Wolfgang Thierse kritisiert zwar die Sozialismusvorstellungen des Juso-Vorsitzenden Kevin Kühnert, entschuldigt sie aber gleichzeitig mit dessen „Gnade der späten Geburt“. Auf sie könnten sich jetzt auch Jungpolitiker anderer Parteien berufen, die mit totalitären Politikansätzen liebäugeln.
In der wohl eher überflüssigen öffentlichen Auseinandersetzung um die Aussagen eines überschätzten Juso-Vorsitzenden zu seinen Vorstellungen von einem „Demokratischen Sozialismus“ hat sich in einem Interview bei t-online inzwischen auch der ehemalige Bundestagspräsident und Vorsitzende der Programmkommission der SPD, Wolfgang Thierse, zu Wort gemeldet.
Als ehemaliger DDR-Bürger, der den realen Sozialismus am eigenen Leib erfahren durfte, hält er seinem Parteigenossen Kevin Kühnert zurecht vor, dass es welthistorisch kein Beispiel dafür gibt, dass die von ihm geforderte „Vergesellschaftung, Kollektivierung oder Verstaatlichung von Eigentum zu einer erfolgreichen Wirtschaft und zur Wohlstandsmehrung geführt hat.“ Hinzufügen hätte er noch können, dass die bisherigen Projekte großflächiger sozialistischer Kollektivierung deswegen immer mit der Eindämmung, meist sogar völligen Abschaffung der Demokratie sowie der Einführung von Zwangsherrschaft einhergegangen sind – siehe aktuell das Beispiel Venezuela. Ohne eine „Diktatur des Proletariats“ ist, wie die klügsten und entschiedensten Theoretiker der sozialistischen Idee schon früh wussten, der reale Sozialismus ist gegen die Widerstände der Enteigneten (Unternehmer, Selbständigen, Landwirte, Immobilienbesitzer,…) wie aber auch vieler anderer Bürger auf dem Weg ins sozialistische Paradies nicht zu haben. Totalitäre Bestrebungen sind dem Sozialismus bei seiner Umsetzung insofern inhärent.
Von daher kann man sich durchaus die Frage stellen, ob der Begriff „Demokratischer Sozialismus“ ein Widerspruch in sich selbst (contradictio in adjecto) ist. Thierse gibt in seinem Interview deswegen auch den interessanten Hinweis, dass der Begriff von einigen Mitgliedern seiner Programmkommission vor Jahren grundsätzlich in Frage gestellt und abgelehnt wurde. Sie schlugen zur Bezeichnung des (Fern-)Ziels sozialdemokratischer Politik stattdessen den Begriff „soziale Demokratie“ vor. Das hielt nun allerdings der Kommissionsvorsitzende Thierse für zu traditionsverleugnend, zumal Sozialdemokraten keinen Grund hätten, „wegen der Verbrechensgeschichte des Kommunismus unsere Ideale und Grundwerte zu revidieren. Wir haben dann ausdrücklich an diesem Begriff festgehalten, weil wir betonen wollten, dass unsere Vorstellung vom Sozialismus etwas ganz anderes ist als der Realsozialismus oder der Kommunismus.“
Diese Haltung fällt Thierse und seiner Partei in Gestalt ihres Juso-Vorsitzenden nun allerdings auf die Füße, will dieser mit seinen Kollektivierungs- und Enteignungsvorschlägen doch unverkennbar die gegen das Privateigentum an Produktionsmitteln gerichteten Ideale und Grundwerte sozialistischer Politik wiederaufleben lassen. Sie gehören zweifellos nicht nur zum historischen Traditionsbestand der SPD, sondern auch der SED-Nachfolgepartei Die Linke. Diese lobt den Juso-Vorsitzenden daher auch dafür, den sozialistischen Traditionsbestand wieder zu reaktivieren zu wollen, zu dessen Instrumenten eben nicht nur Enteignungen, sondern auch die dauerhafte politische Machtübernahme durch die Enteigner gehört.
Zwei Seiten einer totalitären Medaille, die Wolfram Thierse aus eigener DDR-Erfahrung kennt und deswegen aus guten Gründen ablehnt. Gleichzeitig möchte er den Vorsitzenden der Jusos aber vor innerparteilichen Kritikern in Schutz nehmen, die seinen Rauswurf aus der SPD wollen, und entschuldigt Kühnerts Forderung nach einer „Überwindung des Kapitalismus“ deswegen mit dem Hinweis: „Er ist jung, für Kühnert gilt die Gnade der späten Geburt.“ Der Umstand, dass der knapp dreißig Jahre alte Juso-Vorsitzende erst im Jahr des Mauerfalls geboren worden ist, spricht ihn als führendes Mitglied einer sozialdemokratischen Partei nun allerdings keineswegs von der Verpflichtung frei, sich nicht nur mit sozialistischen Theorien, sondern auch mit der Geschichte des (realen) Sozialismus zu beschäftigen. Das hat er während seines an der Fernuniversität Hagen begonnenen, bislang aber nicht abgeschlossenen Politikstudiums vermutlich auch getan. Möglicherweise findet er deswegen auch nicht nur die Theorie des Sozialismus, sondern sogar deren bisherige reale Umsetzung attraktiv.
Thierses Entschuldigung des vermeintlichen Fauxpas’ eines hinter den politischen Ohren noch nicht ganz trockenen Jungsozialisten, die sich auch andere führende SPD-Funktionäre zu eigen gemacht haben, liefe damit ins Leere. Kühnert präsentiert sich öffentlich weiterhin als Überzeugungstäter und hält entgegen dem Tadel aus der Parteispitze an seinen Vorstellungen und Forderungen zur Überwindung des Kapitalismus fest. Diese wiederum greift angesichts drohender negativer Auswirkungen von Kühnerts Vorstoß auf die anstehenden Wahlen zu keinerlei Diszipinierungsmaßnahmen, wie sie es, aus ähnlichem Anlaß, auf Druck des früheren Bundesgeschäftsführers Egon Bahr im Jahr 1977 noch mit dem Parteiausschluss des damaligen Juso-Vorsitzenden Klaus-Uwe Benneter tat. Das wäre wohl angesichts der heutigen Verfassheit und des Personals der SPD auch zu viel erwartet. Andrea Nahles hat nicht die Statur eines Helmut Schmidt und Lars Klingbeil nicht die eines Egon Bahr.
Das ist es aber nicht alleine. Thierse und seine Parteigenossen messen in Fragen des politischen (Demokratie-)Bewußtseins offenkundig auch mit unterschiedlichen Maßen. Die im Falle Kühnert ins Spiel gebrachte „Gnade der späten Geburt“ könnte man nämlich auch geltend machen, wenn beispielsweise Mitglieder der Jugendorganisation der AfD oder junge Mitglieder der Identitären Bewegung (IB) an nationalsozialistische Ideen anzuknüpfen versuchen, um diese wiederzubeleben. Auch sie sind ja weit nach den Zeiten geboren, in denen man die verheerenden Auswirkungen einer totalitären Ideologie auf Freiheit und Demokratie am eigenen Leib erfahren konnte. Hier fordern aber weder die SPD-Funktionäre noch die führenden Medien einen politischen Freispruch aus Altersgründen, sondern die Überwachung durch den Verfassungsschutz. Wäre das im Falle Kühnert und der Jusos nun nicht auch angemessen?
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Und ich dachte immer, „Gnade der späten Geburt“ wäre nicht mehr und nicht weniger als ein Euphemismus für „völlig Ahnungslosigkeit“, „Naivität“ oder „pure Dummheit“, je nach dem, wie wohlwollend man ist.
Lesen Sie das beigefügte Interview mit Gauland, der betont, wie die AfD gegen einzelne (junge) Mitglieder vorgeht, die seiner Meinung die Grenzen nach rechts überschreiten. Darüber hinaus hält er die Identitäre Bewegung sogar insgesamt für mit den politischen Zielen der AfD nicht vereinbar.
https://www.welt.de/politik/deutschland/plus192934915/AfD-Chef-Alexander-Gauland-Bei-uns-hat-niemand-gelogen.html
Ich nehme an, die AfD-Spitze, für die ja Gauland steht und spricht, gründet ihre politischen Bewertungen auf Inhalte, oder sehen Sie das anders ? Ansonsten: danke für Ihren Ratschlag. Sind Sie Lehrer ?
Die Linke ist nicht die SED Nachfolgepartei sondern sie ist die mehrfach umbenannte SED in Reinform.
Gnade hin Gnade her, der Junge wird sein komplettes Leben über Steuergelder finanzieren und ist ein respektloser Rotzlöffel, wiso entblödet sich eine Partei diesen Wirrkopf noch ein Forum zu bieten in dem er genau die SPD Wählerschaft alls Trottel einer falschen Gesellschaftsform branntmarken kann?
Was mich an dieser ganzen Kühnert Debatte stört ist die Tatsache, dass diesem Juso Chef von den Mainstream Medien die große Bühne bereitet wird. Heute Abend geht es direkt weiter. Wer mag, kann wieder live und exklusiv in der ARD bei Anne Will miterleben, wenn über das Thema CO2-Steuer diskutiert wird. Dazu noch eine Annalena Baerbock von den Grünen. Ich freue mich bereits jetzt schon auf die morgige Berichterstattung von Herrn Paetow, sofern er das ertragen konnte.
Ich bin auch auf Herr Paetow angewiesen, bei mir schält der TV bei Anne Will und Co. automatisch auf Standby.
Ich habe mir heute mal für ca. 30 Minuten den Presseclub angetan. Am Ende war mir klar, die CO2-Steuer wird kommen.
Wer sich das Foto mit Maas – Kevin anschaut, muß erkennen, daß die spd die Partei der kleinen Leute ist.
Wenn man Kühnerts Aufguss der Beschlüsse der 2. Parteikonferenz der SED von 1952 mit der Gnade der späten Geburt rechtfertigt, kann man diese Rechtfertigung durch einen ehemaligen DDR-Bürger nur als Zeichen beginnender (oder fortgeschrittener) Demenz entschuldigen. Warum sind die Genossen nicht in der Lage, solches Gewäsch als genau das zu beurteilen und dem jungen „Heißsporn“ eine Rückkehr in sein Callcenter zu empfehlen. „Dünenralle“ Stegner kam mit „Visionen“ des Juso-Vorsitzenden um die Erklärecke. Einer der letzten großen SPD-Genossen Helmut Schmidt empfahl bei Visionen den Besuch beim Psychiater.
t-online bietet derzeit dem DDR-Gesangsstar Dagmar Frederic die prominent plazierte Gelegenheit, die Verhältnisse in der DDR schönzureden. Das einzige, was sie als negativ empfindet, ist die Beschränkung der Reisefreiheit. Kaum kritische Nachfragen des Interviewers, der Sozialismus ist halt nur nicht richtig umgesetzt worden. Bei t-online gabs auch z.B. von Jonas Schaible lobende bzw. unterstützende Worte für Kevin. Die Bevölkerung soll anscheinend langsam auf den Systemwechsel vorbereitet werden, den die Grünen ja schon offen in Form einer Öko-Diktatur predigen. Die Begrifflichkeiten dieser Öko-Diktatur ähneln verdammt stark denen einer sozialistischen und sind inzwischen weitgehend gesellschaftsfähig. Einzig beim Thema Wohneigentum reagiert der Bundesbürger… Mehr
Werner Geiselhart Ich kenne mehrere Ossis aus beruflichen und privaten Bezügen. Intellektuell eine bunte Mischung von Hauptschule bis Hochschulabsolvent. Bis auf eine Freundin sagten mir alle, wenn sie hätten in andere Länder reisen können, und sich mehr hätten kaufen können, dann wären sie in der DDR klargekommen. Selbst ein Ehepaar, das von der Stasi zeitweise inhaftiert wurde, denen das Haus dauerhaft, und die Kinder vorübergehend abgenommen wurde, sagen, dass sie mit Reisen und besserem Warenangebot zurechtgekommen wären. Was alle vermissen ist der Zusammenhalt, und, auch wenn ich es kaum glauben mag, sie vermissen den Spaß, sich Dinge am System vorbei… Mehr
Die Gnade der- – – .Wolfang Thierse, der sein politisches Gewicht immer in Ruhe auf einem bequemen Sessel der Nation verbringen durfte, gelingt es in einem Satz zwei unterschiedliche Politiker wie Willy Brandt und Helmuth Kohl ins Gedächtnis zu rufen. Er persönlich stand ja auch immer für Brandts Schlachtruf „ Ein kräftiges sowohl als auch“.
Man braucht gar nicht darauf warten, dass Sozen vernünftig werden. Denn dann hören Sie auch auf, Sozen zu sein. Wer einmal an das perpetuum mobile in socialibus glaubt, dem ist das auch nicht mehr auszureden.
Was viel dringender Not täte ist, dass die Sozialisten in den anderen Parteien endlich soviel rote Theorie und Geschichte des Sozialismus pauken, dass sie die ganzen alten Sozenschmähs nicht mehr glauben. Es muss endlich erkannt werden, dass Sozen einfach nur falsch spielen, weil ihnen alles andere einfach nicht möglich sit.