Welche Kräfte werden die großen Krisen der Gegenwart freisetzen? Und wofür werden sich diese einsetzen? Offene und kontroverse Fragen für Alexander Wallasch und Fritz Goergen.
Alexander Wallasch schaut mit erstaunten Augen auf die Rufe der Linken und Linksliberalen nach mehr Polizei heute, wo sie doch gestern immer genau dagegen waren. Fritz Goergen „fasziniert“ der Wandel der Linken von System-Gegnern zu System-Legalisten. Also sagten die beiden, streiten wir mal ein wenig.
AW: Lieber Fritz Goergen, als geburtenstärkster Jahrgang der Bonner Republik (1964er) wurde ich in den 1980ern von linken und grünen Kräften sozialisiert. Oder anders: Wir Linken und Grünen sozialisierten uns gegenseitig. Staat und Polizei war man in herzlicher Gegnerschaft verbunden, Helmut Kohl war Feind Nr.1 und bei Demos gegen Polizeigewalt brüllte man gemeinsam in Richtung „Bullen“: „Polizei, SA, SS.“ Selbstverständlich ging man auch davon aus, dass Baader und Co in Stammheim von der Staatsmacht gekillt wurden. So hatte u.a. Stefan Austs „Der Baader Meinhof Komplex“ die Saat dafür gelegt. Die Zeiten waren damals so. Und niemand kann heute ernsthaft bezweifeln, dass das Jahrzehnt, das auf den deutschen Herbst folgte, auch einen bestimmten negativen Blick auf die Polizei geprägt hat. Erstaunlich nun, dass auch linke und grüne Politiker zum Thema Einwanderung oft nur eine Lösung parat haben: mehr Polizei. Die Morde in München haben nun gezeigt, dass eine perfekt organisierte Polizei Schlimmeres wohl verhindert hätte, wären noch mehr Attentäter unterwegs oder auf der Flucht gewesen. Bevor wir nun aber noch mal zurück gehen zu den finalen Schüssen in Würzburg, kann man sagen, dass der Ruf der Polizei in Deutschland nie so gut war, wie im Moment? Das der Ruf auch der linksliberalen Kräfte im Land nach mehr Polizei nie so laut war?
FG: Diese Einstellung der Polizei und dem ganzen „System“ Bundesrepublik gegenüber lernte ich ab 1966 im Bundesdorf Bonn gut kennen. Der Wechsel des „linken Lagers“ vom Aufruhr gegen „den Staat“ damals in seinen Legalismus und seine Staatsgläubigkeit heute beobachte ich negativ fasziniert. Die Tage erklärte Sevim Dagdelen („Die Linke“) bei Maybrit Illner jeden Putsch für unzulässig. Also war der Novemberputsch zur Machtergreifung der Sowjets für sie illegal. Die französische und amerikanische Revolution (Putsche gegen die französische und englische Krone) und so weiter sind für diese „Linken“ (?) illegal und daher abzulehnen wie der Putschversuch in der Türkei? Nach mehr Polizei rufen heute alle – aus Hilflosigkeit gegenüber dem Geschehen rund um die Einwanderung von zwei Millionen in kurzer Zeit, mit der „der Staat“ nicht umgehen kann.
AW: Gut, da kommen aber jetzt mehrere Themen zusammen. Zum einen die viel größere Frage, warum Demokratie aus sich heraus so wehrlos ist gegenüber demokratisch gewählten Undemokraten. Weiter die Frage, ob es nicht sogar beruhigend sein könnte, dass das bundesdeutsche Parteiensystem diese assimilierende Kraft hat (die Grünen sind heute sogar mit der ehemaligen Kohl-Partei kompatibel geworden). Und zur Frage, wie man nicht nur die Polizei selbst vor solchen Hinterhalt-Tätern schützen kann, sondern gleichsam, wie man einem Missbrauch der eigenen Machtbefugnisse verhindern kann. Denn das es Missbrauch immer da gibt, wo die Gefahrenlage überhandnimmt und wo es eine Machtfülle über andere gibt, scheint leider in nahezu allen Bereichen der Fall zu sein. Frage also an Sie: Wenn wir den Polizeiapparat vergrößern, den Umständen anpassen, wenn es zukünftig eine deutlich höhere Gefahrenlage gibt, werden wir es dann automatisch auch mit mehr Polizeigewalt und mit mehr Missbrauch im Amt zu tun haben? Sie sehen, wir nähern uns nur sehr zögerlich den Würzburger Ereignissen an.
FG: Demokratie wird wehrlos, wenn sie die Herrschaft des Rechts (Rechtsstaat) der Politik unterordnet, wie das (nicht nur) in Deutschland geschieht. Wo es keine unabhängige Justiz gibt, blüht Machtmissbrauch noch mehr als ohnedies. Ja, mehr Polizei bringt diese „Nebenwirkung“ unweigerlich mit sich – wie jedes mehr an Staat. Das Verhalten der Polizei beim Würzburger Anschlag hat damit wohl nichts zu tun.
AW: Sicher, Schwerkriminelle, noch dazu, wenn Gefahr im Verzug ist, müssen immer damit rechnen, erschossen zu werden, wenn sie sich nicht selbst richten wie in München. Aber immerhin war in Würzburg kein normaler Streifenpolizist im Einsatz, sondern Kräfte des SEK. Und wir wissen jetzt mehr: Nach Angaben des zuständigen Oberstaatsanwaltes Bardo Bakert ergibt sich folgendes Bild: „Zwei SEK-Beamte hatten den Angreifer in einem Gebüsch am Mainufer lokalisiert und feuerten mehrmals, als dieser aus etwa 1,5 Metern Entfernung mit Axt und Messer auf die Polizisten losging. Mindestens vier Schüsse hatten sie abgegeben. Einer davon traf den Täter in die Stirn.“
FG: Kann keinen Ansatz zur Kritik erkennen.
AW: Renate Künast konnte das schnell. Zu München schwieg sie dann vorsichtshalber zunächst. Und der Vorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft Rainer Wendt kommentierte Künasts Würzburg-Twitter-Tweet so: „Da brauchen wir die parlamentarischen Klugscheißer überhaupt nicht.“ Für Jakob Augstein ist das die „demonstrative Verachtung für die parlamentarische Demokratie und ihre gewählten Repräsentanten.“ Und er fragt seine Leser auf spiegel-online: „Sind wir so weit, dass man sich so wieder hören lassen kann? Oder redet sich Wendt darauf heraus, die Worte seien im Eifer des Gefechts gefallen – wie vielleicht jene fatalen Schüsse bei Würzburg?“
FG: Die drei sollen sich so streiten, wie sie wollen. Was ich bei Künast, Augstein und anderen schon länger frage, ist, warum ihr erster Reflex immer dem Täter gilt und nicht den Opfern. Jetzt habe ich es, glaube ich, begriffen. Es geht ihnen weder um Opfer noch Täter, sondern um ihre ganz persönliche „vorbildliche“ Positionierung als politisch Superkorrekte. In Anlehnung an l’état ce moi demonstrieren sie le moral ce moi.
AW: Sie meinen, diese Personen hätten als professionelle Oppositionelle die Kritik an sich zur Kunstform erhoben und darüber den konstruktiven Ansatz vergessen? Mag sein. Andererseits zeigt doch die Häufung dieser erfolgreichen finalen Rettungsschüsse in Frankreich und noch mehr diese Killfahndungen in den USA ein ganz anderes Bild. Ist Obamas „Justice has been done“ das Modell der Zukunft auch in Europa, wenn die terroristischen Angriffe auf friedliche Bürger weiter zunehmen?
FG: Amokläufer und Selbstmord-Attentäter legen es darauf an, viele zu töten UND selbst nicht lebend gefasst zu werden. Ja, ich gehe davon aus, dass immer mehr – oder in der Regel alle – Attentäter und Amokläufer nie vor Gericht gestellt werden können, weil sie ihre Attentate nicht überleben. Wenn Wolffsohn bei Illner sagte, Europa ist längst Teil des Nahen Ostens, gilt das nicht zuletzt für die zunehmende Existenz und den Umgang mit Terroristen und Attentätern. Der englische Bobby, nur mit Trillerpfeife bewaffnet, das war mal.
AW: Uhh, das klingt, als wollten Sie das Gespräch nun eskalieren lassen. Denn welcher Logik folgt das denn, dass die Polizei eigentlich der Freund und Helfer des Terroristen ist, weil er behilflich ist, ihn per Kopfschuss seinen 72 Jungfrauen zuzuführen? Selbsttötung wird ja angeblich nicht mit Jungfrauen belohnt, ebenso wenig, wenn man von einer Polizistin erschossen werden sollte, Des weiteren können Sie nicht ernsthaft fordern, wir sollten Killfahndungen einführen, welche wie die USA im Nahen Osten Terroristen nach dem „Tod oder lebendig“ Prinzip jagt. Eben jene USA – das hat Wolffsohn unterschlagen – deren militärische Verheerungen mit einer Million ziviler Opfer im Nahen Osten uns überhaupt erst das Flüchtlingsproblem samt IS-Terrortouristen beschert haben.
FG: Lieber Alexander Wallasch, von einer Entwicklung als praktisch unausweichlich auszugehen, bedeutet nicht, sie zu fordern. Ich halte es für unrealistisch, dass wir als einzige auf der Welt Polizei und Spezialkräfte unterhalten könnten, die aus Übermenschen bestehen, die lieber ihr eigenes Leben – und je nach Lage das ihrer Mitbürger – riskieren, als das Leben von Terroristen und Attentätern in Gefahr zu bringen. Wofür die USA verantwortlich sind und wofür nicht, hilft uns da gar nicht weiter. Da fällt mir ein, warum in den Startzeiten des Terrors im Libanon nach einem einzigen Anschlag gegen Sowjetbürger nie wieder einer geschah. Russische Spezialkräfte kidnappten den Sohn eines Bandenchefs, kastrierten ihn und schickten ihn mit der Botschaft zurück, für deren Verbreitung im Milieu sie sorgten, das wartet auf eure Söhne, wenn ihr uns nicht in Ruhe lasst. Bevor Sie nun sagen, dass ich das fordere oder richtig finde, nein, natürlich nicht. Aber es zeigt, was bei wem wirkt und was nicht.
AW: Übermenschen nicht, aber solange die Gesetzgebung Übermenschliches fordert (als Ideallinie) kann möglicherweise mehr Unmenschliches verhindert werden. Das folgt doch diesem christlichen Prinzip: Ja, wir sind alle Sünder, aber wir wissen wenigstens, wie man es richtig macht. Wir haben eine Vision. Lieber Fritz Goergen, ich sage ja nicht, dass Ihre Analyse falsch wäre, aber es klingt bei Ihnen so unweigerlich hoffnungslos. So als könnten wir alle Hoffnungen nun fahren lassen, weil’s eh nichts mehr nutzt.
FG: Natürlich können „wir“ alles ändern. Aber nur, wenn das eigene Haus in allen Teilen auf neue Beine gestellt wird. Polizei und Zoll bewaffnet gegen Leute ausschicken, die versuchen, bürokratischen Schikanen zu entkommen und gleichzeitig zum schonungsvollen Umgang mit Gewalttätern aufrufen? Abrüsten beginnt im ganz Kleinen und kann sich dann ins Große fortsetzen. Was wir haben, wofür Künast, Augstein und andere stehen, ist politische Willkür. Gegen die „Falschen“ rücksichtslos, gegen die „Richtigen“ vorbildlich human. Maß und Ziel müssen überall einkehren oder werden nirgendwo Platz greifen.
AW: Ach na ja, das war doch Jahrzehnte vorher nicht anders, als die etablierten Profiteure des deutschen Wirtschaftswunders sich gegen die aufbegehrenden sogenannten alternativen Kräfte zur Wehr setzen, als gäb‘s kein Morgen. Glauben Sie, die Grünen hätten es leicht gehabt? Wo ich Ihnen recht geben muss, damals gab es keine Phalanx aus Medien UND Politik. Der alte Augstein hat genervt bis hin zur Hausdurchsuchung. Erinnert sie das aktuell an etwas? Ich sage mal so: Wer heute nicht sieht, was die Apo, was die Grünen, was sogar die Feministinnen für dieses Land getan haben, der verweigert doch die Realität. Niemand möchte heute ernsthaft mehr in Verhältnissen leben, wie zu Adenauers Zeiten. Auch wenn das für immer mehr Leute verführerisch klingt.
FG: Um so schlimmer, dass ihre Epigonen den totalen Staat bauen, national, in der EU und international. Und bitte nicht übersehen: Die Genannten haben uns von Dingen befreit, die ich ganz überwiegend nicht wiederhaben möchte, aber Neues, Besseres geschaffen, haben sie nicht. Ich erinnere mich sehr gut an viele Zeitgenossen, wie sie damals waren und was aus ihnen wurde.
AW: Komisch, ich sehe mit Angela Merkel eine ganz andere Epigonin für die Eckpfeiler Ihrer eben genannten Kritik verantwortlich. Und die kann man nun nicht ernsthaft als Petra-Kelly-Jüngerin bezeichnen. Wobei: Nichts gegen die Kelly, ich würde für sie, wie übrigens auch für die Jutta Ditfurth, immer eine Lanze brechen. Eine wie Frauke Petry daneben gestellt ist für mich in letzter Instanz dann immer Stellvertreterin einer großen neuen – man kann fast sagen: einer destruktiven – Düsternis. Aber sagen Sie bitte, worauf könnten wir uns einigen? Wo sehen Sie den konstruktiven Konsens?
FG: Ob es unser Konsens ist, wird sich gleich zeigen. Merkel ist das „perfekte“ Produkt der großen Entpolitisierung, für die die mutierten 68er und ihre Epigonen in Politik und Medien als Träger des Zeitgeists verantwortlich sind und die Berufspolitiker aller Parteien als Mitläufer.
AW: Sie sprechen von dieser Monopolisierung des „Guten“? Aber dafür war ja zunächst einmal eine zunehmende Alternativlosigkeit verantwortlich. Wo waren denn die attraktiven Gegenmodelle? Es gab keine mehr. Und es war Helmut Kohl, der zuvor konsequent den Diskurs verweigerte, der das Aussitzen von Problemen, also die Entpolitisierung bis zur Meisterschaft vorangetrieben hatte. Daran hat sich Frau Merkel doch zunächst orientiert, bis sie sich auf so überraschende Weise davon emanzipieren wollte - beginnend zunächst noch verhältnismäßig harmlos mit ihrer grünen Atomausstiegspolitik.
FG: Die Glaubwürdigkeit des Atomausstiegs stirbt mit der Endlager-Lüge. Was Endlagerung genannt wird, ist Zwischenlagerung. An der möglichst weitgehenden Beseitigung des Atommülls ist nach dem plakativen Ausstieg niemand mehr interessiert. Nichts daran ist harmlos. Mit Kohl haben seine Gegner bei SPD und Grünen gestritten, mit Merkel streiten sie nicht. Kohl bellte seine Gegner an, Merkel hat keine.
AW: Aber lieber Fritz Goergen, wir müssen doch auch noch etwas Positives bringen. Irgendeine Machbarkeit für die Zukunft. Es reicht ja nicht, den Konsens darin zu suchen, zu meckern auf das Bestehende. Und um noch was Positives über Kohl zu sagen: man hatte im Nachhinein zumindest den Eindruck, der Junge holte das Maximale für uns raus. Einfach, weil er das Wissen um die Zusammenhänge über die Jahre gewonnen hatte und die vielen Protagonisten kannte und einschätzen konnte, was geht. Auch wenn er am Ende alles verspielt hat. Es schien so, als hätte er das Tempo rausgenommen. Man gewöhnte sich besser. Wenn wir uns nun beispielsweise die Protagonisten der Griechenlandkrise anschauen, diese charismatischen Tsipras und Varoufakis, dann hat das natürlich was von Che Guevara vor der UN, dann ist das sexy, möglicherweise sogar authentisch, aber für das Land war das kein Gewinn. Diese internationalen Verflechtungen in allen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bereichen sind einfach zu undurchschaubar geworden für solche Idealisten. So wird man über den Tisch gezogen. Das Erschreckende: Deutschland hat ja nicht einmal solche Idealisten. AfD? Nö, die Düsterchristen und BRD-Traditionalisten der Partei sind ungeeignet. Ihre politische Agenda angeschimmelt vom Gestern. Was also tun? Erst einmal TTIP absagen? Aber wie? Volle Handlungsfähigkeit ein stückweit zurückerlangen durch Aussetzung angeblich so dringender Entscheidungen? Sich einfach nicht mehr bangemachen lassen? Möglicherweise. Selbst dann, wenn uns das ein paar Prozentpunkte Wirtschaftswachstum kosten sollte? Erstmal aus der Schusslinie. Erst einmal Begehrlichkeiten von außen nicht weiter schüren. Die nationale Karte insoweit spielen, dass wir auf ein paar internationale Vorteilsnahmen verzichten, auch wenn’s uns ein Loch in die Tasche brennen könnte. Der Igel wächst ja dann im gleichen Maße. Und dann neu überlegen, welche Projekte wir mit befreundeten Staaten in Angriff nehmen wollen. Frankreich wäre beispielsweise so ein besonderer Partner. Tout vient à point à qui sait attendre.
FG: Ach Gott, Alexander Wallasch, das alles zu diskutieren, würde unseren Platz hoffnungslos überfordern. Früher stritten Politiker in den Parlamenten und der Öffentlichkeit für unterschiedliche Überzeugungen. Heute konkurrieren sie um Posten im Beruf Politik. Ich möchte, dass die ewigen politischen Gegenkonzepte – Liberalismus und Sozialismus – wieder den konstruktiven Streit bestimmen. Die Konservativen können dann wie immer, irgendeinen Mix der beiden versuchen. Dahin können wir aber nur kommen, wenn wir den Beruf Politik abschaffen, was nur geht, wenn die Offene Gesellschaft aus den Klauen des Verwaltungsmolochs Staat befreit wird. Ich setze darauf, dass die großen Krisen der Gegenwart die Kräfte freisetzen, die es dafür braucht, wie schmerzhaft auch immer dieser Prozess verlaufen wird.
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