Faesers Haltung zur Chatkontrolle: Erst Nachschärfen, dann Zustimmen

Was Berlin will, ist manchmal nicht so eindeutig. FDP-Granden stehen scheinbar für die Chatfreiheit auf, auch Nancy Faeser ist angeblich dagegen. Aber die Bundesregierung insgesamt will Internetanbieter in die Pflicht nehmen, und ein SPD-Politiker denkt laut über bedingte Handysperren nach.

picture alliance / Frederic Kern/Geisler-Fotopress

Immerhin hat Nancy Faeser nicht einfach zugestimmt in diesem Brüsseler Ministerrat, auch wenn sie das vielleicht gewollt hätte. So hatte es am Montag die österreichische Umweltministerin Leonore Gewessler (Grüne) beim EU-Renaturierungsgesetz gehalten, gegen den ausdrücklichen Wunsch des Koalitionspartners ÖVP. Und so hat dieses zweifelhafte Wiederverwilderungsgesetz den Rat der EU-Umweltminister passiert. Am Donnerstag wollten dann der Innenministerrat über eine neue Verordnung abstimmen. Aber dieser Tagesordungspunkt fiel aus, und nun darf spekuliert werden, warum.

Kurz nach den Wahlen zum EU-Parlament, inmitten einer beginnenden Fußballeuropameisterschaft wollten die EU-Innenminister eine folgenreiche Entscheidung für die Chatkontrolle in der EU treffen. Die Verordnung, die äußerlich, angeblich der besseren „Prävention und Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs von Kindern“ dient, sollte im Rat beschlossen werden – wenn sich denn eine Mehrheit dafür gefunden hätte. Doch die fehlte, weil etwa die Bundesregierung den offenen Sprung scheute. Zuvor war der französische Widerstand dahingeschmolzen, nachdem es Ausnahmen für Polizei und Armee gab.

Gemeint ist das sogenannte Client-Side-Scanning (zu Deutsch: Herumschnüffeln auf den Geräten oder Konten des Nutzers), von dem immer wieder so getan wird, als ob damit die Verschlüsselung eines Chats (auf WhatsApp oder Signal) nicht behindert würde. Aber es wäre eben keine Verschlüsselung mehr, wenn der Staat oder die Betreiber – gewöhnlich dank künstlicher Intelligenz (KI) – eine Nachricht vor dem Abschicken mitlesen und auf Bilder und Links prüfen könnten, um sie bei Nichtgefallen zu blockieren oder zu melden.

Zuvor wollten die Verfasser des Textes selbst Textnachrichten auf Stichwörter scannen, die auf das sicher verwerfliche „Cybergrooming“ von Minderjährigen hindeuten, das aber wiederum nicht direkt etwas mit Kinderpornographie zu tun hat. Die unappetitlichen Delikte werden eher assoziativ und „dekorativ“ um das Vorhaben der Chatkontrolle gruppiert, um dieselbe schmackhafter zu machen. Der Vorschlag der vollständigen Textdurchleuchtung wurde mittlerweile fallengelassen, weil er wohl zu offensichtlich unters Briefgeheimnis fiel. Er kann aber in einem späteren Entwurf jederzeit wieder auftauchen. Das ist einer der Gründe, warum viele die geplante Verordnung als möglichen Dammbruch hin zu totaler Kontrolle werten.

„Chatkontrolle mit liberalem Rechtsstaat nicht vereinbar“

Nun verschwand der TOP also gleich ganz von der EU-Ratsagenda. Einige feiern das, weil sie lange darauf hingearbeitet haben. So meint der (noch) EU-Abgeordnete Patrick Breyer (Piraten), dass „die Überwachungsextremisten unter den EU-Regierungen und Big Sister Ylva Johansson“ daran gescheitert seien, eine „qualifizierte Mehrheit herbeizutricksen“. Wirksamer, gerichtsfester und mehrheitsfähiger Kinderschutz gehe ohnehin anders, meint Breyer – das müssten Rat und Kommission nun einsehen und vom Parlament lernen.

Andere gießen Wasser in den Wein, die Absetzung des Punktes von der Tagesordnung sei nur ein Teilsieg. Das bedeutet, dass die hinreichende Mehrheit unter den EU-Mitgliedern nicht gefunden wurde, aber weiter gesucht wird. Und das ist wohl so bei dieser ewig weiterziehenden „Raupe Nimmersatt“ EU mit ihren endlosen Verordnungsprozessionen.

Das Statement dürfte den Kern treffen, auch Deutschland bringt sich hier qua Innenministerium kontinuierlich ein. 2023 formulierte die Bundesregierung, sie wolle Internetdienste beim Kampf gegen sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen „stärker in die Verantwortung“ nehmen. Die Bundesregierung spricht hier mit gespaltener Zunge. Die offizielle Position ist die Ablehnung, die etwa vom Justizminister Marco Buschmann (FDP) in die Welt hinausposaunt wird. Salbungsvoll erklärt er, dass man in Deutschland „schon zwei Mal Diktaturen erlebt“ habe, die „keinerlei Rücksicht auf Privatsphäre genommen haben“. Aus diesem Grund sei man an der Stelle „besonders sensibel“ und werde „sehr darauf achten, dass die Privatsphäre, insbesondere die private Kommunikation, weiterhin geschützt bleibt“. Auf X (ehemals Twitter) erklärt er, die „Chatkontrolle darf nicht kommen“, weil sie „mit einem liberalen Rechtsstaat nicht vereinbar“ sei.

FDP-Fraktionschef Christian Dürr hält die Vorstellung, dass die Betreiber Chat-Nachrichten oder versendete Bilder ohne Anlass mitlesen könnten, sogar für „geradezu absurd“. Absurd ist das aber nur in Bezug auf den Staat, denn an die diesbezügliche Unschuld von Meta und andere Muttergesellschaften glauben viele Nutzer schon lange nicht mehr. So erklärt sich der WhatsApp-Exodus hin zu Alternativen wie Signal, Threema oder Telegram. Aus den Vorgängen rund um das Digitale-Dienste-Gesetz (DDG, oder englisch Digital Services Act, DSA) ist bekannt, dass es den EU-Regierungen (und auch Kommission und EU-Parlament) aktuell nicht um die Einhegung dieses Fähigkeit der großen Betreiber geht, sondern um ihre Nutzbarmachung zu politischem Nutzen und Frommen, zum Beispiel Terror- und Aufstandsbekämpfung, wenn die französischen Banlieue einmal wieder sieden sollte (EU-Kommissar Thierry Breton war bei diesem Thema besonders vorlaut und engagiert).

Faesers distanzierende Gänsefüßchen

Nun mag man den Bekundungen des Bundesjustizministers Glauben schenken oder nicht. Jedenfalls befindet er sich aber in einer Koalition mit der SPD, und für die sind andere Kriterien wichtiger als der „liberale Rechtsstaat“. Sogar Innenministerin Nancy Faeser (SPD) behauptet auf X, vermutlich ohne rot zu werden, dass „wir“ (kollektivistische erste Person Plural) die „‚Chatkontrolle‘“ ablehnen. Kinder will sie nur mit „rechtsstaatlichen“ Mitteln vor Gewalt schützen. Aber warum setzt Faeser den kritischen Begriff „Chatkontrolle“ dabei in Gänsefüßchen? Das kann man nur als Distanzierung verstehen.

So heißt es auch in einem Bericht des ZDF: „Kritiker sprechen von einer ‚Chatkontrolle‘ und fürchten Massenüberwachung.“ Zu diesen Kritikern gehören pro forma 36 Politiker, darunter auch solche aus der Ampelfraktionen wie Marie-Agnes Strack-Zimmermann, Emilia Fester und die beiden Konstantins (Kuhle und von Notz), die sich in einem offenen Brief für „den Schutz des Rechts auf anonyme und pseudonyme Nutzung des Internets sowie für die Stärkung der Ende-zu-Ende-Verschlüsselung“ einsetzen. Auch Justizminister Marco Buschmann würde nicht „auf die Idee kommen, dass ich einem staatlichen Aufseher etwa mein Fotoalbum zur Vorabkontrolle vorlegen müsste“, bevor er es einem Freund zeige.

Die heute-Redaktion weiß bei alledem nicht so genau, wo bei dem Thema der kürzeste Weg zum Grünen-Lob ist: Der offene Brief ist eine Möglichkeit; eine andere ist das Gesetz, das Familienministerin Lisa Paus (Grüne) zur Verstetigung des Bundesbeauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs geschrieben hat – eines weitgehend überflüssigen Amtes, das die Vorgängerregierung 2010 eingeführt hat. Man entnimmt dem ZDF-Artikel, dass einige deutsche Politiker – Nancy Faeser eingeschlossen – heldenhaft gegen die EU-Chatkontrolle kämpfen, obwohl dieselbe eigentlich auch eine gute Sache sein könnte, wenn man bedächte, wie schlimm sexueller Kindesmissbrauch ist. Das ist ja auch richtig, rechtfertigt aber nach dem Urteil der Kritiker nicht die anlasslose Massenüberwachung von Chats und E-Mails Unverdächtiger sowie Online-Foren.

Erst Nachschärfen, dann Zustimmen ist der Plan

Und die ganz große Erzählung vom deutschen Widerstand gegen die anlasslose, massenhafte Chat-Überwachung funktioniert eben auch nicht. Denn es war Faeser höchstpersönlich, die Ende 2022 ziemlich genau den jetzigen Vorschlag des EU-Rats umsetzen wollte, nämlich das schon genannte „Client-Side-Scanning“, bei dem in E-Mails, Messenger-Apps oder auf Online-Plattformen versendete Inhalte angeblich noch vor der Verschlüsselung „überprüft“ werden sollten. Das schrieb damals Netzpolitik.org.

Faesers bereitwilliges Eingehen auf gewisse Tendenzen im EU-Rat widersprach schon damals dem Koalitionsvertrag, in dem das Recht auf Verschlüsselung niedergelegt war. Aber solange das nicht öffentlich wurde, interessierte die Diskrepanz nicht. Nun scheint Faeser zu Kreuze zu kriechen und will angeblich die Koalitionslinie in Brüssel vertreten. Ist das wirklich so? Und für wie lange?

Im September 2023 hieß es aus dem Bundesinnenministerium (BMI), dass man dem Plan zur Chatkontrolle nicht zustimmen werde. Vielmehr müsse der Verordnungsentwurf „aus Sicht der Bundesregierung an einigen Stellen deutlich nachgeschärft werden, damit er für die Bundesregierung zustimmungsfähig wird“. Nun war die Verwirrung komplett. Festhalten lässt sich allein: Es gab schon damals eine große Bereitschaft des BMI, über die EU-Pläne zur Chatkontrolle zu reden. Das Vorhaben war (und ist) eben doch im BMI erwünscht. Man wusste aber, dass es bei den Bürgern und beim Koalitionspartner nicht so direkt umzusetzen war.

Charakteristisch sind die offiziellen Aussagen von vor neun Monaten, weil bis heute von vielen so getan wird, als ließen sich Verschlüsselung und Kontrolle privater Chats miteinander verbinden. Dem ist aber nicht so. Gibt es eine sichere Ende-zu-Ende-Verschlüsselung der Chats, dann ist die staatliche Kontrolle unmöglich. Erst wenn jene fällt, wird diese machbar.

Bei dem oben zitierten Satz von der Zustimmungsfähigkeit eines nachgeschärften Textes bleibt das BMI auch heute noch: Der Vorschlag soll damit akzeptabel gemacht werden. Die Haltung der Bundesregierung kann als Drängen auf Nachbesserungen, Konkretisierungen oder auch Korrekturen im Detail verstanden werden, aber sicher nicht als grundsätzliche Ablehnung des Vorhabens, wie sie der Koalitionsvertrag vorschreibt.

Innenministerin Faeser hat in den vergangenen zwei Jahren nicht einmal erklärt, was sie an dem Vorschlag wie verbessern will – so wie sie eigentlich nie einen Sachverhalt zur allgemeinen Zufriedenheit erklärt hat. Immer haftet ihr der Verlautbarungsstil an, ebenso Olaf Scholz und anderen Ministern, wenn sie das Volk über das nächste „Gutes-Irgendwas-Gesetzes“ informieren.

Schon hinter diesen sprachlichen Details verbirgt sich das autoritäre Denken der aktuellen Bundesregierung, die sich dauerhaft weigert, mit Bürgern und Experten in einen offenen Diskurs zu treten.

Klar ist also, dass das Innenministerium hinter verschlossenen Türen weiterhin an einer Lösung für das EU-Vorhaben arbeitet. Man sagt das nur nicht so offen. Noch vor einem Dreivierteljahr glaubte die Bundesregierung, dass sich „durch konkretere technische Anforderungen“ ausschließen lässt, dass es zur Schwächung, zum Bruch, zur Modifikation oder Umgehung der Ende-zu-Ende-Verschlüsselung kommt. Die SPD scheint immer noch auf die massenhafte, anlasslose Überwachung aller Bürger ohne richterlichen Beschluss im Einzelfall zu setzen – so wie man es von einer kollektivistischen, wenig auf die individuellen Freiheiten bedachten Partei erwarten kann. Die Aufspürung von CSAM (child sexual abuse material) rechtfertigt offenbar jedes Opfer an Freiheiten.

SPD-Fiedler will Filter in alle Handys einbauen lassen

Das wahre Gesicht der SPD zeigen die Hardliner in den Fraktion, etwa den Innenpolitiker Sebastian Fiedler (SPD), der gar von einem „pandemischen Ausmaß an sexualisierter Gewalt an Kindern“ spricht. Nur geschehen die eigentlichen Verbrechen nicht online, es geht ja nicht primär um „Hassverbrechen“ oder Verleumdungen (auch wenn Ylva Johansson die Opfer angeblich vor dem „Wiederdurchleben“ der Taten schützen will), sondern um realen sexuellen Missbrauch, den man an seiner Wurzel bekämpfen muss. Mit dem Ausgreifen auf die Internetanbieter jagt man im Wortsinn einem digitalen Phantom hinterher, verwechselt die Folgen mit der Ursache.

Kinderpornographie muss hart verfolgt werden, auch die umliegenden Tatfelder von Kindesraub oder Kindesentziehung gehören mutmaßlich zu diesem Komplex. Aber die Chats und E-Mails unverdächtiger Bürger sollten davon unbehelligt bleiben. Für die Strafverfolgung und Rechtsdurchsetzung gibt es Polizei und Gerichte. Man muss hier nicht mit der Kanone einer staatlichen Superregulierung daherkommen, die sich insgesamt über die Online-Kommunikation der Bürger legen lässt, sobald sich die entsprechenden Mehrheiten im Brüsseler Rat finden oder konstruieren lassen.

SPD-Fiedler will gar alle Handys vom Markt nehmen, mit denen es möglich ist, mit „solchem Material umgehen zu können, es also zu öffnen, zu bearbeiten oder zu versenden“. Das sei technisch möglich. Fiedler denkt offenbar an eine Art Filter, wohl wiederum KI-gestützt, der entsprechende Bilder erkennt und blockiert. Auch hier fallen sofort die Folgen für alle Arten der staatlichen „Aufstandsbekämpfung“ (vulgo: Oppositionskontrolle) ins Auge. Sofort ließen sich ja neue Filter erdenken und anfertigen, vielleicht sogar solche, die nach „Döp dödö döp“ fahnden. Ein Dammbruch wäre auch hier zu befürchten. Fiedlers Vorschlag gehört ins Kapitel Kontrollphantasien des Gouvernantenstaats. Sogar die Tagesschau bemerkt, dass solche Ideen bisher nicht einmal der EU-Rat formuliert hat.

Gescheiterter Antrag ist keine Tagesschau-Meldung wert

Fußnote aus dem ARD-Universum: Laut Patrick Breyer wollte die Tagesschau gestern eigentlich über die gelungene Einführung der Chatkontrolle berichten. Da das Votum mangels Mehrheit ausfiel, tauchte das Thema wieder ab. Auf der Website findet sich ein sorgfältig einordnender Bericht, in dem mehr noch als beim ZDF der „Schutz vor sexualisierter Gewalt“ im Vordergrund steht, obwohl es in dem Gesetzestext um ganz anderes geht.

— Patrick Breyer #JoinMastodon (@echo_pbreyer) June 20, 2024

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