Was der Fall von Kabul mit dem Verfall des deutschen Parteienstaates zu tun hat

Statt "Mutti"-Rhetorik hätte es der Bundeskanzlerin angestanden, als sofortige Reaktion auf das eklatante Versagen des Außenministeriums und des Verteidigungsministeriums beide Minister zu entlassen und für die Rest-Laufzeit ihrer Kanzlerschaft diese Ressorts selbst zu verwalten.

IMAGO / photothek

Systemwechsel vollziehen sich mit der ihnen eigenen Dynamik. Besonders schnell geht es, wenn die bisherige „Schutzmacht“ ihren Schutzbefohlenen – meistens ein Satellitenstaat mit einer Marionetten-Regierung – die Unterstützung entzieht. So geschehen 1989 anlässlich der 40-Jahr-Feier zum Bestehen der DDR. Kaum hatte Gorbatschow deutlich gemacht, dass die Sowjetunion in Transformationsprozesse des deutschen Teilstaats nicht eingreifen würde, war es um das Schicksal von Honecker und Co. geschehen. Vor den Augen der Weltöffentlichkeit erlebte das SED-Regime den totalen Verlust seiner Ordnungsmacht.

Es hat allen Anschein, dass die Repräsentanten deutscher Parteipolitik diesen Regime-Wechsel nicht mehr hinreichend in Erinnerung haben. Anderenfalls hätten sie wissen müssen, was in Afghanistan geschehen wird, nachdem Amerika bei den Verhandlungen mit den Taliban in Doha unwiderruflich erklärt hatte, dass bis zum 20. Jahrestag der Anschläge auf das World Trade Center (11.9.2021) Afghanistan von fremden Truppen geräumt sein werde. Wer so weit mit seinen Zugeständnissen geht, darf sich nicht wundern, wenn die Gegenseite zu keinerlei Verhandlungen mehr bereit ist. Daher ist bereits der Abzug der Amerikaner und ihrer Verbündeten, darunter die treuen Soldatinnen und Soldaten der deutschen Bundeswehr, der Startschuss für den Verfall der afghanischen Regierung gewesen.

Darüber gab es Mutmaßungen und Befürchtungen beim deutschen Botschaftspersonal. Doch die Geheimdienste der NATO haben entweder darüber nichts gewusst oder haben die entsprechenden Informationen nicht weitergegeben. Jedenfalls war sich niemand darüber im Klaren, dass weder Polizei noch Streitkräfte – in vielen Jahren mit unzähligen Milliarden in Afghanistan hochgepäppelt – nicht bereit waren, gegen die Taliban zu kämpfen. Diese dramatische Fehleinschätzung und das darin zum Ausdruck kommende dilettantische Unterlassen der politischen und militärischen Aufklärung kann nicht dadurch beschönigt werden, dass – wie die Bundeskanzlerin behauptet – „wir uns alle geirrt haben“. Ein Fehler wird nicht dadurch relativiert, dass er von der gesamtem politischen „Elite“ begangen wird.

In diesem Fall ist zu klären, welche Rolle der in der Organisationsgewalt des Bundeskanzleramts stehende BND gespielt bzw. welche Unterlassungen er zu verantworten hat und weshalb die militärische Aufklärung, für die der Generalinspekteur der Bundeswehr, General Zorn, zuständig ist, bei der Information der Bundesministerin der Verteidigung so eklatant versagt hat. In dieser Situation die Verantwortlichkeit kleinzureden, belegt den unbedingten Willen der deutschen Parteienoligarchie, Rücktritte als Konsequenzen aus einem eklatanten Regierungsversagen grundsätzlich auszuschließen.

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Statt Rekurs auf die „Mutti“-Rhetorik zu nehmen und Deutschland und seine Regierung im Konzert der Versager harmonisch einzuordnen, um die eigene Verantwortung kleinzureden, hätte es der Bundeskanzlerin angestanden, als immediate Reaktion auf das eklatante Versagen des Außenministeriums und des Verteidigungsministeriums beide Minister zu entlassen und für die Rest-Laufzeit ihrer Kanzlerschaft diese Ressorts selbst zu verwalten. Stattdessen geht es im Mutti-Modus weiter, und zwar im Vertrauen darauf, dass die Deutschen zur Revolte gegen die Parteienoligarchie unwillig bleiben.

Derweil hören wir von den prominentesten Plauderern der bundesdeutschen Parteipolitik geradezu surrealistische Vorschläge, um die Situation in Afghanistan zu retten. So verbreitete sich der Dressman der CDU, Norbert Röttgen, immerhin Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, im Deutschlandfunk mit der Empfehlung, die Bundeswehr solle nunmehr in Kampfeinsätzen die Taliban zurückdrängen. Diese Vorschläge eines Ungedienten, der in seinem Leben weder gearbeitet hat, noch jemals ein Gewehr in Händen hielt, sondern als Berufspolitiker seine Diskurse über den öffentlich-rechtlichen Rundfunk verbreitet hat, veranschaulicht den Verfall des politischen Führungspersonals unseres Landes. Ihr Verhalten belegt die Ahnungslosigkeit einer Pseudo-Elite, ihr tumbes Dahindämmern und den unbedingten Willen, im Gleichschritt mit dem großen Bruder in Amerika alle Dummheiten zu begehen, die sich die Vereinigten Staaten von Amerika bei ihren Auslandsinterventionen bislang geleistet haben.

Doch obschon auch die GEZ-Medien nicht umhinkönnen, von der beschämenden Realität des Falls von Kabul zu berichten, gelingt es ihnen auch immer wieder, die Provinzialismus-These des unlängst verstorbenen Literaturkritikers Karl Heinz Bohrer in ihren Programmen zu veranschaulichen. Bohrer hatte in vielen Aufsätzen innerhalb seiner Zeitschrift Merkur die These verfochten, dass die damalige Bundesrepublik Deutschland ein Bruttosozialprodukt ohne politische raison d’être sei. Sein Tod hindert ihn daran, die Possen deutscher Provinzialität beim Fall von Kabul zu kommentieren. Aber die Berichterstattung der GEZ-Medien spricht für sich. Denn am Morgen des 17.08.2021 – nach den dramatischen Geschehnissen in Kabul – meldete der Deutschlandfunk im Morgenmagazin an erster Stelle:

„Der Landrat des Landkreises Ahrweiler hat in Anbetracht seiner Unterlassungen bei der Weiterreichung von Unwettermeldungen an den Katastrophenschutz seine Bereitschaft erklärt, sein Amt ruhen zu lassen.“


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Kommentare ( 51 )

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josefine
3 Jahre her

Man hätte die Mi isterien für die Restlaufzeit von den Staatssekretären verwalten lassen können. Mehr Schaden als die beiden Minister hätten die Ersatzleute auch nicht anrichten können.
Es ist blamabel, dass die Kanzlerin nie ein Exempel statuiert hat.
Es gäbe noch so einige Minister, die im Laufe der Zeit viel Schaden angerichtet haben und immer noch ihre stattlichen Gehälter bekommen.
Wohin man auch schaut, überall herrscht Versagen.

Enrico Stiller
3 Jahre her

Haben wir ein Intelligenzproblem in unseren politischen und medialen Eliten? Die Fälle Röttgen, Maas, Baerbock, Laschet und viele, viele mehr scheinen das nahezulegen. In der Ökonomie gibt es „Gresham’s Law“ – Bad money drives out good money. Ist es im deutschen politischen Feld ähnlich? „Moralizing drives out analyzing“? Nicht nur im Verhalten, auch in der Personalauswahl scheint es das Problem zu geben, dass mindere Qualität die bessere heraustreibt. Das mag daran liegen, dass „management by champignon“ betrieben wird. Sobald sich ein Köpfchen herausstreckt: Abschneiden! Gute Leute neben einem selbst könnten einen ja schlecht aussehen lassen. Es ist bekannt, dass Angela… Mehr

moorwald
3 Jahre her

Das Grundgesetz atmet, besonders in seinen ersten 20 Artikel, den Geist des „nie wieder“, der seine Schöpfer angesichts der beispiellosen Katastrophe beseelte. Entsprechend versuchte man „Sicherungen“ einzubauen, sogar eine „Ewigkeitsgarantie“ – die allerdings eher deklamatorischen Wert haben. Was sich die Väter des GG allerdings in ihren schlimmsten Träumen nicht vorstellen konnten, war eine Staatsspitze die durch die Namen Merkel, Maas, Spahn, Altmaier, Kramp-Karrenbauer hinreichend charakterisiert ist. Und so liegt eine gewisse Tragik, darin, daß wir zwar eine sehr gute geschriebene Verfassung haben – daß sie aber in gewissem Sinne antiquiert ist. Politische Wirklichkeit und Verfassung waren noch nie so wenig… Mehr

moorwald
3 Jahre her
Antworten an  moorwald

Ja, 146, nicht 176 – sehe ich genauso. Das GG würde ich trotzdem nicht als schlecht bezeichnen. Zur Zeit seiner Entstehung war es wohl das Optimum. Aber tempora mutantur…

Juergen P. Schneider
3 Jahre her

Der Dilettantismus der deutschen Außenpolitik hat in Afghanistan sein Vietnam erlebt. Außenpolitik war in den vergangenen Merkel-Jahren nichts anderes als touristisches Reisen des Außenministers mit der Übergabe deutscher Geldgeschenke nebst moralisierendem Geschwafel vor den Kameras. Unter Genscher war die deutsche Außenpolitik eine Veranstaltung der leisen Töne. Durch zurückhaltendes Agieren, abgesichert durch die diplomatischen Kanäle, versuchte man auf leisen Sohlen, deutsche Interessen zumindest teilweise international durchzusetzen. Heute steht an der Spitze des Außenamtes ein moralisierender Dilettant, der nicht einmal in der Lage wäre, deutsche Interessen auch nur zu formulieren, geschweige denn sie durchzusetzen. Da wo er hätte handeln müssen, versagte er… Mehr

moorwald
3 Jahre her
Antworten an  Juergen P. Schneider

Im Grunde sind ja alle Politiker „Dilettanten“ – Die Unterschiede sind nur graduell – aber genau auf die kommt es an. Max Weber fordert „Leidenschaft und Augenmaß“. Man könnte auch Klugheit und Charakterstärke, evtl noch ein Mindestmaß an Bildung wünschen.

Wolodja P.
3 Jahre her

Eine Frau, die schon als Bundeskanzler nichts Gescheites auf die Reihe brachte, sollte sich vorübergehend zusätzlich noch zwei Ressorts aneignen?
Ich habe schon bessere Vorschläge gehört: Entlassung aller Minister und Rücktritt als Bundeskanzler. Sofortige Neuwahlen mit offener Kandidatenliste.

Mausi
3 Jahre her

Wer überhaupt noch Mumm hat, wird nicht gehört. Denn was sich durch Manipulation als „Mehrheit“ darstellt, hat recht. Ist so bei Corona, bei Energiewende oder Klima. Oder bei Regenbogen mit offenen Grenzen und offener Börse.

Und demnächst scheitert es schon am Wissen. Dafür sorgen Schule, Unis und Medien. Alles, was abseits der Parteilinie liegt, wird nur noch ausgebremst werden durch krachendes Scheitern an der Realität. Und das wird dann durch die Medien vertuscht, bis es auch im Leben des Letzten angekommen ist.

josefine
3 Jahre her
Antworten an  Mausi

„Und demnächst scheitert es schon am Wissen.“
Zum Schuljahr 2021/22 werden in mehreren Bundesländern (u.a. in Berlin und in NRW) sogenannte Quereinsteiger die Schüler unterrichten.
Da sehen wir, welchen Stellenwert die Bildung in unserem Land hat. Es ist kein Wunder, dass unsere Schüler bei internationalen Wissensvergleichen immer weiter abrutschen.
Ich verstehe die Eltern nicht, die nicht aus die Barrikaden gehen und gut ausgebildete Lehrer für ihre Kinder verlangen.
Rief Frau Merkel nicht mal:“ Bildung,Bildung, Bildung!“ ins begeisterte Publikum?
Was ist nur daraus geworden? Vom Tellerwäscher zum Lehrer! Eine Karriere in Deutschland

Ronja
3 Jahre her

„Der Landrat des Landkreises Ahrweiler hat…seine Bereitschaft erklärt, sein Amt ruhen zu lassen.“
Das hat er doch vorher auch gemacht. Wo ist der Unterschied?

W aus der Diaspora
3 Jahre her

oh je, gut, dass Merkel das nicht gemacht gut. Ok, außenpolitisch hätte das wohl wenig geändrt, aber dann wäre bis jetzt kein Flugzeug nach Kabul geflogen. Denn A.M. hätte rstmal abgewartet was die Medien denn nun wohl wollen. Ja, und dann hätte sie eine alternativlose Entscheidung getroffen. z.B. mal eben die Umgebung des Flugplatzes bombadiert oder ähnliches. Kann auch sein, dass sie den Taliban eoine Liste mit den Namen aller Ortskräftwe gegeben hätte und pro Ortskraft noch einen Scheck. Man weiß es nicht, aber man weis eines, sie hätte keine sinnvolle Maßnahme ergriffen.

Deshalb, besser ist es sie tut nix!

Ego Mio
3 Jahre her

Dieses geforderte Problem- und Verantwortungsbewußtsein existiert nur noch in Randbereichen der deutschen Nation und ihren Institutionen, ganz sicher nicht im Mainstream zwischen Parteienstaatskartell, GEZ und Brot-und-Spiele-Gesellschaft.

rainer erich
3 Jahre her

Der Verfall des Pareienstaates ist die logische Folge der Kombination eines untauglichen Systems mit einer kulturellen Dekadenz, die natuerlich auch vor dem. Polit system nicht halt macht. Der nicht unwichtige Katalysator des Verfalls trägt den Namen Merkel, die weder mit Demokratie, mit Parteien noch mit der staatliche Verfassung der Republik etwas am Hut hat. Sie ist die finale Totengräberin, die aber nur deshalb so erfolgreich wirken konnte, weil es System und Dekadenz ermöglichten. Auch nach Merkel sind beide Probleme alles anderer als geloest. Es bedarf „nur“ einer entsprechenden Nachfolge, die schon deshalb „gewährleistet ist, weil das demokratieuntaugliche System immer noch… Mehr

Jatoh
3 Jahre her
Antworten an  rainer erich

Ein „völlig anderes Personal zu generieren“ wird nur dann möglich sein, wenn die Schutzmacht USA der BRD ihre Unterstützung entzieht. Dann wird der politische Nachwuchs nicht mehr durch die Atlantikbrücke oder dem WEF bestimmt.