In einer Art vorgezogenem Schaukampf um das Kanzleramt zwischen Friedrich Merz, Olaf Scholz und Annalena Baerbock bei Anne Will kapituliert der Aspirant auf den CDU-Vorsitz vor den politischen Vorstellungen seiner beiden Kontrahenten.
Wer einen Eindruck davon gewinnen will, wie sich ein Unions-Kanzlerkandidat Friedrich Merz im kommenden Bundestagswahlkampf gegen die Grünen und die SPD schlagen würde, konnte dies am letzten Sonntagabend bei Anne Will tun. In dem als „Gespräch“ angekündigten Disput über die Frage „Wie wollen wir leben?“, zu dem die ARD Olaf Scholz (SPD), Annalena Baerbock (Grüne) und Friedrich Merz (CDU) eingeladen hatte, ging es um zwei Themenkomplexe: die Wirtschafts- und Schuldenpolitik sowie die Gleichstellungs- und Genderpolitik.
Will stellte den Zuschauern zu Beginn ihrer Sendung Merz als langjährigen Manager des Vermögensverwalters und Investors Blackrock und damit als einen Vertreter des raffgierigen Finanzkapitals vor. Scholz und auch Baerbock wurden von ihr hingegen als zwei Politiker präsentiert, die gerne bereit sind, das Land noch tiefer als ohnehin schon zu verschulden, um die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Lockdowns für zahlreiche Bevölkerungsgruppen abzumildern und den Klimawandel zu stoppen. Die von der Moderatorin so gesteuerte Rollenverteilung war damit schon einmal klar: zwei Vertreter einer um das soziale Wohlergehen und den Klimaschutz kämpfenden Politik gegen einen Vertreter der Politik der sozialen Kälte und der Klimaschädigung.
Erneut in die Defensive geriet der als Wirtschafts- und Finanzfachmann gefeierte Aspirant auf den CDU-Vorsitz beim Thema Wirtschaft und Finanzen allerdings wieder umgehend, als ihm die Moderatorin seine kritischen Äußerungen zur Verlängerung und Aufstockung des Kurzarbeitergelds um die Ohren schlug. Nun war er endgültig als der kalte Finanzhai entlarvt, der den Kurzarbeitern nicht gönnt, dass sie auf unbestimmte Zeit höher bezahlt werden, als es Kurzarbeitern normalerweise zusteht, und ihr Einkommen durch Nebenjobs noch zusätzlich aufstocken dürfen. Scholz und Baerbock präsentierten sich demgegenüber als die Schutzpatrone aller von den Lockdowns wirtschaftlich benachteiligten Arbeitnehmer, Unternehmer und (Solo-)Selbständigen.
An dieser Stelle des Disputs wurde deutlich, dass jemand, der auf bestimmte Auswüchse und Nebenwirkungen sozialpolitischer Maßnahmen zur Linderung der wirtschaftlichen Corona-Lockdowns hinweist, vor anstehenden Wahlen wohl nicht nur in einer Talkshow von Anne Will gegenüber politischen Kontrahenten schlechte Karten hat, die den Wählern rundweg versprechen, der Staat werde durch Schulden all ihre Einbußen auf ewige Zeiten ausgleichen. Merz gab sich in diesem Punkt schließlich komplett geschlagen und betonte recht verzweifelt, wie gut auch er die neue Kurzarbeitergeldregelung findet, die allerdings kurzfristiger gestaltet und überprüft werden müsse.
Der sich nun anbahnende KO von Merz begann damit, dass er zunächst versuchte, diese Themen angesichts der wirtschaftlichen Herausforderungen, vor denen Deutschland und die ganze Welt steht, als weitgehend bedeutungslos abzuqualifizieren. Diese Steilvorlage ließen sich Baerbock und Scholz nicht entgehen. Sie bezichtigten Merz nun nicht nur der sozialen Kälte gegenüber Kurzarbeitern, sondern zusätzlich auch noch der Gleichgültigkeit gegenüber der Diskriminierung von Frauen, sexuellen Minderheiten und Migranten. Baerbock startete eine regelrechte identitätspolitische Philippika gegen ihn mit dem Vorwurf, er ignoriere die grassierende „strukturelle Diskriminierung“ der genannten Gruppen und widersetze sich deren Gleichstellung durch Quotenregelungen in möglichst allen gesellschaftlichen Bereichen sowie der verpflichtenden Anwendung von Sprachregelungen des Gender-Mainstreaming.
Anstatt den identitätspolitischen Angriff von Baerbock nun seinerseits mit einer entschiedenen Antwort und Kritik zu kontern, blieb Merz weitgehend sprachlos und empfahl Baerbock und Scholz, in ihren eigenen Parteien ihre Forderungen stärker umzusetzen. Dass es bei diesen Forderungen allerdings nicht um deren Parteien, sondern um ein Gesellschaftskonzept mit dem Ziel staatlich erzwungener Diversität geht, bei dem Bildung und berufliche Karriere nicht mehr mittels Chancengleichheit und individueller Leistung erfolgen sollen, scheint der vermeintliche Garant des marktwirtschaftlichen Leistungs- und Chancengleichheitsprinzips in der CDU entweder nicht zu wissen, oder es interessiert ihn nicht weiter. Diesen Eindruck musste man am Sonntagabend jedenfalls gewinnen, als Merz sich auch auf diesem Themenfeld von vornherein in die Defensive begab und schließlich vor den Attacken von Will, Baerbock und Scholz mit der Beteuerung kapitulierte, auch er habe grundsätzlich nichts gegen deren identitätspolitische Vorstellungen und Forderungen, halte sie politisch aber eher für nebensächlich.
Gleichzeitig verletzen die Grünen mit ihren identitätspolitischen Forderungen aber zunehmend die Interessen anderer Wählergruppen, allen voran einheimischer weißer Männer, die nach grüner Lesart nicht unter „struktureller Diskriminierung“ leiden und deswegen auch keinen Anspruch auf Maßnahmen „positiver Diskriminierung“ in Gestalt von Vorzugsbehandlungen etwa bei Stellenbesetzungen oder der Vergabe öffentlicher Fördermittel haben. Nicht nur sie fürchten zurecht, aufgrund ihres Geschlechts oder anderer Merkmale stattdessen immer mehr Nachteile bei Bildung und beruflicher Karriere erleiden zu müssen, sollten die Grünen ab 2021 das Land (mit-)regieren. Für die Wahlentscheidung dieser benachteiligten Wählergruppen wird es daher auch eine Rolle spielen, welche Partei sich offensiv dem grünen Generalangriff auf die Chancengleichheit und das Leistungsprinzip entgegenstellt.
Sollte Merz Kanzlerkandidat der Union werden, kommen CDU und CSU für diese Wähler sicher nicht in Frage, es sei denn, Merz wacht nicht nur identitätspolitisch noch auf. Sollte hingegen einer seiner Mitbewerber Kanzlerkandidat der Union werden, besteht für die jetzigen und zukünftigen Opfer grün-roter Identitätspolitik noch weniger Anlass, eine der beiden Unionsparteien zu wählen, nachdem selbst Markus Söder vor einigen Tagen öffentlich erklärt hat, auch er befürworte inzwischen Frauenquoten bei der Besetzung von Unternehmensvorständen. Damit folgt er nicht nur dem herrschenden Zeitgeist, sondern ebenso dem offenkundigen Wunsch aller momentan als mögliche Kanzlerkandidaten gehandelten Politiker der Union, endlich mit den Grünen gemeinsam regieren zu dürfen. Dafür sind sie durch die Bank anscheinend gerne bereit, noch mehr Eckpfeiler des einstigen marktwirtschaftlich-konservativen Profils ihrer Partei zu opfern.