„Meinungsführung“: Ziel der Meinungs-Umfragen von Anfang an

Rainer Zitelmann kommentierte eine aktuelle INSA-Umfrage. Worauf ich Umfragen kritisierte. Zitelmann bejaht deren Rolle. Hier meine Sicht.

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Elisabeth Noelle promovierte 1940 mit „Amerikanische Massenbefragungen über Politik und Presse“ bei Emil Dovifat, einem der Väter der Publizistikwissenschaft. Der Arbeit voran gegangen war Noelles USA-Aufenthalt mit einem DAAD-Stipendium 1937/38 an der School of Journalism der University of Missouri, wo sie die von George Gallup entwickelten Methoden von Meinungsumfragen kennen lernte. Nach dem Vorbild des 1934 von Gallup gegründeten „American Institute for Public Opinion“, des ersten Meinungsforschungsinstituts der Welt, schuf Noelle 1947 das „Institut für Demoskopie Allensbach, Gesellschaft zum Studium der öffentlichen Meinung mbH“, als erste Einrichtung dieser Art in Europa. Alle späteren deutschen Umfrage-Leute gründen darauf.

„Die durch die Massenbefragung einmal eröffnete Aussicht, in die Gedanken, Gewohnheiten und Stimmungen einer beliebig großen anonymen Menge Menschen einzudringen“, beschrieb Noelle als großen Gewinn für die Meinungsführung, das leuchtete Joseph Goebbels unmittelbar ein. Noelle nahm seine Einladung nicht an, als unmittelbare Mitarbeiterin („Adjutant“) für ihn Umfragen zu machen. Die wesentlich spätere Noelle-Formulierung von der Rolle der Demoskopie „zur Pflege des Konsenses zwischen Regierung und Regierten“, das Konzept und die Realität des Agenda-Setting, ebenso wie Noelles Angebot einer Studie 1986 an die deutsche Industrie, „um das demagogische Potential der Arbeitslosigkeit“ zu entschärfen, weisen alle in die gleiche Richtung. Wenn Massenmedien aus eigenem Antrieb oder im Konsens mit der Regierung oder anderen Mächten bestimmen, welches Thema auf die Agenda kommt, ist der Schritt zur gleich mit transportierten Meinung zum Thema nur ein kurzer: die Meinungs-Umfrage als Vorstufe der Meinungsverbreitung.

Meinungsumfragen
Sind alle Umfragen wertlos?
Seit 1950 gehörte jede Bundesregierung unabhängig von ihrer jeweiligen Zusammensetzung zu den Kunden von Noelles Allensbacher Institut (dieses Monopol verlor es erst beim späten Kanzler Helmut Kohl an einen der Gründer der Forschungsgruppe Wahlen). Bei der Bundestagswahl 1965 gab es nach Meinungsumfragen, die einen Sieg der SPD erwarten ließen, in letzter Minute einen Stimmungsumschwung für die CDU/CSU, was Noelle 15 Jahre später mit ihrer Theorie der „Schweigespirale“ erklärte.

Politikwissenschaftler Kurt Sontheimer erklärte Noelles Schweigespirale so: „Wer sich, so lautete die Hauptthese, mit seiner eigenen Meinung in Übereinstimmung mit dem herrschenden Meinungstrend wisse, fühle sich in seiner Überzeugung gestärkt, wer die Isolierung seines eigenen Standpunktes erfahre, flüchte ins Schweigen. Dies habe zur Folge, dass das wahre Meinungsbild in der Öffentlichkeit verzerrt erscheine, was durch die Medien noch zusätzlich verstärkt werde.“

Zwischenbemerkung 1: Noelle-Neumann lieferte, was Umfragen können. Das ist kein Vorwurf. Aber sie tat auch nie so, als wären Umfragen etwas wertfreies, hehres Wissenschaftliches.

Zwischenbemerkung 2: Kommunikationswissenschaftler wie Mathias Kepplinger oder der verstorbene Wolfgang Donsbach stehen für seriöse Wissenschaft, die sich auch dadurch auszeichnet, dass Politiker und Journalisten von ihren Erkenntnissen keinen Gebrauch machen. Rainer Zitelmann gehört insofern zu dieser Gruppe, weil er mit seiner 30 Jahre alten Dissertation über Hitler Maßstäbe setzte, die damals wohl kein anderer Historiker erfüllte. Seit dem sind wesentlich mehr hinzugekommen, die ihm zur Seite traten als solche, die ihm widersprachen. In die offizielle Geschichtsschreibung sind seine aufregenden Erkenntnisse über die wirtschafts- und sozialpolitischen Vorstellungen des Diktators nicht eingegangen (eine Rezension der Arbeit bereite ich vor).

Ich springe in die jüngere Zeit. Waren Regierungen und Parteien zu Anfang die Auftraggeber der Umfrage-Institute, wird diese Aufgabe zum Beispiel seit Jahrzehnten vom ZDF wahrgenommen, in dem Helmut Kohl lange den Ton angab. Mit der Forschungsgruppe Wahlen entstand damals mit Hilfe des empirischen Wahlforschers Rudolf Wildenmann ein für das ZDF bis heute exklusiv arbeitendes Institut. Parallel ließen die Parteien die Umfrage-Arbeit von ihren politischen Stiftungen finanzieren. Bis seit längerer Zeit überhaupt Medien zu fast alleinigen Auftraggebern von Meinungs-Umfragen wurden.

Mit der letzten Entwicklung ging eine Trivialisierung einher: Heutige Redaktionen interessieren Umfrage-Ergebnisse fast nur noch als Sonntagsfrage und Bewertung von Spitzenpolitikern. Die Fußnote, dass die Sonntagsantworten keine Prognosen sind, ist eine Art Haftungsausschluss. Die redaktionelle Verwertung präsentiert sie selbstverständlich als Prognosen – und macht damit Meinung.

Welche Redaktion welchen Umfrage-Ergebnis-Fortschritt für welche Partei und Person hervorhebt, zeigt ihre Parteinähe. Bei thematischer Zustimmung und Ablehnung ist es nicht anders. Das ganze Instrumentarium lässt problemlos zu, so zu fragen, dass das Gewünschte rauskommt, direkt oder indirekt – wenn nötig – durch Themenbündelung bei der Auswertung nachzuhelfen.

Kurzum: Im politisch-medialen Komplex werden jene Meinungsumfragen, von denen die „Öffentlichkeit“ erfährt, nicht verwendet, um zu lernen, was das Volk und seine Teile denken und meinen, sondern inwieweit die von Politik und Medien versandten Meinungsbotschaften bei den Empfängern angekommen sind. In diesem ständigen Prozess wird Meinung gemacht. Wie es von Anfang an gedacht war: Meinungsführung.

Drei Nachbemerkungen:

Rainer Zitelmann kommentiert meine Passage zur Schweigespirale: „Belege dafür, dass die Schweigespirale noch nie so bedeutsam war wie heute, gibt es dagegen nicht.“ Meiner Behauptung, so verstehe ich seine Kritik, fehlen also Belege. Stimmt.

Leicht schmunzelnd lese ich sein Gegenargument, da ebenfalls ohne Beleg: „Aus eigener Beobachtung habe ich jedoch den Eindruck, dass viele Bürger heute sogar eher bereit sind, sich zu ‚politisch unkorrekten‘ und nonkonformen Meinungen zu äußern als vor einigen Jahren.“

Vielleicht ist unser Argumenteabtausch an einem Punkt etwas unfair. Denn ich war fast 20 Jahre lang Auftraggeber von Meinungs-Umfragen und weiß, wozu Institute bereit sind – nicht alle.

Und zum Methodischen nur eine höchst subjektive Fußnote zu Zitelmanns Passage: „Bei Befragungen kann man den Befragten keinen Nachhilfeunterricht erteilen und ausführliche Erörterungen voranschicken. Man muss aber versuchen, Begriffe, die nicht jeder kennt, in wenigen Worten zu erklären. Und genau das machen die Institute – manchmal besser und manchmal weniger gut.“

Ich war in den letzten 15 Jahren ein halbes Dutzend mal selbst telefonisch Befragter – dreier Institute: Nichts wurde erklärt.


Bezugsartikel:

Sind alle Umfragen wertlos?

Meinungs-Umfragen? – Meinungsverbreitung

Aktuelle Umfragen: So denken die Deutschen Anfang 2018

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Kommentare ( 76 )

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Trouver
6 Jahre her

Zum Beispiel : was war die letzte Einschätzung der AfD seitens SPD-Forsa vorm 24. September? Die AfD erhielt 12,6% bundesweit und fingierte als stärkste Kraft in Sachsen. Lag gen. Güllner annähernd so richtig, wie es denn kam?

Eysel
6 Jahre her

Sehr schön,
dass sie die „Schweigespirale“ der großen alten Dame aufs Tablett bringen.
Ebenso wie N.N.’s Weigerung sich instrumentalisieren zu lassen.
Von solcher Ethik sind wir heute meilenweit entfernt.
Begründung: Unmittelbare Evidenz.
Trost: Die Heutigen haben – genauso offensichtlich – „überzogen“.
Sich entsprechend blamiert.
– Mitläufertum, gnadenloses Opportunitätsdenken (bis hin zum Denunziantentum) feiern stattdessen – neben „Gedankenlosigkeit“ – fröhliche Urständ. –
– Was wir brauchen ist ein Rule-Breaker!!! –
Auch wenn es sich äusserst „verwegen“ anhört:
Wir brauchen „unseren Trump“! Zumindest aber einen „Kurz“. –

Cornelius Angermann
6 Jahre her

Letztlich sind solche Meinungsumfragen nichts anderes als wissenschaftlich verbrämte Pseudoargumente für die politischen Narrative, die deshalb so heißen, weil damit die Bürger zum Narren gehalten werden.

Mausi
6 Jahre her

Die Meinungsumfrageinstitute und ihre Umfragen setzen mit ihren Themen die Schwerpunkte, auf die sich die Politik dann einschießt. Dadurch wird der Eindruck erweckt, diese Themen stünden bei den Bürgern ganz oben, obwohl nur durch die Tatsache, dass sie abgefragt werden, sie überhaupt in den Fokus der Öffentlichkeit treten.

BRCS
6 Jahre her

Mich interessieren die Ergebnisse der Meinungsumfragen nur in der Hinsicht, zu erkennen, in welche Richtung man uns nun schon wieder manipulieren will. Gehe ich von den letzten Forsa- und Insaumfragen aus und vergleiche diese mit meinen persönlichen Eindrücken, komme ich zu dem Schluss, daß man die AfD klein und unbedeutend machen will. In meinem persönlichen Umfeld sind es ca 60 %, die die AfD wählen würden. Auf Deutschland hochgerechnet würde das ein Ergebnis von geschätzt 25 % ergeben….!

Old-Man
6 Jahre her

Gut gemacht Herr Goergen,Ich stimme ihnen zu!
Wenn Ich mir die letzten Jahre „Demoskopie“ vor Augen führe,muss Ich aufpassen,das Ich beim lesen keine Bindehautentzündung bekomme.
Es ist sinnlos verbranntes Geld,das die Institute gerne annehmen.
Das beste Beispiel ist die“ Demoskopie“ 2016 in den Staaten,da lag Hillery noch vorne,obwohl die Wahl schon verloren war,und unsere „Zeitungen“ mußten die Rotation anhalten,weil sie den Mist geglaubt haben und Clinton zur Präsidentin schrieben.

Micci
6 Jahre her

Zwei kleine Anmerkungen. Erstens vermisse ich in diesem Zusammenhang den nachgewiesenen Fall einer von einem Umfrageinstitut zugegebenen Wahlmanipulation – und frage mich, ob ich etwa annehmen soll, so etwas wäre ein „Einzelfall“: „Für öffentliche Kritik sorgte eine Umfrage zur Landtagswahl in Baden-Württemberg 1996, bei der das Institut der Partei Die Republikaner 4,5 Prozent Stimmenanteil vorhersagte. Das tatsächliche Wahlergebnis der Republikaner lag bei 9,1 Prozent. In einem Interview zu dem Vorfall räumte Renate Köcher ein, dass sie der Partei keine Plattform bieten wolle und daher im Vorfeld der Wahl nicht von dem ihr bekannten höheren Wert berichtet hatte.“ Und zweitens: dieses… Mehr

Jochen Straus
6 Jahre her

Zur Schweigespirale eine Anmerkung der Wahrscheinlichkeitsrechnung.
Die Theorie der Schweigespirale setzt die Richtigkeit von drei eher fragwürdigen Prämissen voraus: dass die Darstellungen in den Medien von der Bevölkerung überhaupt als „Konsensus“ aufgefasst werden; dass dies die Vertreter der Minderheit zum Schweigen bringt, und dass die anderen auf den fahrenden Zug aufspringen. Letztere Annahme ist durch empirische Studien widerlegt. Zudem muss man immer mit der Möglichkeit rechnen, dass viele Menschen sich emphatisch auf die Seite des Verlierers werfen. Sogar dann, wenn alle drei Voraussetzungen einigermaßen gültig wären, bestünde der Netto-Effekt aus der Summe von drei Wahrscheinlichkeiten und wäre daher verschwindend gering.

Tronar
6 Jahre her

Auch von mir ein großes Lob für diesen Schlagabtausch; das ist ein Format, von dem man als Leser enorm profitiert. Als Autor vielleicht auch, insofern als man gezwungen wird, Begründungen nachzuliefern, über die man zunächst hinweggehüpft war. Noch zwei Anmerkungen zur vorliegenden Diskussion: 1. Man sollte die Meinungsforscher und ihre Auftraggeber auseinanderhalten, soweit sie nicht identisch sind. Erstere haben NICHT das Ziel, eine politische Agenda durchzusetzen, sondern nur, Aufträge zu bekommen, und liefern halt das, was bestellt wurde. Das schließt freilich ein, daß man, wenn es sich beim Auftraggeber um eine Dumpfbacke handelt, alles tut, um seine falschen Ansichten zu… Mehr

Thomas Petersen
6 Jahre her

Also vielleicht ist das doch der Moment, wo sich ein Umfrageforscher mal selbst zu Wort melden sollte. Auf die Unterstelungen niederer Motive und Manipulationsspekulationen muss man nicht eingehen. Auch auf die Angriffe gegen Frau Noelle-Neumann und die Beschimpfungen Sontheimers nicht – die waren schon vor 50 Jahren peinlich und wurden auch schon damals von keinem Sozialwissenschaftler, der etwas von der Sache vestand, ernst genommen. Auch die Behauptungen, die Umfragen hätten bei Trump und beim Brexit versagt, erledigen sich drch die simple Lektüre der Umfragen, die vor diesen Ereignissen publiziert wurden. Und was die Frage betrifft, wie es denn möglich sein… Mehr