Konstanz befindet sich im Notstand. Mainz auch. Oder Saarbrücken. Wiesbaden. Und rund 70 weitere Städte. Schon seit 2019. Im Klimanotstand. Den riefen sie bereits vor Corona und dem Ukraine-Krieg aus. Es schien, als ob sich Deutschland den Ausnahmezustand herbeigesehnt hätte, in dem es nun seit zwei Jahren vor sich hin wielert und lauterbacht.
Nun blieb der Klimanotstand weitgehend folgenlos. Im Gegenteil. Sogar der Ausstieg aus dem Kohle-Ausstieg ist seit dem Kriegsbeginn wieder denkbar. Doch der Klimanotstand sollte vor allem eins sein. Ein Symbol, ein Zeichen. Während die USA die Welt militärisch anführen, die Chinesen wirtschaftlich und die Russen in der Versorgung mit Rohstoffen, so macht den Deutschen niemand etwas im Haltungszeigen vor.
In ihre Profilbilder schreiben deutsche Facebook-Nutzer auch gerne, wozu sich alles Haltung zeigen lässt: fürs Impfen, für den Klimaschutz, gegen Nazis, fürs zweite Impfen, gegen Flüchtlingslager, für Tariferhöhungen, fürs Boostern, fürs Abflachen der Kurve und Zuhausebleiben, gegen die ungarische Regierung oder fürs zweite Boostern. Wobei die Haltungs-Landschaft gar nicht so vielfältig ist, wie es scheint: Eigentlich gibt es immer nur ein Ding der Stunde, für oder gegen das der Haltungsdeutsche gerade ist.
Als „Social Warrior“ bezeichnet man die, die einen Großteil ihrer Tagesfreizeit darauf verwenden, für das Gute und Schöne einzutreten. Wobei der Begriff des Sozialen Kriegers eigentlich guten Gewissens nur noch ironisch eingesetzt werden kann – besteht ihr „Krieg“ doch meist nicht aus mehr als all den Gesten, Fähnchen, vorgetragenen Liedern und hochgehaltenen Bannern. Bei Themen wie Energiewende oder dem Freiheitsentzug in der vermeintlichen Corona-Bekämpfung ließe sich noch argumentieren, dass solche Symbole helfen mögen, den Kampf um die Mehrheit zu gewinnen.
Doch spätestens der Ukraine-Krieg zeigt, wie hilflos das Haltungsgetue ist. Ob am Don Krieg oder Frieden herrscht, entscheidet sich derzeit im Kreml. Und sonst nirgendwo. Die anderen Staaten können Druck ausüben auf Wladimir Putin. Doch am Ende entscheidet er. Ob die wirtschaftlichen Sanktionen ausreichen, um den Krieg zu beenden, wissen wir heute noch nicht. Aber dass sie nicht voll umfänglich sind, das wissen wir. Deutschland ist Russlands bester Kunde, wenn es um den Verkauf von Öl, Gas und Kohle geht.
Selbst am Lieblingsprojekt der Deutschen verdient Russland: die Energiewende. Wie die Wirtschaftswoche berichtete, beziehen wir Nickel und Palladium, das wir für den Ausbau der erneuerbaren Energien brauchen. Man kann es als polemisch kritisieren, wenn wer sagt, dass wir Putins Krieg finanzieren. Aber natürlich zahlen wir für Öl, Gas, Kohle und andere Rohstoffe beträchtliche Summen – und genauso natürlich fließt dieses Geld momentan in Sold, Munition, Panzer-Treibstoff oder neue Panzer. Das ist der Fakt. Daran ändert keine Haltungs-Geste etwas.
Warum aber dann der Eifer? Warum dieser Wust an Gesten? Gerade in einer Krise, die wir nicht ändern können und mit unserem Geld sogar noch anfeuern. Was ändert es am Krieg in der Ukraine, wenn in einem saarländischen Dorf eine Frau blau-gelbe Bändchen an ihr Treppengeländer hängt, wenn die ARD-Radiosender zeitgleich „Give peace a chance spielen“ oder in einer einzigen Sportschaufolge zwei Dutzend Solidaritäts-Gesten gezeigt werden? Gar nichts ändert es. Denn das ist gar nicht der Zweck der Gesten.
Diese Gesten dienen dem Haltungszeigenden selbst. Sie sind nicht mehr als moralische Selbstbefriedigung. Individuell fühlt sich der Zeigende besser: Die Rentnerin im Saarland ist nicht mehr ohnmächtig. Sie kämpft gegen Putin. Sie muss nicht spenden, keinen Flüchtling aufnehmen oder geschweige denn eine Waffe in die Hand nehmen. Aber sie hat etwas getan gegen das Unrecht. Selbst die alte Frau darf sich als „Social Warrior“ fühlen.
So zeigt das Ausufern des kollektiven Zeichensetzens in Deutschland, wie das Land immer ohnmächtiger und das gemeinsame Band – das unsichtbare – immer brüchiger wird. Dass Deutschland im Ukraine-Krieg ohnmächtig ist, mag nicht verwundern. Auch wenn wir es nicht sein müssten. Ein konsequenter deutscher Boykott würde Putins Russland wirklich hart treffen. Nur: Dafür sind wir zu schwach. Und dass wir so schwach sind, erklärt wiederum, warum der Wunsch nach kollektivem Zeichensetzen seit Jahren zunimmt. Um in der Metapher der moralischen Selbstbefriedigung zu bleiben. Umso weniger Sex man hat, desto mehr ist man auf Selbstbefriedigung angewiesen – das ist in der Moral nicht anders als in der Natur.
Die Ohnmacht verdankt das Land zum einen der Politik seiner langjährigen Bundeskanzlerin: Merkels weltweit einzigartiges schnelles Raus aus der Atomkraft war Meinungsumfragen geschuldet, das schnelle Raus aus der Kohle dem Klimaschutz. Selbst dem Ausbau der Erneuerbaren legte ihre Regierung vier Jahre lang Steine in den Weg. Nun steht Deutschland dar, schwenkt blau-gelbe Fahnen und singt „Give peace a chance“, um den Gedanken an die russischen Rechnungen für Öl, Gas und Kohle zu übertönen. Es ist nicht das Pfeifen im Wald – sondern das Singen.
Allerdings ist diese Ohnmacht nicht auf die Abhängigkeit gegenüber Russland begrenzt. Das Land spürt seinen wirtschaftlichen Niedergang. Nach dem militärischen Niedergang vor gut 75 Jahren bedeutet der anstehende wirtschaftliche Abstieg letztlich den Abschied von Bedeutung in der Welt. Eine Katastrophe für ein Land, in dem Kaiser Wilhelm II und Annalena Baerbock der Wunsch verbindet, am deutschen Wesen möge die Welt genesen – und das sich gerade eben noch im Besitz der „Führerin der freien Welt“ wähnte.
Mit Chinas wirtschaftlicher Vitalität haben sich die Deutschen mittlerweile abgefunden. Doch wenn es um die Digitalisierung geht, tauchen Player auf, die Deutschland früher nicht ernst genommen hat. Steigende Kosten bei nachlassender Effektivität: Wir wissen, dass das nicht ewig gut geht. Uns fehlt die Kraft, uns dagegen zu stemmen. Buchstäblich wegen der besagten Alterung. Aber auch moralisch. Leistungsethos gilt in Deutschland als verwerflich. Zusammenhalt eines Landes als verdächtig. Linke Meinungseliten haben alles als Abzulehnendes gecancelt, was eine Gesellschaft durch schwere Zeiten tragen könnte. Wichtigstes gesellschaftliches Ziel ist es, Codes einzuhalten. Der Ausschluss von Menschen, die Gedanken jenseits des gängigen Stroms äußern, trifft zunehmend welche, die eigentlich in der Mitte der Gesellschaft stehen. Tatort-Kommissar Jan Josef Liefers musste zum Beispiel massiv zurückrudern, nachdem er die Effektivität der deutschen Pandemiepolitik in Frage gestellt hatte.
Dass diese Eliten, die den Ausschluss zum wichtigsten Mittel ihrer Politik machen, sich nun hinstellen und die Spaltung der Gesellschaft beklagen, ist zynisch. Aber letztlich passt es wieder. Die Forderung nach Zusammenhalt ist ein Symbol, eine Haltung. Wie bei allen Symbolen müssen diese nicht in Einklang mit der Realität stehen. Im Gegenteil. Die Realität ist der Feind der Geste. Mit dieser politischen Technik hält sich eine Generation an der Macht, die direkt vom geisteswissenschaftlichen Studium in die Politik wechselt. Oft genug ohne Abschluss. Eine lebensfähige Zukunft zeugen wird das nicht. Dazu ist Selbstbefriedigung nicht in der Lage. Auch moralische Selbstbefriedigung nicht.