Wer sich auf das Feld der Spekulation über den Zustand unseres Landes und ganz Europas in der Zeit nach dem Abklingen der gegenwärtigen Epidemie begibt, geht ein erhebliches Risiko ein. Wie sich Mentalitäten, Konsumgewohnheiten oder politische Präferenzen verändern werden, lässt sich zu diesem Zeitpunkt nur begrenzt einschätzen, zumal viele Menschen vermutlich den Wunsch haben werden, 2021 möglichst rasch zu dem zurückzukehren, was sie vor 2020 als normal empfanden. Sie werden also zum Beispiel, wenn das irgend geht, wieder große Fernreisen in exotische Länder machen, so wie sie sich jetzt durch die Existenz tropischer Krankheiten auch nicht abschrecken lassen, und werden Tod und Krankheit wieder aus ihrem Bewusstsein verdrängen, wie sie das vor Corona im Alltag ja auch taten. Einige begründete Vermutungen über die Welt nach Corona kann man dennoch anstellen.
- Wir sind kein reiches Land mehr – wenn wir es denn je waren
Die deutsche Politik hat ihren Wählern in den letzten 10 Jahren gern das Märchen aufgetischt, wir seien ein nahezu unendlich reiches Land und würden auch durch den enormen Außenhandelsüberschuss dank des Euro jeden Monat reicher. Wir müssten uns daher finanziell keine Sorgen machen. Es werde immer genug Geld da sein, für höhere Renten genauso wie für eine beispiellos teure Energiepolitik oder für die Alimentierung einer potentiell unbegrenzt hohen Zahl beruflich schlecht qualifizierter Immigranten. Dieses Narrativ wird man so nicht mehr aufrecht erhalten können. Zu viele Menschen werden ihre Arbeit oder zumindest einen großen Teil ihres Einkommens verloren haben, viele Firmen werden in Konkurs gegangen sein, und diejenigen, die überlebt haben, werden erkennen müssen, dass die alten Absatzmärkte so nicht mehr existieren.
Man wird sich also eigentlich überlegen müssen, ob für eine in vielen Aspekten falsch angelegte Energiepolitik wirklich noch das Geld da ist, und ob man wirklich jedem Einwanderer, unabhängig davon, ob er ein Flüchtling ist oder nur ein Arbeitssuchender, im Falle beruflicher und wirtschaftlicher Misserfolge immer noch ein halbwegs sorgloses Leben bieten kann. Allerdings werden viele linke Politiker sicher unerbittlich auf der Fortsetzung der bisherigen Politik bestehen. Sie haben immerhin ein Argument auf ihrer Seite: Da in der Eurozone die Staatsausgaben in den nächsten zehn Jahren ohnehin zu großen Teilen über die Druckerpresse (respektive über die elektronische Geldschöpfung der EZB) finanziert werden dürften, könnte man natürlich auch die deutsche Staatsverschuldung ohne weiteres deutlich erhöhen, ohne damit zunächst irgendein Risiko einzugehen, zumal sich Sparsamkeit für ein Land, das dieselbe Währung hat, wie andere Länder, die ganz auf monetäre Staatsfinanzierung setzen, sich in der Tat nicht lohnt. Dennoch werden vermutlich die Diskussionen darüber, wie der Staat sein Geld ausgibt, härter werden. Merkel ist solchen Diskussionen in der Koalition mit der SPD immer konsequent ausgewichen, und hat im Zweifelsfall immer nachgegeben. Ganz so einfach wird das für ihren Nachfolger, wie immer er heißen mag, nicht mehr sein, zumal die Steuer- und Abgabenlast für Arbeitnehmer in Deutschland ohnehin schon recht hoch ist. Stärker belasten könnte man Firmen und die Besitzer von Vermögenswerten, aber zumindest das Erstere könnte leicht viele mittelständische Betriebe endgültig in den Konkurs treiben. Eine geniale Wirtschaftspolitikerin wie Frau Esken wird sich davon nicht abschrecken lassen, aber hier könnte es dann von den wenigen verbliebenen Pragmatikern in der SPD doch verhaltenen Widerstand geben, von der CDU/CSU ganz zu schweigen. Jedenfalls werden Fragen der Wirtschaftspolitik in den kommenden Jahren wieder sehr viel zentraler werden, als in den vergangenen zehn Jahren.
- In Notsituationen erkennt man den Nutzen eines funktionsfähigen Staates
Der Streit darüber, ob Deutschland und andere Länder es mit dem Kampf gegen Corona nicht vielleicht übertrieben haben, wird noch lange anhalten, gerade dann, wenn die Quarantänemaßnahmen und ähnliche Vorkehrungen, die der FDP-Vorsitzende gerne als „mittelalterlich“ brandmarkt (es sind eher die Instrumentarien des 18. und des frühen 19. Jahrhunderts, nicht des Mittelalters) sich als erfolgreich erweisen. Dann werden viele sagen, man wäre ja auch ohne solche Maßnahmen gut über die Runden gekommen und es wird nicht einfach sein, das Gegenteil zu beweisen.
Allerdings ist doch eines klar: Länder die eine ineffiziente Verwaltung und ein unterfinanziertes oder vielleicht nur falsch organisiertes Gesundheitssystem haben, hatten in der Krise eher schlechte Karten. Die Katastrophe, die in Norditalien eingetreten ist, ist zum Teil auch auf solche Faktoren zurückzuführen, wobei man andererseits sagen muss, dass Griechenland die Corona-Krise bislang recht gut gemeistert hat. Ein Zeichen vielleicht dafür, dass man die Tatkraft des griechischen Staates, wenn es nicht gerade um Wirtschafts- und Steuerpolitik geht, doch unterschätzt hat, wie sich ja auch am Grenzfluss Evros gezeigt hat. Aber klar ist, dass man Seuchen nicht eindämmt, indem man einfach darauf wartet, dass sie von selbst wieder verschwinden.
Man braucht einen handlungsfähigen Staat und man braucht einen Staat, dem seine Bürger zumindest in Notsituationen halbwegs vertrauen, weil sie sonst die offizielle Politik unterlaufen werden. Trotz anfänglicher gravierender Fehler hat sich der deutsche Staat am Ende als handlungsfähig erwiesen, aus der Sicht mancher Kritiker vielleicht all zu sehr; deutlich ist aber auch geworden, dass das Misstrauen gegenüber dem Staat mittlerweile nicht mehr auf ein grundsätzlich staatsfeindliches Linksaußen-Milieu beschränkt ist, sondern weit in bürgerliche Kreise hineinreicht. Die politische Klasse hat für dieses wachsende Misstrauen in den vergangenen Jahren immer nur die bösen „Populisten“ verantwortlich gemacht und sich nie gefragt, was sie selbst dazu beigetragen hat, das Misstrauen wachsen zu lassen, etwa durch ihr Bekenntnis dazu, man sei als Regierung für das Wohl der ganzen Welt und nicht unbedingt der eigenen Bürger verantwortlich. Jetzt wäre eigentlich die Zeit, über diesen Punkt nachzudenken. Von rheinischen Spaßmachern im Gewande des Kanzlerkandidaten ist hier aber wohl ebenso wenig eine Einsicht zu erwarten wie von verhinderten Literatur-Preisträgern aus den grünen Auen Schleswig-Holsteins.
- Grenzen sind wichtig und man kann sie schließen
Heute wird oft behauptet, das Virus kenne keine Grenzen. Wäre das wahr, wäre unverständlich, warum so viele europäische Länder, darunter auch Deutschland den grenzüberschreitenden Reiseverkehr drastisch beschränkt haben. Offenbar erhoffen sie sich von solchen Maßnahmen durchaus einen Nutzen. Gerade Frankreich hat vor kurzem noch einmal Quarantäneauflagen für Reisende aus anderen Ländern beschlossen. Offenbar will man den Erfolg, den man selber in der Bekämpfung der Epidemie erreicht hat, nicht dadurch gefährden, dass man in größerem Umfang Ausländer unkontrolliert einreisen lässt. Der Erfolg, den Länder wie Neuseeland und Australien bei der Bekämpfung der Seuche hatten, spricht auch dafür, dass Grenzschließungen keineswegs wirkungslos sind, denn gerade Australien hatte seine Flughäfen schon frühzeitig für Reisende aus China, Iran und Italien geschlossen. Natürlich sind hier die geographischen Voraussetzungen günstiger als in Deutschland, aber es ist offenbar völlig absurd zu behaupten, es sei überflüssig, Grenzen zu kontrollieren oder auch partiell zu schließen, wenn es um die Bekämpfung einer Epidemie geht. Freilich ist es seit 2015 zur deutschen Staatsdoktrin geworden, dass nationale Grenzen immer offen bleiben müssen, und dass eine Kontrolle von Grenzen einen Zivilisationsbruch, einen Akt der brutalen Barbarei darstellt. Offenbar hat jetzt die Barbarei gesiegt, und das mit dem Segen der Bundesregierung, die in anderen Kontexten alles getan hat, um uns das Gegenteil von dem zu erzählen, was sie jetzt verkündet. Das gibt zu denken.
Freilich gibt es auch in der jetzigen Situation genug Juristen, die uns erklären, dass man vielleicht Bürger anderer EU-Staaten, die ein Virus verbreiten, an der Grenze zurückweisen könne, aber keine Immigranten, die sich auf das Asylrecht berufen und das auch dann nicht, wenn es sich um die Außengrenze der EU handelt und diese Immigranten von einem Staat, der der EU feindlich gesinnt ist, wie der Türkei, als Waffe eingesetzt werden. Sagen wir es ganz radikal: Sicher gibt es eine Pflicht, im Rahmen des Möglichen Menschen in Not, die zum Beispiel wegen ihrer politischen Überzeugungen oder ihres Glaubens verfolgt werden Zuflucht zu gewähren, aber das jetzige europäische Asylrecht (wenn man es ehrlich anwenden würde, was freilich in den meisten Staaten nicht geschieht) läuft faktisch darauf hinaus, jedem Menschen in der Welt ein kaum eingeschränktes Recht, sich in Europa niederzulassen, einzuräumen. Abschiebungen von Personen, die das Asylrecht missbrauchen, oder bei denen der Asylgrund entfallen ist, sind sehr schwierig und in der Mehrzahl der Fälle unmöglich, wenn die entsprechenden Personen einmal im Lande sind und nicht selber bereit sind zu kooperieren.
- Die Konflikte zwischen Deutschland und den anderen EU-Ländern, werden sich weiter zuspitzen.
Der Corona-Schock hat die einzelnen europäischen Ländern unterschiedlich hart getroffen. Regionen und Länder, in denen sich die Seuche sehr früh ausbreitete, waren benachteiligt, weil sie aus den Fehlern ihrer Nachbarn nicht lernen konnten. Das gilt etwa für Norditalien. Dazu kommt der Umstand, dass auch nach dem vorübergehenden Abklingen der Epidemie Länder, die besonders stark auf den Tourismus als Einnahmequelle angewiesen sind, stärker leiden werden als jene, für die Einnahmen aus dem Tourismus eher nachranging sind. Das gilt dann selbst für Länder wie Portugal und Griechenland, die dank harter Entscheidungen bislang mit Corona recht gut fertig geworden sind, besser als wir, wenn man es genau nimmt.
Schon jetzt wird auf EU-Ebene der Ruf nach massiven Transferzahlungen, finanziert im Idealfall über gemeinsame Anleihen mit gesamtschuldnerischer Haftung der noch halbwegs solventen Länder laut. Sicherlich wird man Staaten wie Italien Hilfe nicht verweigern können, aber die Summen, um dies es insgesamt geht, sind so groß, dass hier eine gütliche Einigung zwischen den nördlichen Ländern und den südlichen, die mehr als ein Formelkompromiss ist, auf Dauer schwer vorstellbar ist. Trotzdem tritt eine Partei wie die Grünen konsequent für Lösungen ein, die mit einem Maximum an Schaden für Deutschland verbunden sind, und offenbar denken auch in der SPD unter den Einfluss von „Starökonomen“ wie Marcel Fratzscher nicht wenige Politiker ähnlich. Aber hier wird man doch eher davor zurückschrecken, Sozialleistungen in Deutschland einzuschränken, um mit den Ersparnissen andere europäische Länder zu finanzieren, wozu die Grünen, deren Wähler eher besser gestellt sind, wohl eher bereit wären.
Die einfachste Lösung wird auch hier sein, die Ausgaben über Geld zu finanzieren, das die EZB frisch in die Märkte pumpt, um eventuelle gemeinsame Schulden der EU später zu monetarisieren, etwa über Anleihen mit unbegrenzter Laufzeit und sehr geringen Zinsen, oder indem die EZB diese Summen, nachdem sie die Anleihen vorher komplett aufgekauft hat, einfach aus ihrer Bilanz streicht. In jedem Fall wird sich in der Eurozone jetzt die Inflationspolitik, die die südlichen Länder vor 2000 ohnehin meistens verfolgt hatten, endgültig als maßgeblich durchsetzen, da sich auch nur so die entstandenen gigantischen Schulden – auch für Firmen, man denke an Frankreich – abbauen lassen. Damit wird der Euro endgültig zur Ramschwährung werden. Die Verlierer werden die Menschen sein, die keine Sachwerte (Immobilien, Aktien, Unternehmensbeteiligungen) besitzen, so wie schon in den vergangenen Jahren. Der Umfang dieser Personengruppe ist in Deutschland besonders groß, deutlich größer zum Beispiel als in Italien oder Spanien, und diese Bevölkerungsschichten werden entsprechend fühlbar verarmen, was wiederum soziale und politische Spannungen auslösen wird. Wir müssen uns auf eine massive Zunahme der Verteilungskonflikte auch auf nationaler Ebene einstellen.
- EU-Kommission und EU-Parlament sehen ihre Stunde gekommen.
Aber andererseits würde das das ohnehin schon bestehende Legitimitätsdefizit der EU verstärken. Selbst in einem EU-frommen Land wie Deutschland würde überdies eine eigene EU-Steuer, die eine fühlbare Belastung darstellt, die Debatte über Nutzen und Nachteil der EU, die die politischen und medialen Eliten so gerne im Keim ersticken, intensivieren. In anderen Ländern wie den Niederlanden oder Skandinavien könnten solche Maßnahmen auch mittelfristig zu einer Sezession führen, wie zuvor schon in Großbritannien. Indes bleibt es unwahrscheinlich, dass die Brüsseler Amtsträger und ihr Stab diese Gefahren erkennen, sonst hätte man auch den Brexit abwenden können, den man durch den Ruf nach immer mehr Europa faktisch mit provoziert hat.
Unabhängig von der Ausweitung des EU-Haushaltes gibt die Corona-Krise der Kommission aber auch sonst eine Schlüsselstellung. Sie entscheidet, welche Beihilfen für die Wirtschaft auf nationaler Eben zulässig sind und welche nicht. Einerseits ist es verständlich, dass die dafür zuständige Kommissarin Vestager einen völligen Wildwuchs vermeiden will – es droht ja auch die Gefahr, dass Zombie-Unternehmen, die schon vor der Krise keinen Gewinn mehr erwirtschafteten, jetzt weiter am Leben gehalten werden – , andererseits kann man sich auch des Eindrucks nicht ganz erwehren, dass man stärkeren Ländern wie Deutschland die Chance nehmen will, ihre Wirtschaft schneller als andere wieder durch großzügige Kredite und Subventionen in Gang zu bringen. In der Tat zeichnet sich ab, dass die Corona-Krise die Ungleichgewichte in der Euro-Zone, die schon seit der Finanzkrise von 2008/09 zugenommen haben, weiter dramatisch verstärken wird, diesmal auch zu Lasten Frankreichs, nicht nur der Mittelmeerländer. Es läge nahe, dass die Kommission versucht sein könnte, einer derart asymmetrischen Entwicklung, die sich in der Eurozone nicht mehr durch Abwertungen von nationalen Währungen ausgleichen lässt, entgegenzuwirken. Allerdings könnte sie dann am Ende auch die Gans schlachten, die auch in Zukunft die goldenen Eier legen soll, die deutsche Volkswirtschaft. Das wäre auch und besonders für Ostmitteleuropa, das wirtschaftlich eng mit Deutschland verbunden ist, eine ziemlich schlechte Nachricht.
In jedem Fall werden die Maßnahmen der EU-Kommission auch in London sehr genau beobachtet werden. Dort will man gerade jetzt in der Krise sicherlich freie Hand haben für den wirtschaftlichen Wiederaufbau des Landes. Mit einer Kontrolle von Subventionen durch die EU, wie sie Brüssel eigentlich zur Bedingung für einen Handelsvertrag mit dem Vereinigten Königreich machen will, wird das kaum verträglich sein. Man sieht ja jetzt, welche Gefahren damit verbunden sein können. Damit steigt die Wahrscheinlichkeit, dass die Verhandlungen zwischen Brüssel und London scheitern und es doch noch zu einem harten Brexit kommt. Sicherlich, das ist auch für London schädlich, aber da das Land sich ohnehin in einer Wirtschaftskrise befindet, werden die zusätzlichen negativen Wirkungen eines harten Brexit kaum klar zu erkennen sein, und lassen sich damit den Wählern und der Wirtschaft leichter verkaufen. Einmal mehr macht Brüssel taktische Fehler und treibt seine Kritiker in eine Haltung der Totalopposition, aber die EU ist und bleibt ein nicht lernfähiges System und das wird auch noch nach Corona so sein, diese eine Erkenntnis zumindest ist sicher. Dagegen helfen dann auch keine neuen Impfstoffe und kein Remdesivir.