Was die Parallelen von Willy Brandt, Gerhard Schröder und Angela Merkel bedeuten könnten - auch für Sigmar Gabriel.
Über die Kanzlerin gibt es viel mehr in den Medien als über den Vizekanzler. Einen einigermaßen brauchbaren Überblick zu zeigen, geht angesichts der Masse kaum und lohnt andererseits mangels Klasse wenig. Mein Blick gilt hier zwei ganz verschiedenen Formaten. Dem englischen Kommentar der Deutschen Welle von Felix Steiner zu Angela Merkel und dem Interview des Schweizers Frank A. Meyer auf 3sat mit Sigmar Gabriel.
Steiner zieht Parallelen zwischen den Kanzlerschaften von Willy Brandt und Gerhard Schröder sowie der von Angela Merkel. Eine Parallele bildet Brandts Kniefall vor dem Warschauer Ghetto-Denkmal 1970 und Merkels Freigabe des Weges für die vielen Flüchtlinge in Ungarn. Steiner hält beide Handlungen für spontane Eingebung. Er erinnert daran, dass die Meinung der Deutschen 1970 ähnlich gespalten war, wie sie 2015 zunehmend ist. Und er fragt, wird Merkel wie Brandt dafür ein Jahr später den Friedensnobelpreis erhalten? Die Anschlussfrage bietet sich an: und dann die Kanzlerschaft verlieren?
Die zweite Parallele Steiners ist Schröders Agenda 2010. Mit ihr hätte der Kanzler von Rot-Grün die Politik von Schwarz-Gelb gemacht, zu der Union und FDP die Courage fehlte. Er erinnert daran, dass der Beifall für die Agenda 2010 überwiegend von denen kam, die nie SPD gewählt hatten und es nie tun würden. Steiner ruft ins Gedächtnis, dass Schröders Agenda 2010 seine Partei fast zerrissen hätte und die SPD sich davon bis heute nicht völlig erholt hat.
Der DW-Kommentator vergleicht die Zerrissenheit der SPD vor zehn Jahren mit dem, was sich jetzt zwischen CSU, CDU und quer durch ihre Mitglieder- und Anhängerschaft abzeichnet – vor allem aber damit, dass der Beifall für Merkels Flüchtlingspolitik überwiegend von denen kommt, die nie CDU und CSU gewählt haben und es nie tun werden. Den berühmten Satz von Herbert Wehner nach Willy Brandts Kniefall zitiert Steiner: „Der Herr badet gern lauwarm“ und stellt ihm den Satz Angela Merkels in der Fraktionssitzung der Union gegenüber: „Ist mir egal, ob ich schuld am Zustrom der Flüchtlinge bin. Nun sind sie halt da.“
Das sind nicht mehr als Indikatoren, räumt Steiner selbst ein. Aber, konstatiert er, während die SPD vor einigen Wochen noch diskutierte, wer die Bundestagswahl 2017 für sie gegen Merkel verlieren soll, zeichnet sich nun plötzlich im Scheinwerferlicht der Flüchtlingskrise die beginnende Abenddämmerung der eben noch mächtigsten Frau der Welt ab. Als ich gestern auf 3sat in Vis-à-vis dem Interview von Frank A. Mayer mit Sigmar Gabriel folgte, kam mir das wie eine Antwort des Vizekanzlers auf die Nöte der Kanzlerin vor.
Gabriel nahm keine Einladung von Meyer an, Merkel zu kritisieren. Was er in der Sache beantwortete und wie, ob zur Flüchtlingspolitik und den seiner Meinung nach zu wenig beachteten Sorgen und Ängste der Leute, ob zur Syrienfrage, zur Notwendigkeit von Kulturdolmetschern – nicht nur Sprachdolmetschern, der Vermeidung von Migranten-Ghettos, der zentralen Rolle von Schulen, zur „Entmoralisierung“ der Finanzindustrie, zur mangelnden Aufrichtigkeit der deutschen Politik bei privaten Schiedsgerichten in Freihandelsabkommen – die Liste ist länger: Da sprach in Form und Inhalt keiner, der schon aufgegeben hat. Da sprach der Vizekanzler so abgewogen, wie es intime Fans der Kanzlerin nun bei ihr vermissen.
Sigmar Gabriel hat an seiner Seite, was Angela Merkel an ihrer fehlt: einen Strategen, der diesen Titel verdient. Matthias Machnig wird mir nicht verraten, was er vorhat. Das ist auch nicht nötig, ich weiß es. Er wird die Chancen der Krise von Kanzlerin und Union nutzen, die viel tiefer geht, als uns die Medien bislang zeigen. Daran hindern kann ihn nur die SPD. Merkel und Gabriel – ein neues Kapitel?
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