Ein Lichtblick im Kreml

In Deutschland wurde er geliebt, in Russland verachtet: Jetzt ist Michail Gorbatschow, der Erfinder von Glasnost und Perestroika, in Moskau gestorben.

IMAGO / agefotostock

Unter Blinden ist der Einäugige König, lautet ein deutsches Sprichwort. Mit diesen etwas despektierlichen Worten könnte man die Rolle Michail Gorbatschows charakterisieren, der von 1985 bis 1991 an der Spitze der Sowjetunion stand. Vergleicht man ihn mit seinen Vorgängern von Lenin bis Konstantin Tschernenko war Gorbatschow in der Tat ein Lichtblick im Kreml. Doch die in Deutschland vorherrschende Verehrung des Generalsekretärs der KPdSU übersieht, dass er das sowjetische sozialistische System nicht abschaffen, sondern reformieren wollte – damit es überlebt.

Geboren wurde Gorbatschow, den ein Feuermal auf der Stirn kennzeichnete, am 2. März 1931 im Nordkaukasus. Seine Eltern arbeiteten in einem Kolchos. Er selbst wurde in seiner Heimat nach einem Jura-Studium in Moskau hauptamtlicher Parteifunktionär. Nachdem er 1970 Erster Sekretär der KPdSU in der Region Stawropol geworden war, wurde er auch Mitglied des Obersten Sowjet und des Zentralkomitees (ZK).

Mit Unterstützung des KGB-Chefs und Politbüromitglieds Jurij Andropow wurde Gorbatschow 1978 ZK-Sekretär für Landwirtschaft. Kurz darauf zog er auch ins Politbüro ein. Nachdem die Sowjetunion jahrelang nur von greisenhaften Parteichefs gelenkt worden war, wurde er im März 1985 mit 54 Jahren zum Generalsekretär der KPdSU gewählt.

Im Gegensatz zu seinen Vorgängern wollte Gorbatschow nicht nur den Status quo verwalten. Zwar lobte er in seinen ersten öffentlichen Auftritten formelhaft den Marxismus-Leninismus, doch bald begann er mit einschneidenden Reformen: Bereits im Mai 1985 beschloss das ZK „Maßnahmen zur Überwindung der Trunksucht und des Alkoholismus“. Mit einer jahrelangen, aber letztlich erfolglos gebliebenen Kampagne versuchte er, dem übermäßigen Alkoholkonsum in der Sowjetunion entgegenzuwirken.

Im Oktober 1985 stellte Gorbatschow dann sein Programm zum Umbau („Perestroika“) der Wirtschaft vor. Die darnieder liegende Staatswirtschaft sollte durch Einführung marktwirtschaftlicher Elemente auf Trab gebracht werden. Einen Monat später traf er sich zum ersten Gipfel mit US-Präsident Ronald Reagan über Abrüstungsfragen, wenig später legte er einen Plan für den Abbau aller Atomwaffen vor. Im Februar 1986 verkündete Gorbatschow schließlich auf einem Parteitag eine neue Politik der Offenheit, wofür er den Begriff „Glasnost“ erfand.

Der Umgang mit der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl im April 1986 zeigte freilich, dass sich bis dahin außer der Rhetorik in der Sowjetunion nicht allzu viel geändert hatte. Erst zweieinhalb Wochen nach dem Unglück gab Gorbatschow die erste öffentliche Stellungnahme dazu ab. In dieser Zeit verbreitete sich die radioaktive Wolke über große Teile Europas.

Doch in der Folgezeit erwies sich Gorbatschow als Politiker mit Realitätssinn, der zur Lösung bestehender Probleme zu Veränderungen bereit war: Im Dezember 1986 durfte der Regimekritiker Andrei Sacharow aus der Verbannung zurückkehren. Ein Jahr später unterzeichnete er in Washington einen Vertrag über die Beseitigung aller Mittelstreckenraketen, die Anfang der 1980-er Jahre noch zu heftigen Spannungen zwischen der Nato und dem Warschauer Vertrag geführt hatten. Im Februar 1988 kündigte er den Abzug aller sowjetischen Truppen aus Afghanistan an, wo in einem zehnjährigen Krieg fast mehr als 25.000 Rotarmisten gefallen waren.

In dieser Zeit begann Gorbatschows zweite Karriere: als Held der Deutschen. Die Hoffnung auf ein Ende des Ost-West-Konfliktes und die Vereinbarkeit von Sozialismus und Demokratie brachte ihm sowohl in der DDR als auch in der Bundesrepublik große Sympathien ein. Diese wuchs noch, als er im Juli 1989 auf einer Gipfelkonferenz die sogenannte Breschnew-Doktrin widerrief und jedem sozialistischen Staat zugestand, selber über seine eigene Entwicklung bestimmen zu dürfen. Die Folge waren Reformen und Demonstrationen in allen Ostblockstaaten, was die dortigen Diktaturen in kurzer Zeit zusammenbrechen ließ.

Am Ende erging es Gorbatschow wie Goethes Hexenmeister: Die Kräfte, die er für eine Wiederbelebung des Sozialismus nutzen wollte, konnte er nicht mehr kontrollieren. Nachdem die Ostdeutschen bei den ersten freien Wahlen im März 1990 ein klares Votum für die Wiedervereinigung abgegeben hatten, stimmte er zähneknirschend dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik zu. Als notwendige Konsequenz musste er auch den Abzug der sowjetischen Truppen aus Deutschland akzeptieren, den er sich MIT umgerechnet mehr als 11 Milliarden Euro bezahlen ließ.

Doch nun zerfiel auch sein eigenes Reich im Zeitraffertempo: Die Republiken der Sowjetunion erklärten eine nach der anderen ihre Unabhängigkeit. Hatten sowjetische Militärs im Januar 1991 noch versucht, die Abspaltung Litauens gewaltsam zu verhindern, beendete Gorbatschow das Blutvergießen und stellte im März klar, dass es allen Republiken freistehe, die UdSSR auf verfassungsmäßigem Wege zu verlassen.

Um seinen Staat zu retten, wollte er im August 1991 einen Vertrag unterzeichnen, der eine Föderation unabhängiger Republiken vorsah. Um dies zu verhindern, putschten konservative Kräfte in Moskau und stellten ihn in seiner Urlaubsresidenz unter Hausarrest. Doch Gorbatschow war standhaft genug, seine Unterschrift unter die ihm vorgelegten Dokumente zur Machtübernahme zu verweigern. Der Putsch scheiterte schließlich, weil sich große Teile der Sicherheitskräfte auf die Seite des russischen Präsidenten Boris Jelzin stellten. Die UdSSR löste sich auf und Russland wurde ihr Rechtsnachfolger.

In seinem Heimatland wird Gorbatschow deshalb oft als Totengräber der Sowjetunion betrachtet. Für viele ist er der Verursacher der „größten geopolitischen Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ – wie Wladimir Putin den Zusammenbruch der Sowjetunion 2005 nannte. Seine zaghaften Versuche für ein politisches Comeback, etwa bei den Präsidentschaftswahlen 1996, scheiterten kläglich. Die Kritiker übersehen dabei freilich, dass die Alternative zu Gorbatschows Politik nur der Einsatz von Gewalt gewesen wäre – so wie sie sein Nach-Nachfolger im Kreml derzeit auf brutalste Weise in der Ukraine praktiziert.

Die Deutschen haben Gorbatschow deshalb viel zu verdanken. Anders als beim Aufstand am 17. Juni 1953 blieben die sowjetischen Panzer in den Kasernen, als im Herbst 1989 in der DDR immer mehr Menschen auf die Straße gingen. Die etwa 500.000 in Ostdeutschland stationierten Rotarmisten stellten sich auch nicht der Wiedervereinigung entgegen. Sogar als Putin versuchte, im Dezember 1989 sowjetische Soldaten zum Schutz seiner KGB-Residentur in Dresden zu bekommen, blitzte er beim zuständigen Kommandeur ab – weil der keinen Befehl dazu hatte. „Moskau schweigt,“ erinnerte sich Putin später empört an die ihm erteilte Antwort.

Der Mann, der in Ostdeutschland keine Soldaten ausrücken lassen wollte, ist am 30. August in einem Moskauer Krankenhaus gestorben.


Der Autor ist Historiker. In einem Video hat er kürzlich das ehemalige Hauptquartier der Roten Armee in Ostdeutschland erforscht. Mehr Informationen auf www.hubertus-knabe.de

Anzeige

Unterstützung
oder

Kommentare ( 31 )

Liebe Leser!

Wir sind dankbar für Ihre Kommentare und schätzen Ihre aktive Beteiligung sehr. Ihre Zuschriften können auch als eigene Beiträge auf der Site erscheinen oder in unserer Monatszeitschrift „Tichys Einblick“.
Bitte entwerten Sie Ihre Argumente nicht durch Unterstellungen, Verunglimpfungen oder inakzeptable Worte und Links. Solche Texte schalten wir nicht frei. Ihre Kommentare werden moderiert, da die juristische Verantwortung bei TE liegt. Bitte verstehen Sie, dass die Moderation zwischen Mitternacht und morgens Pause macht und es, je nach Aufkommen, zu zeitlichen Verzögerungen kommen kann. Vielen Dank für Ihr Verständnis. Hinweis

31 Comments
neuste
älteste beste Bewertung
Inline Feedbacks
Alle Kommentare ansehen
giesemann
2 Jahre her

Das lag aber nicht an Gorbatschow, sondern an Jelzin und den Oligarchen/Kleptokraten. Russland dürfte eines der reichsten Länder dieser Erde sein – es kömmt darauf an, was man daraus macht. Mit Betonköpfen geht es eher nicht.

Gruger1
2 Jahre her

„Die Kritiker übersehen dabei freilich, dass die Alternative zu Gorbatschows Politik nur der Einsatz von Gewalt gewesen wäre – so wie sie sein Nach-Nachfolger im Kreml derzeit auf brutalste Weise in der Ukraine praktiziert.“ War da nicht noch einer dazwischen der den Ausverkauf Russlands gerne hingenommen hat und soweit mir in Erinnerung sogar mit Panzern für Ruhe gesorgt hat? Erst seit Putin übernommen hat ist Besserung für Russland eingekehrt und zwar in allen Belangen. Was der Mann die letzten Jahrzehnte aus Russland gemacht hat ist meiner Meinung nach bemerkenswert. So gut wie Schuldenfrei, Armut beseitigt, Wirtschaft stabilisiert, Korruption eingedämmt, etc..… Mehr

Johanna
2 Jahre her

Dank Gorbatschow konnte unsere nach dem Mauerbau zerrissene Familie wieder zusammen kommen. Ich werde ihm dafür immer dankbar sein und ihn verehren. Er hat nicht gegen sein eigenes Volk gehandelt. Er hat die durch Gewalt gesicherte Vorherrschaft der Sowjetunion über Osteuropa beendet. Danke, Michail Gorabtschow.

Grumpler
2 Jahre her

dieser Irrsinn der Grenzöffnung Bitte wie meinen? Sind Sie sich im Klaren darüber, was Sie damit vollumfänglich sagen? Nur ein Beispiel, wieso es gut war, dass dieses marxistisch-leninistische Unsinnsexperiment, das nur floskelweise menschenfreundlich war, beendet wurde: Das Politbüro beabsichtigte mit der NVA und anderen befreundeten verbündeten sozialistischen Armeen in Polen einzumarschieren, um die Solidaritätsbewegung niederzuschlagen. Zudem war die ideologisch verursachte anhaltende Ignoranz der wirtschaftlichen Realität nicht mehr aufrechtzuerhalten. Der ganze sozial-ökonomisch theoretische Unsinn war eben doch nur das: Unsinn. Die Realität aber echt und die war umbarmherzig — so wie sie es für uns wieder sein wird, weil einige Ahnungslose… Mehr

giesemann
2 Jahre her

Die Rolle Gorbatschows gut beschrieben. So nach dem Motto: Mit Wodka Gorbatschow gegen die Trunksucht. Ob nicht womöglich Mathias Rust mit seinem Flug nach Moskau und seiner Landung auf dem Roten Platz mehr getan hat für den „Umbau“ als Michail Sergejewitsch selbst? Indem er die Schwäche der Russen offenbar werden ließ? Sagen wir es so: Er war ein Glücksfall in der „Gechichte“ der Deutschen – und ein Unglücksfall in der Geschichte der Russen. In beiden Fällen eher aus Versehen. Den menschlichen Eigenschaften dieses Mannes tut das keinen Abbruch, möge er in Frieden ruhen. Den Feinden Gorbis in Russland müssen wir… Mehr

FKR
2 Jahre her

Gorbatschow war der Einzige,der im Interesse seines Volkes handelte.
Der Nomenklatura passte das nicht.Aber Das ist ja immer so bei einem Reset.
Die UdSSR war pleite,weil sie mehr verbrauchte als sie produzierte.
Es folgte Megainflation und Arbeitslosigkeit. Das haben sie dann Gorbatschow
In die Schuhe geschoben, aber angefangen hat alles am 7.November 1917.

doktorcharlyspechtgesicht
2 Jahre her

Gorbatschow hat uns eine gewaltfreie Wende ermöglicht und die Führung der DDR deutlich als das vorgeführt, was sie trotz vielerlei anderslautenden Bekundungen z.Bsp. von seiten Egon Krenz‘ war: eine von der UdSSR abhängige Vasallenregierung, die keinen Rückhalt in der Bevölkerung hatte. Wenigstens hier war das Politbüro dann auch einsichtig. Die Geschicke der DDR im Großen wurden in Moskau, nicht in Ostberlin, entschieden. Trotz anderslautender offizieller Propaganda hat die UdSSR der DDR-Führung niemals vertraut. Ohne Gorbatschows Zustimmung hätte es kein gewaltfreies Ende der DDR gegeben. Gorbatschow hat in seiner Amtszeit immer auf Frieden, Abrüstung und internationale Ordnung hingewirkt; welcher Politiker kann… Mehr

giesemann
2 Jahre her

Sie sprechen die Rolle Jelzins bei dem Geschehen an; sehe ich ganz ähnlich. Aber immerhin hat es Gorbatschow geschehen lassen. DAS ist vielleicht sein größtes Verdienst. Erinnere an den Putschversuch gegen G. und Jelzin, als der sich auf einen Panzer gestellt hat und das Ende des Putsches erklärt hat. Was für eine Szene! Und erst die Szene vor der Staatsduma! Jelzin sagt dem verdutzten G. am Rednerpult: LIES! Und der hat den Text Jelzins verlesen und damit das Ende der SU besiegelt. Er, der Präsident der SU. Dann der letzte. Auf Geheiß von Jelzin … . Das ist Drama nach… Mehr

Aljoschu
2 Jahre her

Die ganz großen Staatsmänner – und ihre größten Verräter Mir fallen nur zwei Namen der Größten ein: 1. Michail Gorbatschow und 2. Nelson Mandela. Danach kommt lange, lange niemand. Gorbatschow läutete im Dezember 1988 das Ende des Kalten Krieges ein, aber er konnte nicht wissen, dass dieses Läuten ausschließlich die Sowjetunion betraf – nicht aber den anderen Kontrahenten des Kalten Krieges, die USA. Im Gegenteil, der dumme Westen und die NATO feierten ihren Sieg über das „Reich des Bösen“, den Sieg des Kapitalismus über den Kommunismus, aber von einem gleichzeitigen Einläuten des Endes des Kalten Krieges im Westen, in Washington,… Mehr

bkkopp
2 Jahre her

Die BBC wiederholt heute ein Interview mit Gorbatschow von 2014. Die Übersetzung mit Untertiteln ist zwar nicht die Größte, aber es lohnt sich trotzdem genau hinzuhören. Weder die russischen Eliten nach ihm, noch die westlichen Politiker haben es genug getan. Auch wenn es heute noch nicht danach aussieht, die Zukunft Russlands, und unsere europäische Nachbarschaft mit Russland, hängt von den geistigen Nachfolgern Gorbatschows ab.

drnikon
2 Jahre her

Hm? Sagen wir mal so, im Rückblick. Die deutsche Wiedervereinigung war die erste NATO Osterweiterung. Die Russen, damals Sowjets, räumten kampflos das besetzte Gebiet. Westdeutschland wurde weiterhin von den Westalliierten beschützt.

Grumpler
2 Jahre her
Antworten an  drnikon

Hm! Ich hätte auf Griechenland und die Türkei getippt. Vor allem, weil in letztgenannter, damals ein direktes Nachbarland der UdSSR, auch strat. Raketen standen.
Nach 2+4-Vertrag durfte die NATO keine Einrichtungen in den neuen Ländern aufbauen und unterhalten, nur dt. Truppen sollten sich dort aufhalten dürfen. Daran haben wir uns gehalten.
Eine EG-Mitgliedschaft war ebenso akzeptiert worden.
Eine Osterweiterung der NATO zu begrenzen oder zu unterbinden hatte man zu diesem Zeitpunkt gar nicht angestrebt, weil der Warschauer Pakt ja noch bestand. Wer hätte der NATO damals beitreten sollen? Jugoslawien? Österreich?