Erdogan strebt keinen islamischen Staat wie im Iran an, denn dann hätte er geistliche Führer über sich. Er will mit einem Präsidialsystem vielmehr ein neues Sultanat, ein neues Osmanisches Reich errichten. Von Norbert F. Tofall
Am 15. Juli 2016 gab es einen Putschversuch in der Türkei. Am 16. Juli kündigte Recep Tyyip Erdogan umfassende „Säuberungen“ an. Daraufhin wurden allein seit diesem 16. Juli mehr als 40.000 Personen verhaftet und 80.000 Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes entlassen. Angesichts dieser Zahlen stellt sich die Frage, wer eigentlich der Hüter der türkischen Verfassung ist. Wer schützt das Recht? Der Führer Erdogan? Oder wollten die Putschisten das Recht vor Erdogan schützen?
„Der Führer schützt das Recht vor dem schlimmsten Mißbrauch, wenn er im Augenblick der Gefahr kraft seines Führertums als oberster Gerichtsherr unmittelbar Recht schafft… Der wahre Führer ist immer auch Richter“ (Carl Schmitt: „Der Führer schützt das Recht“, in: Deutsche Juristen Zeitung, Heft 15, 39. Jahrgang, 1. August 1934, Sp. 946 – 947).
Recep Tayyip Erdogan wurde im April 1998 gemäß Artikel 14 der türkischen Verfassung wegen Missbrauchs der Grundrechte und Grundfreiheiten und gemäß Paragraph 312 Abs. 2 des türkischen Strafgesetzbuches wegen Aufstachelung zur Feindschaft aufgrund von Klasse, Rasse, Religion, Sekte oder regionalen Unterschieden zu zehn Monaten Gefängnis und lebenslangem Politikverbot verurteilt. In einer Rede in der ostanatolischen Stadt Siirt hatte Erdogan zustimmend aus einem Gedicht von Ziya Gökalp zitiert:
„Die Demokratie ist nur der Zug, auf den wir aufsteigen, bis wir am Ziel sind. Die Moscheen sind unsere Kasernen, die Minarette unsere Bajonette, die Kuppeln unsere Helme und die Gläubigen unsere Soldaten.“
2002 errang Erdogan mit seiner 2001 gegründeten Partei AKP einen überragenden Wahlsieg. Aufgrund seines lebenslangen Politikverbots konnte er jedoch nicht Ministerpräsident werden. Auch musste zu diesem Zeitpunkt der türkische Ministerpräsident Mitglied des türkischen Parlaments sein. Der errungene Wahlsieg wurde deshalb genutzt, um die türkische Verfassung zu ändern, Erdogans Politikverbot aufzuheben und die Parlamentswahl in der ostanatolischen Provinz Siirt zu annullieren, so dass bei der Wahlwiederholung Erdogan für das Parlament kandidieren, als Abgeordneter ins Parlament einziehen und auf diesem Wege doch Ministerpräsident werden konnte.
2007 konnte die AKP bei einem Stimmenanteil von 46,58 Prozent die absolute Mehrheit der Sitze im Parlament erringen. Erdogan blieb Ministerpräsident. 2011 strebte die AKP eine Zweidrittelmehrheit an, um die Verfassung ändern zu können, erreichte aber nur 49,84 Prozent der Stimmen. Erdogan blieb Ministerpräsident. Am 10. August 2014 wurde Erdogan zum Staatspräsidenten gewählt.
Im Jahr 2015 warb Erdogan bei der Parlamentswahl am 7. Juni um Stimmen für die AKP. Nach Artikel 101 der türkischen Verfassung hätte er als Staatspräsident die Beziehung zu seiner Partei aber abbrechen müssen. Die AKP warb in diesem Wahlkampf für die Einführung eines Präsidialsystems in der Türkei, verfehlte jedoch deutlich sowohl die angestrebte Zweidrittelmehrheit als auch eine Dreifünftelmehrheit der Mandate, die notwendig gewesen wäre, um ein Referendum zur Einführung des Präsidialsystems einleiten zu können. Da die kurdische Partei HDP die Zehn-Prozent-Hürde für den Einzug ins Parlament überspringen konnte, verlor die AKP ihre absolute Mehrheit an Sitzen im Parlament. Sie erhielt nur 258 von 550 Mandaten.
„Die Demokratie ist nur der Zug, auf den wir aufsteigen, bis wir am Ziel sind.“ Dieser Zug fährt aber nicht immer in die gewünschte Richtung. Deshalb setzte Erdogan für den 1. November 2015 Neuwahlen an, nachdem sein Parteifreund Ahmet Davutoglu keine Koalition zur Regierungsbildung zustande gebracht hatte. Laut türkischer Verfassung hätte aber erst der Vorsitzende der zweitstärksten Fraktion im türkischen Parlament von Erdogan den Auftrag zur Regierungsbildung erhalten müssen, was Erdogan verweigerte. Bei der Neuwahl am 1. November 2015 erreichte die AKP 49,5 Prozent der Stimmen und 317 von 550 Mandaten im Parlament, also die absolute Mehrheit.
Am 15. Juli 2016 wurde geputscht. Und ab dem 16. Juli 2016 wird gesäubert. Nach den Säuberungen wird sich die Einführung eines Präsidialsystems leichter gestalten als bisher.
Für die friedliche wirtschaftliche und politische Zusammenarbeit in Europa verheißt das ungebremste Machtstreben von Erdogan und seiner AKP nichts Gutes. Erdogan hat sich kürzlich nicht zufällig mit Putin verständigt. Und die Nachrichten über die Beziehungen von Erdogan zu terroristischen Gruppen wie dem IS und der Hamas sind zwar nicht neu, gewinnen in diesen Tagen aber eine besondere Brisanz. Bislang wurden derartige Meldungen isoliert betrachtet. Im Zusammenhang mit den Ereignissen seit dem 15. Juli 2016 werden sie zurecht anders bewertet.
Dabei ist nicht davon auszugehen, dass Erdogan einen islamischen Staat wie im Iran anstrebt. In einem islamischen Staat wie dem Iran hätte Erdogan geistliche Führer über sich. Erdogan sieht sich sicherlich nicht als Diener von religiösen Führern. Erdogan will durch die Einführung eines Präsidialsystems ein neues Sultanat als Kommandozentrale für ein neues Osmanisches Reich errichten. Die Religion ist für Erdogan dabei das erfolgreiche Mittel, um die Massen – sei es in der Türkei oder in anderen Ländern – hinter sich zu sammeln: „Die Moscheen sind unsere Kasernen, die Minarette unsere Bajonette, die Kuppeln unsere Helme und die Gläubigen unsere Soldaten.“
Und: „Die Demokratie ist nur der Zug, auf den wir aufsteigen, bis wir am Ziel sind.“
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