Politische Sprache: „Nazilalie“ ‒ der Drang, Nazi sagen zu müssen

Nazi wurde in den letzten Jahren zum Allerweltswort ‒ allein unter den Suchbegriffen „Chemnitz Nazis“ findet man im Internet 6,4 Millionen Einträge (Stand: 10. September 2018). Dabei fällt auf, dass Nazi häufig mit Fäkalausdrücken kombiniert wird.

© PATRIK STOLLARZ/AFP/Getty Images

Sie sind wieder da, in Sprechchören, auf T-Shirts, Bierdeckeln und Transparenten ‒ vier Buchstaben mit einfachen Botschaften:

Nazis raus!
Nazis? ‒ Nein danke!
Kein Bock auf Nazis
Kein Bier für Nazis
Scheiß Nazi(s)
usw.

Die entsprechenden Fan-Artikel kosten zwischen 2 und 20 Euro (ohne Versandkosten), und wer sie benutzt, „zeigt Flagge“ für ein „weltoffenes Deutschland“.

I

Woher kommt der Name Nazi? Wortgeschichtlich handelt es sich um eine nach dem Muster von Sozi gebildete Kurzform für Nationalsozialist „Anhänger der 1920 gegründeten Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP)“. Im Süden des deutschen Sprachgebietes war Nazi schon in einer anderen, unpolitischen Bedeutung bekannt, nämlich als Koseform für den (katholischen) Vornamen Ignaz, mit der Nebenbedeutung „Tölpel“. Der Parteiname Nazi verbreitete sich Mitte der 1920er Jahre, allerdings nicht als Selbstbezeichnung (die Nazis selbst nannten sich Nationalsozialisten), sondern als zunächst spöttische, dann distanzierende Fremdbezeichnung.

Im 3. Reich (1933‒45) wurde der politische Begriff Nazi im Inland öffentlich nicht verwendet; im Ausland und unter Deutschen im Exil war es hingegen die gängige Bezeichnung für den NS-Staat (Nazi-Deutschland, Nazi Germany) und dessen Anhänger.

Nach 1945 verläuft die Häufigkeitskurve von Nazi im öffentlichen Sprachgebrauch unregelmäßig: Zunächst, unmittelbar nach Kriegsende, war das Wort relativ wichtig; denn viele frühere Mitglieder der NSDAP (in Westdeutschland 2,5 Millionen) mussten ein Entnazifizierungs-Verfahren durchlaufen. Danach pendelte sich der Gebrauch auf niedrigem Niveau ein: Wenn das Wort in der Öffentlichkeit auftauchte, bezog es sich in der Regel auf ehemalige Nazis (Altnazis), war also vergangenheitsbezogen. Ende der 1980er Jahre stieg die Verwendung, häufig in der Form Neonazi, und flachte dann wieder ab. In den letzten Jahren und oft im Zusammenhang mit der Migrationsdebatte und einer neuen Partei (AfD) hat sich die sprachliche Präsenz von Nazi so verstärkt, dass das Wort fast nicht mehr auffällt: „Es ist einseitig und wird langweilig“, meint ein Leserbriefschreiber, „wenn alle, die gegen die Politik der Massenmigration […] protestieren, ins rechte Eck gestellt und als Nazis bezeichnet werden“ (Süddeutsche Zeitung, 1./2. September 2018).

II

Was bedeutet nun Nazi heute? Eine begrifflich-abstrakte Definition wie „Anhänger einer totalitären Ideologie in der Nachfolge Adolf Hitlers, die extremen Nationalismus mit Rassismus verbindet“ werden nur die wenigsten im Kopf haben, wenn sie das Wort äußern. Nazi hat vielmehr, wie ein Werkzeug, einen praktischen kommunikativen Zweck. Einige Beispiele:

• Die Organisatoren des 2010 in Bayern erfolgreichen Volksbegehrens „Für einen echten Nichtraucherschutz“ wurden während der Wahlkampagne telefonisch vielfach als Nazis beschimpft (neben Fanatiker, Ökofaschisten u. Ä.).
• Auf der Weltausstellung 2010 in Shanghai skandierten chinesische Besucher, die vor dem deutschen Pavillon stundenlang Schlange stehen mussten: Nazis, Nazis (nàcuì, nàcuì).
• Über den Sänger Heino (Jahrgang 1938), der 2013 in seinem Album „Mit freundlichen Grüßen“ bekannte Rock- und Poplieder uminterpretierte, urteilte ein 37-jähriger Kollege: „Alle sagen plötzlich: Ist doch lustig. Ist doch Heino. Nee, das ist ein Nazi“.
• Im Februar 2018 beschloss die „Essener Tafel“ einen (kurzfristigen) Aufnahmestopp für Ausländer. Daraufhin wurde einer ihrer Transporter mit dem Wort Nazis beschmiert.
• Der Ausdruck Gutmensch, der um 1990 entstand (45 Jahre nach dem Naziregime), wird in einem Leserbrief des Münchner Merkur (2. August 2018) als „Nazi-Kampfbegriff“ bezeichnet.
• Nach einer Messerattacke in Chemnitz am 27. August 2018 (vgl. TE 3. 9. 2018 „Die verlorene Ehre der Bürger von Chemnitz“), bei der ein Deutscher von Asylbewerbern getötet wurde, gab es in der Stadt mehrere Demonstrationen. Bei einem Gratis-Konzert “Rock gegen rechts“ am 3. September, zu dem etwa 50.000 Besucher kamen, wird zu Beginn eine Schweigeminute eingelegt: „Lasst uns gemeinsam an Daniel erinnern, dem sein Leben genommen wurde“ (von wem?). Danach geschah laut Bericht der FAZ (4.9.2018) folgendes: Die Minute ist kurz. Die Veranstalterin sagt noch etwas, und schon hört man: „Nazis raus! Nazis raus!“ Irgendwann brüllen sie alle, die Jungen wie die Alten, der ganze Platz.

Wozu dient in diesen Beispielen das Wort Nazi(s)? Es ist ein Protestzeichen, ein massives Nein!, mit stark beleidigender Absicht. Gegen wen richtet sich diese Wortwaffe? Im Ausland genügt es, Deutscher zu sein, um in Protestsituationen als Nazi bezeichnet zu werden; kein deutsches Wort ist international bekannter. Im Inland bezeichnet es als politischer Kampfbegriff bestimmte Personen und Gruppen: Ursprünglich Rechtsradikale (Neonazis), inzwischen aber auch Konservative und Andere, die nicht in das linke und grüne Meinungsfeld passen, kurz: „rechts“ eingestufte Deutsche. Diese sprachliche „Entgrenzung“ und „Banalisierung“ des Nazibegriffes hat zur Folge, dass der realgeschichtliche Nationalsozialismus verharmlost wird, worüber Intellektuelle ‒ wie der Germanist Rüdiger Safranski ‒ „in Rage“ geraten:

Wie wenig Ahnung muss man vom Nationalsozialismus haben, wenn man ständig die Nazikeule schwingt. Auf diese Weise wird das ernste Gedenken an das Großverbrechen inflationiert und wertlos gemacht. Nationalsozialismus, das ist das Grauenhafteste, was im 20. Jahrhundert geschehen ist, neben dem Stalinismus. (Der Spiegel, 17. März 2018)

Diese Bewertung stimmt, ändert aber nichts an den sprachlichen Fakten: Nazi ist in den letzten Jahren zum Allerweltswort geworden ‒ allein unter den Suchbegriffen „Chemnitz Nazis“ findet man im Internet 6,4 Millionen Einträge (Stand: 10. September 2018). Dabei fällt auf, dass Nazi häufig mit Fäkalausdrücken kombiniert wird, vor allem Scheiße. Solche Ausdrücke kommen besonders in der Jugendsprache vor, die ja eine Protestsprache ist. Bei Erwachsenen kann die Neigung, Fäkalvokabular zu verwenden, ein krankhafter Zwang werden, der in der Psychiatrie als „Kopro-lalie“ (wörtlich: Kot-sprechen) seit über hundert Jahren bekannt ist. Es liegt deshalb nahe, den Drang, Nazi sagen zu müssen, als „Nazi-lalie“ zu bezeichnen.

***

Beim Chemnitzer Protestkonzert lautete eines der Transparente: „Menschenrechte statt rechte Menschen“. Frage: Haben „rechte“ Menschen oder sogenannte Nazis auch Menschenrechte? Antwort des politisch korrekten Deutschland: „Im Prinzip ja, aber nicht, wenn es sich ‒ wie in Chemnitz ‒ um Untermenschen handelt.“


Helmut Berschin ist Professor em. für Romanische Sprachwissenschaft.

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Kommentare ( 66 )

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Sonia.B.
6 Jahre her

Wie man Andere einschätzt und beurteilt sagt mehr über einen selbst aus als über die Anderen. Fakt ist, man kann den Andern nur bis vor den Kopf gucken, was man glaubt über den Andern zu wissen, ist nichts als eine subjektive Meinung, basierend auf den eigenen Werten und Ansichten, beeinflusst von persönlichen Vorurteilen in form von Stereotypen, die nachweislich jeder hat. Man muss mit dem Andern sprechenund ihm Gelegenheit geben, seine Sichtweise darzustellen, um aus der persönlichen Annahme wenigstens ansatzweise einen Fakt machen zu können. Auch wenn viele es gern anders hätten, es zählt eben doch die Intention des Sprechers… Mehr

Galileo
6 Jahre her

Für die einen bin ich ein Mensch, der sich darum sorgt was aus aus seiner Heimat wird und welche Zukunft wir der nächsten Geration hinterlassen. Deswegen werde ich von anderen angefeindet und als Nazi bezeichnet, ein Begriff, der sich durch zu häufigem Gebrauch abgenutzt hat. Bin ich früher bei diesem Wort zusammengezuckt, zucke ich heute nur noch die Schultern – es ist mir egal geworden.
Denn wenn alle, die sich Gedanken um unser Land machen und Merkels „Weiter so“ Parolen in Frage stellen, Nazis sind, dann leben in Deutschland mehrere Millionen Nazis.

Michael_M
6 Jahre her

Ich würde vor 3 oder 4 Jahren zum nazi erklärt.
Ende vom lied:
* Eine Freundschaft verloren
* und ich bin geneigt zu sagen, das ich stolz darauf bin zum nazi erklärt worden zu sein. Irgendwas habe ich scheinbar richtig gemacht zu haben…

W aus der Diaspora
6 Jahre her

Ach diese bunte Truppe ….
Die sind doch nur so bunt, weil sie sich nicht entscheiden können, ob sie nun grün oder rot sein möchten. Ob sie weiblich oder mänchlich sind, weiss oder schwarz. Sie sind gefangen im bunt sein, um nichts wirklich sein zu müssen. Das ärgert sie wohl auch an uns am Meisten. Wir sind etwas. Wir sind politisch blau oder schwarz, wir sind christlich oder atheistisch, wir sind da und stehen zu dem was und wie wir sind. Wir sind das Gegenteil von Bunt und doch wird die Welt nur durch uns wirklich bunt.

Wolkendimmer
6 Jahre her

„Kein Karo für Nazis“ nicht vergessen. Gell Hannelore.
Einfach mal googeln.

von Kullmann
6 Jahre her

Ist jeder Linke ein Stalinist? Anscheinend, wenn jeder Andesdenkende Nazi ist.

giesemann
6 Jahre her

Vielleicht hätten die Leute von der Tafel Schilder aufstellen sollen, auf denen weithin sichtbar steht: Nehmt nichts von NAZIs.

H. Priess
6 Jahre her

Jepp, die Linksfaschisten sind mehr Nazi als ein Rechter es je sein könnte, im negativen Sinn gemeint.

H. Priess
6 Jahre her

Als Nazi wurde ich das erste mal Herbst 2015 bezeichnet, weil ich Fragen stellt die zum denken anregen sollten aber sofort abgebügelt wurden. Damals war ich noch in den Foren von Spiegel, Welt, Zeit, FAZ, TAZ, HuffPost u.a. andere dabei. Überall stellte ich nur 9 Fragen ohne irgendeine Wertung der Migranten aber das war schon zuviel. Eine Frage war: Was werden die Menschen tun wenn sie merken, dass ihre Träume und Wünsche, die Versprechungen der Schlepper und unserer Regierung nicht in Erfüllung gehen? Werden sie sich dann nicht irgendwann nehmen worauf sie glauben einen Anspruch zu haben? Dafür wurde ich… Mehr

Sven Richter
6 Jahre her

Wenn ich irgendwo neue Leute kennenlerne und mich vorstelle, dann ergänze ich immer gleich „… und ich bin Nazi und Rassist“. Sie glauben gar nicht, wie schnell man damit ins Gespräch kommt. Und Sie glauben nicht, wieviele Nazis und Rassisten es in Deutschland gibt.

wl
6 Jahre her
Antworten an  Sven Richter

Sehr schön Lieber Richter.
Ich stelle mich immer als „Veschwörungsspinner“ vor.

herbert b.
6 Jahre her
Antworten an  Sven Richter

Vielleicht sollte man Ihre Ergänzung noch erweitern, geehrter
Herr Richter, „…und ich bin Nazi, Rassist und Populist“. Was den
Verwendern der Palette dieser Verbalkeulen aber nicht bewußt
ist (was man ihnen wohl auch nicht verdeutlichen kann), ist die
eigene geistige Verstrickung, ihre Affinität und Faszination für
die (wahren) Nazis, Rassisten &Co. Eine von mir sehr geschätzte
Autorin hat einmal geschrieben (Gedächtniszitat): „Wer anderen
Ideologie vorwirft, hat sich schon in seiner eigenen verfangen“.
Das „geniale“ dieses Satzes ist die Austauschbarkeit (Substitution)
des Begriffes Ideologie – siehe oben.