-Hauptstadtstudio aus Sicherheitskreisen erfuhr, wurde erst in der vergangenen Woche darüber gesprochen, unter welchen Bedingungen ein A400M-Transportflugzeug der Bundeswehr für eine Evakuierung zur Verfügung gestellt werden könnte.“. Ist der Außenminister stärker davon in Anspruch genommen, seine Verantwortung zu vernebeln, als eine effiziente Evakuierung der Richtigen mitzuorganisieren? Jedenfalls gibt die Verteidigungsministerin ein ganz anderes, ein zupackendes Bild ab.
Besonders chaotisch ging es jedoch bei den Deutschen zu, denn die deutsche Regierung steckte vor der Entwicklung den sprichwörtlichen Kopf in den sprichwörtlichen Sand. Am tiefsten womöglich der Außenminister. Während andere Länder ihre Mitarbeiter evakuierten und auch die deutsche Botschaft das deutsche Außenministerium zur Evakuierung drängte, fällte das Auswärtige Amt zu lange keine Entscheidung. Wertvolle Zeit verstrich. Was machte der deutsche Außenminister? War ihm der Ernst der Lage bewusst? Fuhr er Fahrrad? Kämpfte er gerade gegen „rechts“? „Andere Länder wie Großbritannien bringen nun ihre Mitarbeiter in Sicherheit. Die deutsche Botschaft befürwortet längst auch eine Evakuierung, aber das Auswärtige Amt zögert offensichtlich“, schreibt die Welt im Rückblick. Als sich am Sonnabend und am Sonntag nach Informationen der Welt am Sonntag die Lage „dramatisch“ zuspitzte, plante man in der deutschen Botschaft in Kabul eigenmächtig einen „Rettungskonvoi zum Gelände der US-Botschaft“. „Am Sonntag ordnen die Verantwortlichen vor Ort in Kabul schließlich die Evakuierung an, den Schilderungen zufolge auf eigene Faust. Der Vizebotschafter, …, holt das Okay des Krisenstabes in Berlin den Schilderungen zufolge erst nachträglich ein.“ Der Konvoi erreicht die amerikanische Botschaft, von dort geht es mit Hubschraubern zum Flugplatz. Dass die Luftbrücke – verspätet zwar – aber schließlich steht, und dass die noch vor kurzem als rechte Truppe diffamierte KSK in Zusammenarbeit mit den Fallschirmjägern in Kabul wahre Heldenarbeit leistet, die sie so nicht leisten müsste, wenn man rechtzeitig reagiert hätte, ist nicht dem Außenminister zu danken, sondern der Verteidigungsministerin, die zwar auch zu spät, aber dann jedenfalls energisch agierte.
Nicht nur, dass Annegret Kramp-Karrenbauer ihrem Kommando vor Ort, erfahrenen Soldaten und Kommandeuren, vertraut und ihnen die erforderliche Entscheidungsfreiheit übertrug, denn schließlich wissen die Offiziere vor Ort am besten, was in der sich rasch ändernden Lage zu tun ist, stärkte sie ihnen den Rücken. Im Falle ihres Versagens oder im Falle, dass ein Versagen konstruiert wird, übernahm sie die Verantwortung, in der vollen Bedeutung des Wortes, einer Bedeutung, die niemand, Heiko Maas eingeschlossen, mehr kennt. Vor laufenden Kameras sagte Kramp-Karrenbauer: „Was immer da vor Ort passiert, ich halte den Kopf hin.“
Im Gegensatz zu Heiko Maas hat Annegret Kramp-Karrenbauer ihre politische Karriere mit der Mission in Kabul verbunden und dadurch den Soldaten vor Ort Handlungs- und Bewegungsfreiheit verschafft. Was eigentlich normal ist, nötigt in Zeiten der Regierungskunst von Angela Merkel Respekt ab. Von einem am Amt klebenden Jens Spahn, einem Heiko Maas und dem Cum-Ex- und Wirecard-erfahrenen Olaf Scholz jedenfalls wird das wohl nicht zu erwarten sein. Vielleicht zählt Kramp-Karrenbauer zu den Politikern, die zu gradlinig sind, als dass sie in der deutschen Dekadenz Karriere machen können, aber sie könnte eine Politikerin sein, die vielleicht für eine andere Politik stünde, wenn sie dürfte. Eine Politik der persönlichen Verantwortung.
Während Annegret Kramp-Karrenbauer ins Risiko geht, jetzt das versucht, was möglich ist, scheint Heiko Maas nur mit einem beschäftigt zu sein – sein Amt zu retten, doch das ist gefallen mit Kabul. Dass Heiko Maas noch im Amt gehalten wird, ist dem Wahlkampf geschuldet, weil Maas nicht zur Belastung für den Kanzlerkandidaten der SPD, Olaf Scholz, werden darf, der das Glück hat, dass sein Ministerium nicht unmittelbar mit dem teils selbstverschuldeten Desaster am Hindukusch verbunden ist. Doch was tat eigentlich Vize-Kanzler Olaf Scholz an dem Wochenende, an dem Kabul fiel. Gab er launige Wahlkampfdönekens im ZDF zum besten, während sich die Gefahr für die Ortskräfte und für die Deutschen in Kabul zuspitzte, weil nach der Einschätzung des Gründers des Safe House in Kabul, Marcus Grotian, es der Regierung gleichgültig war, was am Hindukusch passiert? Man kann wohl kaum sagen, dass Olaf Scholz in der Cum-Ex-Affäre oder in der Wire-Card-Affäre Verantwortung übernommen hat.
Dem Prinzip Verantwortung steht nicht das Peter-Prinzip, sondern inzwischen, nennen wir es einmal, das Heiko-Prinzip entgegen. Verantwortung an sich abperlen zu lassen, und wenn sie doch übernommen werden muss, dann sie in das anonyme „Wir“ zu übersetzen, in diese anonyme „Wir“ aufzulösen, bis von der Verantwortung für einen selbst nichts mehr übrig bleibt, gleichzeitig Milliarden Euro Steuergelder gegen die politische Konkurrenz, letztlich gegen die Demokratie einzusetzen, denn der Kampf gegen „rechts“ ist in Wahrheit kein Kampf gegen „rechts“, sondern vornehmlich gegen die, die rechts von der politischen Linken sind, gegen die Mitte der Gesellschaft. Wäre es anders, dann würden Maas und Scholz gegen Linksextremismus und gegen Rechtsextremismus gleichermaßen kämpfen. Stattdessen werden Milliarden dafür eingesetzt, ein politisches Fußvolk auf Kosten des Steuerzahlers zu finanzieren, das euphemistisch NGOs genannt wird, in vulgo: Rotgrüne Garden.
Vielleicht ist das Heiko-Prinzip das Prinzip der Zukunft. So wie der Cum-Ex-Skandal und der Wire-Card-Skandal Olaf Scholz nichts anhaben kann, so wird die Katastrophe vom Hindukusch Heiko Maas nichts anhaben können – und der Noch-Außenminister besitzt gute Chancen, auch wieder der nächste Außenminister in einem Kabinett Scholz zu sein, denn auf den Kern reduziert, lautet das Heiko-Prinzip: mit allen Mitteln, ohne Rücksicht auf Verluste irgendwie durchzukommen. Denn niemand hat dieses Prinzip bereits vor Jahrzehnten besser ausgedrückt als die Sozialdemokratin Heide Simonis, die, als sie nicht wiedergewählt wurde, fragte: „Und was wird aus mir?“