In den Nachfolgestaaten der Ostblockländer wollen die Gesellschaften homogen bleiben - nur dort?
Das Gegenteil von Faschismus ist nicht der Antifaschismus, sondern die offene Gesellschaft, sagte Anetta Kahane, Vorsitzende der Amadeu-Antonio-Stiftung, heute im West Art Talk des WDR. Und wies in bemerkenswerter Weise auf die Kontinuität der gesellschaftlichen Normen und Strukturen im Nationalsozialismus und im sozialistischen Nationalismus der DDR hin. Bei den alten Nachbarn im Osten wäre das genau so, sieht Kahane sicher zutreffend, die mit ihrer Aussage, „der Osten ist zu weiß“ provoziert.
Dazu passt, was unser Gastautor, pensionierter Lehrer in Berlin Moabit schrieb: „Schulen in Deutschland wurden bis in die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts fast ausschließlich von einheimischen Kindern besucht, in der DDR bis in die 90er Jahre.“ Selbst von den nordvietnamesischen Arbeitskräften, mit denen die DDR alles andere als sozialistisch-solidarisch umging, haben die meisten nichts gesehen.
Andere als sie selbst mögen viele im Osten nicht
Die alten Vorstellungen von dem, was im Alltag der Leute in Ordnung ist und was nicht, seien aus der Nazizeit und davor bruchlos gültig geblieben, konstatiert Kahane: Fremdenfeindlichkeit eingeschlossen. Steven Hartung, Aussteiger aus der rechtsextremen Szene Ost, untermalte dieses Bild aus seinen Erfahrungen seit seinem Einstieg als 13-Jähriger in der thüringischen Provinz mit hörenswerten Beschreibungen. In der Szene habe auch er selbst zwischen den Varianten Nationalsozialismus und Nationalbolschewismus changiert.
Mit den Zuwanderern, die nun in den neuen Bundesländern untergebracht werden, bekäme die dortige Bevölkerung Fremde, gegen die sie schon immer waren, ohne welche zu kennen, leibhaftig zu Gesicht, interpretiert Kahane das Geschehen. Hartung berichtete von seinen Fahrten durch östliche Bundesländer in jüngsten Wahlkämpfen, dass ganze Landstriche von den etablierten Parteien offenkundig aufgegeben worden seien, so dass sie dort gar nicht mehr plakatierten.
„Europa von unten“ und „Europa von oben“
Das ARD-Europa-Magazin zeigte heute, wie freiwillige Helfer den Zuwanderern auf der Balkanroute helfen, Tenor: Würde „Europa von unten“ nicht überall zupacken, hätte das Politik- und Staatsversagen – Europa von oben – längst das komplette Chaos zur Folge gehabt bis hin zu Toten an den Landgrenzen – keine übertriebene Perspektive, wie die Zustände in Calais zeigen.
Heute erfahren wir aus den Medien, die Europäische Kommission „nimmt Anstoß am laschen Umgang Deutschlands mit Migranten, die kein Asyl erhalten haben (FAZ).“ Wie bitte? Als das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) die politische Weisung der Bundesregierung ausführte, die Dublin-Regel außer Kraft zu setzen, und BILD allen voran das am 25. August meldete, begrüßte ein EU-Kommissionssprecher diesen Schritt als humanitäre Haltung. Einmal soll das Recht gelten und einmal nicht? Das ist Willkür, Recht nach Stimmungslage. Wie schnell nähern wir uns dem Zustand Asyl nach Kassenlage?
Manchmal schläft man schlecht. Daher sah ich diese Nacht den Film „Wir sind das Volk“, in dem die Momente der ersten Grenzöffnung, der Beginn des Mauerfalls sehr eindrücklich zu sehen sind. Und da fiel mir die Parallele auf zwischen der Entscheidung des DDR-Apparates auf Reisefreiheit 1989 und der Suspendierung der Dublin-Regel für syrische Flüchtlinge durch die Bundesregierung 2015. Beide Male ahnten die Entscheider nicht, was sie auslösten. Denn sie wissen nicht, was sie tun.
Entscheidungen ohne Folgenabschätzung
Die DDR-Führung hatte gedacht, die Bürger würden brav einer nach der anderen ihr Reise-Visum beantragen, genehmigt kriegen und sich verwaltungsfreundlich geordnet auf den Weg machen. Nein, sie strömten zu Tausenden an die Grenze, bis die allein gelassenen Grenzer in vorbeugender Notwehr das Tor selbst aufmachen mussten. Dampf aus dem Überdruck im DDR-Kessel wollten die Funktionäre ablassen und sprengten damit den Deckel weg.
Dampf wollte die Bundesregierung aus dem Kessel des Ansturms an den Grenzen von Ungarn über Österreich nach Deutschland ablassen – und erhöhte den Nachzug aus der Türkei. Syrer wurde zum Passwort für den Einlass. Die Regierungen von Athen bis Berlin lassen ihre Grenzer genau so allein wie damals die DDR-Bonzen.
Erst lobten die EU, andere Länder und die Weltpresse das neue, freundliche Gesicht Deutschlands, personifiziert durch die Kanzlerin, die eben noch im Nazi-Look auf den Titelseiten zu sehen war – in der unendlichen Geschichte von der Griechenland-Rettung. Nun steht Deutschland mit seiner Haltung zunehmend allein da.
Die massiven Verluste der großen Koalition in Österreich bei den heutigen Landtagswahlen in Oberösterreich und die überdeutlichen Gewinne der FPÖ befördern die Wahrscheinlichkeit, dass demnächst der Zuwanderungsgegner FPÖ bei den Landtagswahlen in Wien stärkste Partei wird.
Das Politikversagen im Umgang mit der großen Wanderungswelle in allen Hauptstädten Europas ist unübersehbar. Nichts deutet bisher darauf hin, dass gestaltet wird statt improvisiert. Die Kluft zwischen „unten“ und „oben“ ist erschreckend. Lasst also alle Hoffnung fahren? Nein, das Jahrhundertthema Wanderung erzwingt die grundlegenden Strukturänderungen in den Ländern Europas und des Westens insgesamt, zu denen die politischen und wirtschaftlichen Eliten ihrer Gesellschaften aus eigenem Entschluss nicht fähig waren. Das dauert nur länger, als die Geduld von vielen reicht. Die geschlossene Gesellschaft ist keine Option.
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