Eine Analyse der IS-Strategie nachdem aus Angst vor einem Terrorangriff das Fußball-Länderspiel Deutschland gegen die Niederlande am Dienstagabend in Hannover kurz vor Anpfiff abgesagt worden ist. „Wir haben konkrete Hinweise gehabt, dass jemand im Stadion einen Sprengsatz zünden wollte“, sagte Hannovers Polizeipräsident Volker Kluwe.
Das Freundschaftsspiel stand wegen der Pariser Terroranschläge vom Freitag unter verschärften Sicherheitsvorkehrungen, hatte aber als Zeichen gegen den Terror stattfinden sollen. Kurz zuvor hatte Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) in Berlin gesagt: „Die Gefährdungslage ist wirklich hoch.“
Der IS plant den ganz großen Schlag
So unfassbar das angesichts der mittlerweile über 130 Toten und über 350 Verletzten klingt: Der Islamische Staat hat bei seinem Anschlag in Paris versagt. Denn nach allem, was wir mittlerweile wissen, sollten die drei Selbstmordattentäter, die ihre Sprenggürtel dank aufmerksamer Sicherheitskräfte außerhalb des größten Stadions Frankreichs zur Explosion brachten, sich im Stadion in den Reihen der Zuschauer in die Luft sprengen.
Rund 70.000 Menschen befanden sich zu diesem Zeitpunkt im Stadion – überwiegend Franzosen und Deutsche. Stellen wir uns – obwohl wir uns das nicht vorstellen wollen – vor, was geschehen wäre, hätte der IS Erfolg gehabt. Die Selbstmordattentäter hätten mit ihren Explosionen vielleicht um die fünfhundert bis eintausend Menschen sofort getötet. Dabei hätten sie eine Panik ausgelöst, die das gesamte Publikum und die Feldspieler zugleich ergriffen hätte. Rund 70.000 Menschen, darunter zahlreiche Kinder, die in Todesangst ohne Rücksicht auf andere nach einem Fluchtweg suchen. Wir müssen über die Anzahl der Toten nicht spekulieren – Dantes Inferno wäre dagegen harmlos gewesen.
Gleichzeitig waren in Paris selbst weitere Attentäter unterwegs, von denen offenbar einige aus ihren Fahrzeugen wahllos auf Passanten und Cafés schossen, während ein drittes Kommando gezielt den Veranstaltungsort „Le Bataclan“ stürmten. Dort gab zu diesem Zeitpunkt eine US-Rockband mit dem Namen „Eagles of Death Metal“ ein Konzert. Mit Kalaschnikows und Sprenggürteln wurden dort über hundert junge Menschen im wahrsten Sinne des Wortes niedergemetzelt.
Eine perfide Strategie
Die Wahl der Einsatzziele und die Gleichzeitigkeit des Vorgehens waren im Sinne des Terrorzieles perfekt durchdacht. Die US-Eagles gelten als Vertreter konservativer Wertvorstellungen und Freunde Israels. Ihre Fans und am besten auch sie selbst zu ermorden hätte die Antijudaisten des islamischen Plebs zwischen Marokko und Pakistan mit mehr als stillschweigender Freude erfüllt. Und doch sollte dieser Anschlag ebenso wie das Maschinengewehrfeuer im Pariser Caféviertel nur dem Ziel dienen, Verwirrung zu stiften und Rettungskräfte zu binden. Denn wäre das eigentliche Ziel des Attentats erreicht worden, mit dem im State de France die beiden europäischen Führungsnationen Frankreich und Deutschland ins Mark getroffen werden sollten, hätten alle Rettungskräfte der französischen Hauptstadt nicht ausgereicht, die Verletzten zu versorgen. Zahllose schwerverletzte, niedergetrampelte Menschen wären ihren Verletzungen erlegen, bevor auch nur der Ansatz von medizinischer Hilfe hätte zuteil werden können. Der Angriff des IS hätte nicht nur vermutlich zehntausende Tote gefordert – er hätte auch nicht nur die Unfähigkeit der Europäer offenbart, seine Menschen zu schützen, sondern auch gezeigt, dass „der Westen“ außerstande ist, die Opfer zu retten.
Das alles, die Wahl eines Freundschaftspiels der beiden Führungsnationen bei einer Sportart, die wie kaum eine Zweite für Europa steht, im Herzen Frankreich und das vor laufenden Kameras: Es wäre ein Fanal gewesen, gegen das die Angriffe auf die New Yorker Twintowers wie die Tat von Anfängern gewirkt hätten. Doch der Plan ging daneben – und stellt die europäischen Sicherheitskräfte vor ein kaum zu lösendes Problem.
Wie der zu erwartende Großanschlag aussehen wird
Denn es stellt sich die Frage: Welche Konsequenzen müssen aus Zielwahl und geplanter Durchführung gezogen werden?
1. Es ist nicht zu übersehen: Der IS strebt danach, die ungeliebte Konkurrenz von AlQaida in den Schatten zu stellen. Wir stehen vor einer Art Wettbewerb des Grauens: Wer realisiert den gewalttätigsten, opferreichsten Anschlag?
2. Die Tatsache, dass der Pariser Plan gescheitert ist, wird beim IS ein „Nun-erst-recht“ organisieren. Das Ziel, fünfstellige Opferzahlen zu erzielen, ist nur aufgeschoben. Aber der Aufschub wird zeitlich begrenzt sein, denn die Terroristen haben sich nun mehr denn je zu beweisen, dass ihnen das geplante Fanal gelingt.
3. Die immer noch vorherrschende Vorstellung, es sei hier nur gegen Frankreich gegangen, ist falsch. Es sollte Frankreich und Deutschland gleichermaßen und damit die Europäische Union treffen. Wäre das Freundschaftsspiel in ein deutsches Stadion gelegt worden, wäre die deutsche Stadt, die dieses Stadion beherbergt, Ziel des Attentats geworden.
4. Der IS plant seine Attentate so, dass allein für sich schon opferträchtige „Nebenkriegsschauplätze“ die Rettungskräfte binden und für Verwirrung sorgen sollen. Ziel: Am Hauptanschlagsort die Versorgung verzögern und dadurch die Opferzahl erhöhen.
5. Der Hauptattentatsort wird so gewählt, dass eine möglichst große Anzahl nicht unmittelbar Beteiligter live zuschauen muss und sich die Bilder des Infernos tief in jedes Unterbewusstsein einprägen.
Fassen wir diese fünf Punkte zusammen, dann bleibt nur ein Schluss: Der IS plant gegen Europa einen Anschlag mit dem größtmöglichen Terroreffekt. Die Zahl der Opfer soll gigantisch werden – und sie soll die Unfähigkeit Europas offenbaren, sich selbst zu schützen.
Da niemand wirklich weiß, wie viele Terrorteams sich tatsächlich in Europa aufhalten, ist ab sofort nicht nur jede Großveranstaltung, die sich der TV-Übertragung erfreut, ebenso konkretes Anschlagsziel wie parallel stattfindende Unterhaltungsveranstaltungen. Europa wird außer Stande sein, all diese Events wirkungsvoll zu schützen – es geht schwierigen Zeiten entgegen.
Frankreich-Deutschland – nur so nebenbei
So lief denn bei mir am vergangenen Freitag das Spiel Frankreich-Deutschland eher nebenbei im Fernseher. Die Explosion in der 17. Minute allerdings schreckte mich auf. Ich dachte im ersten Moment daran, dass irgendwelche Idioten mit einem „Böller“ die Aufmerksamkeit auf sich ziehen wollten. Und als jemand, der sich schon lange mit der Terrorproblematik beschäftigt, wollte sich ganz kurz sogar die Vorstellung aufdrängen, dass da irgend etwas in dieser Hinsicht geschehen sein könnte. Doch es gab keine Panik, keine Rauchwolken – nichts. Auch nach den späteren Explosionen blieb die Situation unverändert, das Rätsel ungelöst. So schien eine akute Gefahr nicht zu bestehen. Bis dann die Unsicherheit der in dieser Situation überforderten und alleingelassenen Moderatoren erste Ahnungen aufkommen ließ, dass hinter den Explosionen weit mehr stecken könnte als ein pyrotechnischer Irrläufer.
Das Spiel lief weiter – und die Erkenntnis verdichtete sich, dass Paris gerade Opfer eines koordinierten Terrorangriffs des fundamentalislamischen „Islamischen Staats“ (IS) geworden war. Erst später erhärtete sich jene sich schon schnell aufdrängende Vermutung, dass ursprünglich etwas noch viel verheerenderes geplant gewesen war – und bei allen zu beklagenden Opfernder IS am Ende doch versagt hat, weil es ihm eben nicht gelungen war, seine Selbstmordattentäter wie vorgesehen innerhalb der Zuschauer im Stadion zur Explosion zu bringen. Die Live-Übertragung verheerender Explosionen mit anschließender Massenpanik, welche am Ende vermutlich noch mehr Opfer gefordert hätte als die Explosionen selbst – das war das Fanal, auf das die Islamfundamentalisten gesetzt hatten, weil sie davon ausgingen, damit den Einsturz der Twintowers medial noch zu überbieten. So sind denn auch die wahren Helden dieser Terrornacht jene weitgehend unbeachteten Sicherheitsleute, die die Mörder am Stadioneingang hinderten.
Die erste Reaktion: No more football
Eine erste Reaktion auf diese Erkenntnis hätte lauten können: No more football! So lag es auf der Hand, dass nicht nur der DFB darüber nachdachte, das für heute geplante Freundschaftsspiel gegen unseren Lieblingsgegner „Holland“ abzusagen (okay, Ihr Oranjes – Ihr seid natürlich Niederländer; aber ich habe mich so an Holland gewöhnt weil es einfach netter klingt, ohne „Holland“ als ohne „die Niederlande“ zur WM zu fahren). Doch schnell kam man zu einem „Jetzt-erst-recht!“ Und das ist in diesem Falle mit mehr als vollem Recht!
Denn wenn unsere Zivilisation, die nun vielleicht langsam wach wird und begreift, dass es Freiheit ebensowenig für Nichts gibt wie die Freude an großen Sportevents, dem Terror einer verschwindend kleinen Gruppe archaischer Krimineller mit zivilen wie auch mit militärischen Mitteln deutlich etwas entgegensetzen will, dann darf sie sich nicht in die Defensive bomben lassen. Und so wird das heutige Länderspiel viel mehr sein als nur ein Sport-Event. Es wird zu einem Ausrufezeichen jener beiden Mannschaften und jener beiden Völker, die sich auf sportlicher Ebene in einer ständigen Dauerfehde befinden. Dieses Ausrufezeichen lautet: Wir sind Europäer! Wir stehen auch als ewige Konkurrenten gemeinsam zu unseren Nachbarn in Frankreich! Und wir lassen uns unsere gemeinsame Kultur nicht von Glaubensfanatikern zerstören.
Fußball wird zum Sinnbild europäischer Zivilisation
Deshalb – und nichts wird mich daran hindern können – werde ich heute abend dieses Fußballspiel mit ganz anderen Augen sehen und mit einer ganz anderen Aufmerksamkeit verfolgen, als dieses bislang der Fall war. Denn in einem hat der Bundes-Jogi unbestreitbar recht: Es geht mit einem Mal definitiv nicht mehr nur um Sport. Es geht um das Signal, dass wir Europäer uns unsere Lebensweise nicht durch geisteskranke Irre zerstören lassen.
Wir werden heute abend nicht nur der Opfer von Paris gedenken, sondern uns auch bewusst machen, dass unsere Freiheit, das zu tun und zu lassen, wonach uns der Sinn steht – sei es der Besuch von Konzerten, das nette Gespräch im Café oder eben auch die Begeisterung für einen Sport wie Fußball – das Kernelement unserer freien und offenen Gesellschaft ist. Das heutige Freundschaftsspiel wird so zu einem Bollwerk unserer Zivilisation. Vielleicht sogar kann daraus ein längst überfälliges Signal an alle Fußball-verrückten Nationen Europas werden, sich nicht länger im Klein-Klein gegenseitig zu behindern, sondern den Blick gemeinsam auf jene Gegner zu richten, die unsere Freiheit und unseren Lebensstil aktiv bedrohen. Und das sind – leider – nicht nur die Verbrecher vom IS.
Europa hat zu lange für seine Zivilisation und Kultur gekämpft, um sie sich von wem auch immer stehlen zu lassen – und dieser Kampf, das ist die wichtigste Erkenntnis des Terrors gegen Paris, ist nicht zu Ende und längst nicht gewonnen. So wird das heutige Fußballspiel auch zu einem Teil unseres Kampfes – und der Fußball zu einem Sinnbild der europäischen Zivilisation.
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