Neue Strategie für die NATO: China ante portas

Eine Expertengruppe hat eine Reihe von Empfehlungen vorgelegt, wie die zunehmende Irrelevanz der NATO gestoppt werden kann. Die NATO-Außenminister nahmen diese anlässlich eines virtuellen Treffens zur Kenntnis.  

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Bundesaußenminister Heiko Maas, SPD, beim virtuellen NATO-Aussenminister-Treffen in Berlin am 01.12.2020

Was ist die NATO heute? Ein Relikt des Kalten Krieges, das den Schuss der Auflösung des Warschauer Paktes nicht gehört hat? Oder eine nach wie vor aktuelle Allianz von derzeit 30 Mitgliedstaaten, die sich gemeinsam gegen die Gefahren einer im Umbruch befindlichen Welt wappnen wollen? In der Tat hat die nordatlantische Allianz einen weiten Weg hinter sich: Gegründet 1949 von 12 Staaten, um die Sowjetunion aus Westeuropa heraus und die Deutschen klein zu halten, hat sie seit dem Zusammenbruch des Ostblocks mit Legitimationsproblemen zu kämpfen. Der ewige Friede ist aber nicht ausgebrochen und die Geschichte nicht zu Ende: Russland rüstet sich mit hochmodernen Waffen und China drängt mit starkem Selbstbewusstsein auf die weltpolitische Bühne. Tätigkeitsfelder gibt es auch heutzutage mehr als genug. 

Allianz von Ungleichen

Die NATO ist mittlerweile aber völlig aus dem Gleichgewicht geraten. Die Europäer finden kaum noch statt, die Friedensdividende haben sie reichlich eingefahren und das Militär vernachlässigt. Die Klage ist bekannt, zählbare Änderungen lassen auf sich warten. Nicht so die US-Amerikaner: Als einziges, zur globalen Machtprojektion fähige Land, dominieren sie die Allianz nach Belieben. Nicht erst Donald Trump beklagte die systematische Schwäche der Europäer, aber er hat die Kritik an der NATO mit der Vokabel „überflüssig“ auf die Spitze getrieben. Der französische Präsident Emmanuel Macron reihte sich mit der Bezeichnung „hirntot“ in die schrillen Bewertungen ein. Eine Antwort auf die offenkundig massiven Verspannungen innerhalb des Bündnisses muss nun her, soll der Weg ganz ins Abseits aufgehalten werden.

Nun stellt auch noch „China … eine potentielle Bedrohung dar“ so Thomas de Maizière. Als ob das eine Überraschung wäre. Die NATO soll sich in Zuge anstehender Reformen auch möglichen Gefahren aus dem wachsenden Neureich der Mitte zuwenden.  

Sultan Erdogans Erpressungspotential

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Immerhin ist es Trump und Macron nun gelungen, eine intensive Debatte loszutreten. Die von Generalsekretär Stoltenberg eingesetzte Expertengruppe hat eine Reihe brisanter Ideen vorgelegt. Eine dieser Empfehlungen ist, die Blockade von Bündnisentscheidungen zu erschweren. Am Prinzip der Einstimmigkeit in der NATO wird zwar nicht gerüttelt, Blockaden sollen aber künftig Ministern vorbehalten bleiben. “Der politische Preis für ein Veto wird so höher“ meinte de Maizière. Könnte allerdings sein, dass die Beamtenebene dann nicht mal mehr kleine Entscheidungen hinbekommt.

Einzelne Mitgliedstaaten tun sich regelmäßig damit hervor, eigene Interessen vor die der restlichen Allianzmitglieder zu stellen. Höheren Blockadehürden dürfte beispielsweise die Türkei aber niemals zustimmen, würde sich damit doch ihr Erpressungspotenzial verringern. Die Beispiele sind bekannt: Nach Türkei-kritischen Äußerungen der Kurz-Regierung erzwang Erdogan, die Zusammenarbeit der NATO mit Österreich einzuschränken. Hinzu kommen dessen Alleingänge in Nordsyrien und bei der Suche nach Gaslagerstätten im Mittelmeer, der Kauf eines russischen Raketenabwehrsystem, sowie der Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan um Bergkarabach. Dass sich Erdogan und Macron persönlich befehden, macht den Kohl kaum noch zusätzlich fett. 

Die NATO wird sich entscheiden müssen, was ihr wichtiger ist: ein Allianzmitglied Türkei mit Erpressungspotential aufgrund des Einstimmigkeitsprinzips. Oder eine aufstrebende Mittelmacht vor der Clubtür, von wo aus sich ebenfalls genügend Steine finden ließen, um NATO-Glasscheiben einzuwerfen. So oder so wird diese Entscheidung in Washington fallen, die Europäer dürfen dazu gerne ihre Meinung äußern. Eine EU, die Erdogans Autokratenstaat die Anwartschaft für einen Beitritt offenhält, besitzt keine Glaubwürdigkeit.  

Eine Formsache dürfte hingegen sein, künftig die Staats- und Regierungschefs von EU-Staaten ohne NATO-Mitgliedschaft am Rande von Gipfeltreffen einzuladen. Davon verspricht man sich, die von der Volksrepublik China ausgehenden Gefährdungen für die freie Welt verdeutlichen zu können. Ob es gelingt, damit die chinesische Expansion über Kredite und Infrastrukturvorhaben in einigen europäischen Staaten einzudämmen, wird sich zeigen. Der Erfahrung nach sitzt Bedürftigen das vorhandene Hemd näher als ein vager späterer Rock. 

Wie hältst Du es mit China?

„Wir müssen die Konsequenzen des Aufstiegs Chinas diskutieren“ so Jens Stoltenberg. „China ist kein Feind. Es bietet den NATO-Partnern riesige wirtschaftliche Möglichkeiten“ äußerte der NATO-Generalsekretär. Man beobachte Pekings Vorgehen im südchinesischen Meer ganz genau und sehe, „dass sie unsere Werte und Prinzipien der Demokratie nicht teilen – das zeigt sich etwa in Hongkong oder im Umgang mit Minderheiten“.

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Stoltenberg sieht die Zeit gekommen, ein neues strategisches Konzept für die NATO auch mit Blick auf China zu erarbeiten. Hierbei sollen die Erfahrungen von Staaten der Asien-Pazifik-Region einbezogen werden. Das Bündnis wolle sich auch mit den Partnern Japan, Australien und Neuseeland in Bezug auf die Konsequenzen beraten, die der Aufstieg Chinas erfordere. Das Land investiere unter Führung der kommunistischen Partei massiv in neue militärische Fähigkeiten. Neue Atomwaffen und Raketen könnten inzwischen alle NATO-Alliierten erreichen. Deshalb brauche die NATO eine „China-Strategie“ lies auch de Maizière verlauten. “Das heißt dezidiert nicht, dass aus dem transatlantischen auch in indo-pazifisches Bündnis wird. Es gibt außerhalb des transatlantischen Raums keine Sicherheitsgarantie.“

Im NATO-Reformbericht von 2010 unter Leitung der früheren US Außenministerin Madeleine Albright fand sich das Wort China kein einziges Mal, die Bedrohung durch Terrorismus wurde nur gestreift – und die Experten empfahlen, mit Russland eine „strategische Partnerschaft“ einzugehen. Diese Träume sind vorbei: Nachdem Russland die ukrainische Halbinsel Krim 2014 völkerrechtswidrig annektiert hat, rotieren seither NATO-Soldaten zum Schutz der Bündnispartner nach Polen und in die baltischen Staaten. Der zweigleisige Ansatz im Umgang mit Moskau aus Abschreckung und Dialog soll fortgesetzt werden. Es liege an Russland und nicht an der NATO, Gesprächsangebote wieder anzunehmen, betonte de Maizière.

Macron auf der Anklagebank

Der Ex-Verteidigungsminister sieht in der NATO nach wie vor eine „Lebensversicherung“ für Deutschland, das Bündnis müsse seine Relevanz aber aufs Neue beweisen. Die Arbeit in der internationalen Expertengruppe habe ihm verdeutlicht, dass so manche Debatte sehr deutsch sei: etwa jene über das lange verabredete Ziel, zwei Prozent der Wirtschaftsleistung in Verteidigung zu stecken. Der Expertenbericht bekennt sich zu dieser Marke, die bis 2024 alle NATO Mitglieder erreichen sollen. Für die Bundesrepublik wünscht er sich, dass in der Öffentlichkeit „offener und ohne übertriebene Schärfe über neue russische Waffensysteme“ sowie über die „Kosten von Sicherheitspolitik oder nukleare Abschreckung“ gesprochen werde.

Scharf wendet sich der CDU-Politiker gegen die Forderung Macrons nach einer strategischen Autonomie der Europäer: “Es ist unstreitig, dass die EU mehr für ihre eigene Sicherheit tun muss – aber nicht autonom.“ Wie die deutsche Verteidigungsministerin halte er solche Vorschläge für „entweder naiv oder gefährlich“. Kritik übte de Maizière nicht zuletzt an der Europäischen Union. „Ich fände es gut, wenn die EU mehr handelt und weniger übertrieben redet“. In der Zusammenarbeit mit der NATO gebe es eine „Diskrepanz zwischen Rhetorik und Taten“. (Siehe Süddeutsche Zeitung vom 2. Dezember 2020)

Grob im Ton vergriffen

Ob das der richtige Ton dem französischen Präsidenten gegenüber ist, darf bezweifelt werden. Man muss dessen Meinung keineswegs teilen, aber Macron in aller Öffentlichkeit als naiv oder gar gefährlich zu bezeichnen, geht auch unter engen Partnern ein paar Schritte zu weit. Das sind Erdogan-Töne, die verbieten sich im Interesse einer vertrauensvollen Zusammenarbeit. Dem französischen Präsidenten und engen Partner zu antworten, wäre normalerweise Sache der Kanzlerin. Der französische Präsident wird bei seinen wiederholten Vorschlägen auch ureigene französische Interessen im Hinterkopf haben. Das ist nicht verwerflich, jedes Land hat eigene Interessen. Die Atmosphäre wird aber vergiftet, wenn diese pauschal als halbgare Ideen eines Egoisten abgetan werden.

Gegenvorschlag: Sich mit den Franzosen an einen Tisch setzen und in ernsthafte Gespräche eintreten. Im Ergebnis eines ersten Schrittes könnte man sich auf abgestimmte militärische Maßnahmen verständigen, um den europäischen Pfeiler der NATO wieder halbwegs aufzurichten. Das wäre gut für die NATO, gut für die Europäer und auch noch im Sinne der Amerikaner. Schließlich fordern diese seit langem höhere Verteidigungsanstrengungen der Europäer. Das bringt noch lange keine strategische Autonomie, aber würde wenigstens die Glaubwürdigkeit steigern. Das wäre schon mal was.


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Kommentare ( 19 )

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EURO fighter
3 Jahre her

Ja ja, die bösen Russen haben einfach so die Krim annektiert. Dass die dortigen Bewohner mit überwältigender Mehrheit (ca. 90%) zu Russland gehören wollten, spielt im Land der Scheindemokratie, wo die Kanzlerin Wahlen rückgängig machen kann, keine Rolle.

Iso
3 Jahre her

Seit der Auflösung des Warschauer Pakts, hat die Nato komplett versagt. Friedensstiftend war die erbrachte Leistung der letzten 30 Jahre nicht. Angesichts der Militärbudgets, die die 30 Mitglieder aufgebracht haben, hätte man einen ganzen Kontinent erobern, befrieden, und auf ein hohes Lebensniveau bringen können. Um so erbärmlicher das Ergebnis. Jugoslavien, Irak, Afghanistan, Ukraine, Libyen, und dazu eine riesige Fluchtwelle nach Europa. Die Nato hat keinen Krieg gewonnen, ausser viellecht Kosovo.

Aegnor
3 Jahre her

Also ich halte von Macron auch nicht viel. Aber ihm in beleidigender Form vorzuwerfen, er sei für eine autonome europäische (de facto französische) Verteidigungsbereitschaft, während wir Deutschen nach 15 Jahren Merkel überhaupt keine einsatzbereite Armee mehr aufweisen (weder autonom, noch im Rahmen der Nato), die aber trotzdem >45 Miliarden € pro Jahr verschlingt, ist schon ein starkes Stück. Es ist Merkels Politik, die, aus purer Angst und Appeasement, den Sultan am Bosporus seit Jahren am Leben erhält und ihm seine Eroberungskriege mittels deutscher Steuergelder überhaupt erst ermöglicht. Man hätte ihm schon längst den Stecker ziehen können. Stattdessen wird sich mit… Mehr

Andreas aus E.
3 Jahre her

Sicher kommt die Bedrohung von Innen. War doch schon immer so, siehe Troja.
Aber wer bezahlt die Party? Da ist doch in erster Linie an China zu denken, in Peking dürfte man sich gerade bepixxe vor Lachen, wie sich der „Westen“ derzeit selbst zu Grabe trägt.

Andreas aus E.
3 Jahre her

5 Großprojekte:

Genderismus
Dekolonisierung.

Andreas aus E.
3 Jahre her

China ante portas? Huch, kaum ist der böseste aller Bösewichte (vermutlich und leider) weg, schon fabulieren die, was der immer gesagt hatte, aber stets als Rabulistik bezeichnet und verurteilt worden war?

Nein, Eurasien war nie im Krieg mit Ozeanien…

Talleyrand
3 Jahre her

Der Jens, die allerhellste Leuchte am NATO Himmel hat China entdeckt. Ein Wunder! Bisher hatte er den Feind in Rußland vermutet und umzingelt, dieweil die Mao Kapitalisten bereits durch sämtliche Hintertürchen in alle westlichen Gefilde eindiffundiert sind und ziemlich viel davon aufgekauft haben. War wohl ein bißchen daneben, die Strategie unserer Jungs. Ob sie wohl dem Wladimir nächstens ein wenig Honig um den Bart schmieren, die Sanktionen lockern, damit er mit den Chinesen schimpft? Die Russen haben z.Z. bekanntermaßen ein noch immer beeindruckendes militärisches Gewicht im Gegensatz zu großen Teilen der NATO.

Andreas aus E.
3 Jahre her
Antworten an  Talleyrand

Manche der „großen Teile der NATO“ dürften doch längst zu China gehören.

Talleyrand
3 Jahre her
Antworten an  Talleyrand

Was tut man denn als direkter Nachbar Chinas, wenn man die verrückte NATO am Hals hat? Man versucht die Zweifrontenlage zu entschärfen. Es ist noch nicht allzulange her, da hat es am Amur schon mal geknistert.

Nachrufer
3 Jahre her

In den Zusammenhang passt ein „Daily Mail“-Bericht mit der Überschrift
„Leaked files expose mass infiltration of UK firms by Chinese Communist Party including AstraZeneca, Rolls Royce, HSBC and Jaguar Land Rover“. Der Link dazu:https://www.dailymail.co.uk/news/article-9046783/Leaked-files-expose-mass-infiltration-UK-firms-Chinese-Communist-Party.html

Dieter Rose
3 Jahre her

Die kriegen ja nicht mal ne Eröffnungsfahrt ohne Pannen hin
(Zürich – München strandet in Hergatz auf einem Gleis ohne Oberleitung)
und da wollen die gegen China ziehen!

Andreas aus E.
3 Jahre her
Antworten an  Dieter Rose

Solche Peinlichkeiten sind natürlich immer ein Schenkelklopfer – übler aber, daß es vermutlich später im Regelbetrieb nicht besser sein wird. Ich „bewundere“ nur die Pünktlichkeit der DB. Die sabbeln dann gern, ja, hier wird gebaut, da wird gebaut, da kommt was neu, darum so schwer und pipapo. Was für ein Dünnsinn! Die olle Beamtenbahn, erst Reichsbahn, dann Deutsche Bundesbahn, hatte auch alle naslang umgebaut, Dampflok – Diesellok – E-Lok, fernesteuerte Signale und Weichen statt Streckengänger usw. Aber ich kenne das noch so, daß man nach durchfahrendem D-Zug Uhr stellen konnte. Es düften da absolute Nullnummern an der Spitze des Staatsbetriebes… Mehr

Franz Grossmann
3 Jahre her

Politiker wie Thomas de Maizière gibt es viele in Berlin, ohne Rückgrat, ohne Statur und eigene Meinung, willenlose Diener von Merkel. China wird wirtschaftlich, militärisch und politisch zur stärksten Macht aufsteigen. Militärisch kann Russland noch mithalten, aber auf allen anderen Gebieten liegen sie bereits jetzt weit zurück. Deutschland hat keine funktionierende Armee mehr und ist wirtschaftlich bereits sehr stark von China abhängig. Europa insgesamt kann man im Vergleich zu China bereits abhaken. Ob die USA in der Lage sind, mit China auf mittlere und lange Sicht mitzuhalten, ist unklar. Wenn man das politische System in den USA betrachtet, dass jetzt… Mehr