Bundesverfassungsgericht wird übergangen: Sperrklausel für EU-Wahl soll wieder kommen

Das Bundesverfassungsgericht kippte die 3,5-Prozent-Hürde für die EU-Wahl – das EU-Parlament will sie jetzt dennoch einführen. Wieder sollen große Teile der Wählerschaft im Parlament nicht abgebildet werden – für Kleinparteien in Deutschland ist die Entscheidung gefährlich. Von Jonas Kürsch

IMAGO / Future Image

Im Europäischen Parlament haben die Abgeordneten über eine weitreichende Reform des Wahlmodus bei den kommenden Europawahlen im Frühjahr 2024 abgestimmt. Dabei votierten die Parlamentarier in Straßburg mit einer klaren Mehrheit für die Einführung einer europaweiten 3,5-Prozent-Hürde bei den Parlamentswahlen.

Besonders für Deutschland würde dieser Gesetzesentwurf einiges ändern. Schließlich gibt es hier seit 2014 keine Prozenthürde zur Europawahl (anders als bei Bundes- und Landtagswahlen), die einen Einzug kleinerer Parteien in das Parlament verhindern würde. Diese Entwicklung ging aus einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts hervor, das die Sperrklausel im Rahmen der EU-Wahlen als „schwerwiegenden Eingriff in die Grundsätze der Wahlrechtsgleichheit und Chancengleichheit“ von kleinen Parteien bezeichnete. Sie sei daher nicht im Einklang mit den Prinzipien unseres Grundgesetzes und klar verfassungswidrig.

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Bei der Einführung einer allgemeingültigen Sperrklausel für Europawahlen würde die Europäische Union sich also über die Entscheidungsgewalt des höchsten Verfassungsorgans Deutschlands hinwegsetzen. Man versucht über den EU-Umweg ein Gesetz zu erlassen und dabei den Einflussbereich des Bundesverfassungsgerichts vollständig zu umgehen: Schließlich gilt für die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union seit der „Van Gend en Loos“-Entscheidung des EuGH aus dem Jahr 1963, dass EU-Recht grundsätzlich über dem nationalen Recht steht.

Würde die Reform bis 2024 umgesetzt werden, hätte dies vermutlich existenzielle Folgen für diverse Kleinstparteien. Freie Wähler, Piraten, DIE PARTEI, Tierschutzpartei, Familienpartei, Volt und ÖDP wären demnach nicht länger mit Abgeordneten im Europäischen Parlament vertreten. Zur Erinnerung: Etwa 12,9 Prozent der Wähler haben bei der letzten Europawahl für kleine Parteien gestimmt, denen allein durch die fehlende Wahlhürde der Einzug in das Parlament gelingen konnte. Ein beachtlicher Anteil der Wahlbevölkerung wäre bei der Einführung des neuen Gesetzesentwurfs also nicht länger im Europäischen Parlament vertreten. Dadurch profitieren könnten vor allem stimmstarke Parteien, deren Mandatsanteil durch die Verhinderung kleinerer Bewerber steigen würde.

Wie die Hürde die Zusammensetzung eines Parlaments und dessen Repräsentativität verändert, war jüngst bei den Landtagswahlen im Saarland zu sehen, wo nur SPD, CDU und AfD die 5-Prozent-Hürde übersprangen. Dadurch änderte sich die Sitzverteilung im Landtag derart, dass SPD eine absolute Parlamentsmehrheit mit gerade einmal 43,5 Prozent der Stimmen erreichen konnte. Knapp 22 Prozent der abgegebenen Stimmen verloren durch die Sperrklausel ihren Einfluss auf die Zusammensetzung des Landtages.

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Während SPD, CDU und CSU die Sperrklausel explizit begrüßen, zeigen sich viele Vertreter kleinerer Parteien über die antidemokratischen Tendenzen dieses Wahlbeschlusses schockiert. Helmut Scholz (Die Linke) und Damian Boeselager (Volt) sind schwer enttäuscht über die Verdrängung von kritischen Stimmen aus dem parlamentarischen Diskurs. Auch Patrick Breyer von den Piraten empfindet die Wahlreform als „Affront gegen das Bundesverfassungsgericht und (…) Anschlag auf unsere Demokratie“. Der AfD-Abgeordnete Gunnar Beck kommentiert, es sei nicht normal, „dass das EU-Parlament Änderungen des Wahlgesetzes vorschlägt, die in Deutschland verfassungswidrig sind.“

Eine minimale Chance bleibt den Kleinparteien aber immer noch: Die Reform wird erst rechtskräftig, nachdem alle Mitgliedsstaaten dem Entwurf offiziell zugestimmt haben. Ob dies vor der nächsten Europawahl passieren wird, ist noch vollkommen offen. Es ist allerdings zu erwarten, dass die deutsche Ampelregierung die Wiedereinführung der Sperrklausel unterstützen wird.


Jonas Kürsch studiert European Studies in Maastricht. 

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Kommentare ( 21 )

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bfwied
2 Jahre her

Seit wann übertrifft EU-Recht das nationale Recht?! Doch erst, nachdem das nationale Parlament den EU-Text in nationales Gesetz überführt hat. Nur in sehr begrenzten Fällen MUSS EU-Recht umgesetzt werden. Und es steht nirgends geschrieben, meines Wissens nach, dass der EuGh über dem nationalen Verfassungsgericht steht. Das ist eine freiwillige Unterwerfung, die nicht zwingend ist.
Wenn mal wieder Vernunft in die Köpfe der Leute eingezogen sein sollte, dann ist es sowieso aus mit dieser EU, dann kann man hoffentlich eine neue sinnvoll weiterentwickelte EG einführen, die nicht den gleichmachenden Zentralismus im Sinn hat, dafür echte Zusammenarbeit in allen Richtungen.

bkkopp
2 Jahre her

Stellen wir uns vor, dass alle EU-27-Länder mehrere, bestenfalls unterhaltsame Politkasper, Kleinparteien, in das sogenannte EU-Parlament delegieren. Welche Beitrag könnten diese “ Parteifamilie der Politkasper“ für eine strukturelle Reform der EU leisten – nada. Es gibt kein EU-27-Volk, das einen gemeinsamen Staat möchte, für den ein Staatsvolk eine repräsentative Gesetzgebungskammer wählen möchte. Das wollen nur die Parteifunktionäre, weil die ca. € 2.5 Mrd. Verwaltungsgemeinkosten für 705 MEPs und den Apparat eine zu schöne Pfründe darstellen.

Rolfo
2 Jahre her

Das Bundesverfassungsgericht von 2022 wird selbstverständlich – bezugnehmend auf das Urteil des Bundesverfassungsgericht von 2014 – eine Fortschrittschreibung des Rechts vornehmen.
Das ist das allerkleinste Besteck, man bedenke nur Ton und Duktus der bisherigen Urteile. Was habt ihr euch denn so? Eher wird dieses Gericht fragen, wieso die Zugangsbeschränkungen a la 2G++, so auch synonym bei den Wahlen die 3,5%-Hürde – nicht längst eingeführt wurde??

Harald R.
2 Jahre her

EU-Recht steht nur über nationalem Recht, wenn die Nation die Rechte an die EU abgetreten hat. Man mag mich korrigieren.

Das EU-Parlament hat so gut wie keine Befugnisse. Die EU-Kommission bestimmt, was gekocht und gegessen wird.

Mal sehen, was passiert, wenn die EZB die Zinsen anhebt. Der Club Med ist bereits sehr unruhig.

Ralf Poehling
2 Jahre her

So langsam sollte auch anderen außerhalb der AfD klar werden, dass die EU mit Demokratie nicht viel am Hut hat. Vielleicht führt dies bei dem einen oder anderen dann ja auch zu Verständnis dafür, warum die AfD im Parteiprogramm vom Dexit redet. Die Briten haben das ja bereits vor uns begriffen und richtig reagiert. Ohne Druck werden die nicht einlenken, sondern ihre Macht mehr und mehr verfestigen. Und dann driftet die EU vollends in die Diktatur ab.

Andreas aus E.
2 Jahre her

Wichtiger wäre Einführung einer allgemeinen Wahlpflicht.
Aber das wollen etablierte Parteien nicht, es könnte zu unangenehmen Überraschungen führen.

Michael W.
2 Jahre her
Antworten an  Andreas aus E.

OK, dann aber auch, ganz oben, den Punkt: „Keiner von denen da unten“. „Stimmenthaltung“ sollte es auch geben, das heißt dann „Ich war da und es ist mir egal“.
Damit wäre dann auch klar, wer nur zu dumm ist, sein Kreuz richtig zu machen (also „ungültig“) oder wer mit dem Angebot an Parteien und Kandidaten nicht zufrieden ist.

Mausi
2 Jahre her

Das bestätigt nur die Tendenz, alles auszuhebeln, was in den Mitgliedsstaaten höchstrichterlich entschieden wird. Und zwar immer dann, wenn es „der“ EU nicht passt. Unterstützt wird die EU von Europäischen Gerichtshof, der ja nicht die Pflicht hat, die Freiheit des Einzelnen zu schützen, sondern „die EU“ umzusetzen.

Waldorf
2 Jahre her

Tja, ist wohl ein Indiz dafür, dass das EU Parlament mittlerweile tatsächlich über mehr Macht verfügt und keine reine Showfassade mehr ist.
Macht teilt sehr ungerne und konsolidiert sich immer.
Spaß- und Elfenbeinturm-Parteien dürfen nur solange mitspielen, solange es um nix geht. Sobald des die echten Machtzentren stört, evtl weil deren Koalitionen neu sortiert werden müssen und es dabei „eng“ zugeht, müssen diese „Stimmenräuber“ kalt gestellt werden.
Insofern ist es nicht wirklich überraschend, daß dieser Vorstoß aus dem Parlament kommt, und nicht aus der Kommission.

Richard28
2 Jahre her

dass SPD eine absolute Parlamentsmehrheit mit gerade einmal 43,5 Prozent der Stimmen erreichen konnte.
43,5 % der abgegebenen Stimmen !

2 Jahre her

Mir hat man noch in der Schule beigebracht, dass die X-% Hürde vor allem dazu dienen würde, eine Zersplitterung des Parlaments wie in der Weimarer Republik zu verhindern. Inzwischen halte ich das für eine Lüge und glaube, dass es nur darum geht zu erschweren, dass die Bürger durch die Gründung neuer Parteien ihren Willen gegen die Altparteien durchsetzen können.