Der „Sozialdemokratisierung“ der CDU ging die „Christdemokratisierung“ der SPD voraus. Die inhaltlichen Schnittmengen beider Parteien sind inzwischen so groß, dass wir es nur noch mit einer „Großen Volkspartei“ zu tun haben.
Seit rund vierzig Jahren stand in Deutschland, wie auch in anderen europäischen Ländern, einem konservativ-liberal geprägten politischen Lager ein sozialdemokratisch-ökologisch geprägtes Lager gegenüber. Während das konservativ-liberale Lager dem seit den 1980er Jahren einsetzenden globalen Trend hin zu mehr Freihandel, internationaler Zusammenarbeit und Vernetzung von Unternehmen, einem verschärften internationalen Wettbewerb und offenen Arbeitsmärkten weitgehend befürwortete und selbst aktiv mitbetrieb, stand das sozialdemokratisch-ökologische Lager diesen Ansätzen reserviert bis ablehnend gegenüber. Zusammen mit den Gewerkschaften fürchteten die Sozialdemokraten als Folge von Liberalisierung und Deregulierung Nachteile für die Arbeitnehmer, die Grünen für Natur und Umwelt. Beide verstanden sich daher als oppositionelle Gegenmächte, deren Aufgabe darin bestand, die potentiellen Opfer einer konservativ-liberalen Wirtschaftspolitik vor deren Folgen für sie zu schützen.
Daraus wurde allerdings erst etwas, nachdem die SPD sich nicht nur die wirtschaftspolitischen Konzepte und Instrumente des konservativ-liberalen Lagers zu eigen gemacht hat, sondern sich nach der Fortführung der rot-grünen Koalition ab 2002 mit der Agenda 2010 auch noch einiger „neoliberaler“ Konzepte und Instrumente im Bereich der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik bediente. Sie wurden von einem Expertenkreis unter Leitung des damaligen Arbeitsdirektors der Volkswagen AG, Peter Hartz, entwickelt. Dieser hatte nach dem Fast-Zusammenruch des Unternehmens Anfang der neunziger Jahre gelernt und gezeigt, wie ergänzend zur wirtschaftlichen Erneuerung eines Unternehmens eine „aktivierende Arbeits- und Sozialpolitik“ zu gestalten ist. Sie soll die Empfänger staatlicher Transferleistungen nicht nur fördern, sondern auch fordern.
Wenn heute Merkel zum Vorwurf gemacht wird, sie übernehme sozialdemokratische Politikansätze, so sollte dabei nicht außer acht gelassen werden, dass Schröder zunächst wesentliche Konzepte einer konservativ-liberalen Wirtschafts- und Sozialpolitik in das politische Handlungsrepertoire der SPD integrierte, wo sie bis heute fest verankert sind. So wie er versuchte, mit christdemokratischen Politikansätzen CDU-Wähler für die SPD zu gewinnen, versucht Merkel umgekehrt, mit sozialdemokratischen Politikansätzen SPD-Wähler für die CDU zu gewinnen. Der „Sozialdemokratisierung“ der CDU ging somit eine „Christdemokratisierung“ der SPD voraus. Dadurch sind die inhaltlichen Schnittmengen beider Parteien inzwischen so groß geworden, dass man mit einiger Berechtigung sagen kann, dass wir es statt mit zwei Volksparteien eigentlich nur noch mit einer „Großen Volkspartei“ zu tun haben. Sie entspricht idealtypisch dem, was der Politologe Otto Kirchheimer schon vor Jahrzehnten als „Catch-all-Party“ bezeichnet hat, deren vorrangiges Ziel die Maximierung von Wählerstimmen ist.
Mit dieser Kombination aus einer liberal geprägten Wirtschafts- und Arbeitspolitik ist die Bundesrepublik als Exportnation im Vergleich zu allen anderen EU-Ländern bislang recht gut gefahren. Gleichwohl geraten mit ihr nicht nur viele Unternehmen, sondern auch deren Mitarbeiter unter einen verstärkten Wettbewerbsdruck. Sie müssen durch Produkte aus Billiglohnländern oder Standortverlagerungen des eigenen Unternehmens dorthin plötzlich mit Löhnen konkurrieren, von denen sie in Deutschland nicht leben könnten. Die damit verbundenen Kostennachteile können deswegen in Deutschland schon seit Jahren nur noch durch Produkt- und Produktivitätsverbesserungen ausgeglichen werden, die die Leistungsanforderungen an die Arbeitnehmer sukzessive erhöhen. Andernfalls drohen Arbeitsplatzabbau, Frühverrentung, Arbeitslosigkeit oder prekäre Beschäftigung. Damit muss man in Deutschland zwar weder hungern noch frieren, die Lebensbedingungen eines nach Jahren oder gar Jahrzehnten arbeitslos gewordenen Hartz IV-Empfängers haben sich im Vergleich zu seinem vorherigen Leben gleichwohl deutlich verschlechtert.
Um dies zu gewährleisten, erschöpft sich die von CDU/CSU und SPD gemeinsam betriebene Politik auch nicht in einer Unterstützung und weiteren Forcierung der Liberalisierung, Internationalisierung und Deregulierung der Finanz- und Produktmärkte, sondern umfasst zum Ausgleich sozialpolitische Konzepte und Instrumente aus dem klassischen sozialdemokratischen Arsenal. Sie bilden die dritte Säule des gemeinsamen politischen Selbstverständnisses der beiden Volksparteien. Mit ihrer Hilfe soll sichergestellt werden, dass der mit „neoliberalen“ Mitteln erzeugte wirtschaftliche Reichtum des Landes mit sozialdemokratischen Mitteln unter allen Beteiligten gerecht verteilt wird. Das will allerdings immer weniger gelingen. Damit verlieren beide Parteien zwangsläufig an Vertrauen und Zustimmung vor allem in denjenigen Bevölkerungsschichten, die sich zu Recht oder zu Unrecht als Verlierer ihrer Wirtschafts- und Arbeitspolitik sehen.
Dies hat bei vielen sozialdemokratischen und christdemokratischen Wählern, insbesondere aus den unteren und mittleren sozialen Schichten, inzwischen das Fass zum Überlaufen gebracht. Statt dem einst von Ludwig Erhard nicht nur versprochenen, sondern realisierten „Wohlstand für Alle“ drohen ihnen heute nicht nur ständig steigende Leistungsanforderungen und Einkommensverluste, sondern auch noch zusätzliche Konkurrenten an den Arbeitsmärkten. Da sowohl die Grünen wie die Linken diesen Schritt einer bislang in Deutschland noch nie praktizierten, „neoliberalen“ Öffnung des Arbeitsmarktes mit unterstützen, blieb denjenigen Wählern, die mit einer solchen Arbeitsmarktpolitik nicht einverstanden sind, kein anderer Weg, als die AfD zu wählen. Sie fordert als neue nationalkonservative Oppositionspartei am entschiedensten eine protektionistisch regulierte Arbeitsmarktpolitik, steht damit inzwischen aber nicht mehr allein, sondern erhält paradoxerweise faktische Schützenhilfe von Seiten der FDP. Diese streitet normalerweise für die Liberalisierung des Arbeitsmarktes, plädiert nun aber, im Einklang mit der AfD, für dessen weitgehende Schließung gegenüber Asylbewerbern. Das fordert auch die CSU, die damit in der Migrations- und Arbeitsmarktfrage ebenfalls aus dem Catch-all-Konsens von Christdemokraten und Sozialdemokraten ausscheidet.
Die beiden Volksparteien haben auf diese Weise inzwischen einen beachtlichen Teil ihrer ehemals sehr großen Anhänger- und Wählerschaft schon verloren. Sie verfügen im Bundestag nur noch über eine knappe Mehrheit. Halten sie, wie angekündigt, an der bisherigen Ausrichtung ihrer gemeinsamen Politik weiter fest, wird sich dieser Trend weiter fortsetzen. Die Kritiker dieser Politik werden weiter Zulauf bekommen, egal ob sie sich vor allem gegen die wirtschaftspolitischen, die arbeitspolitischen, die sozialpolitischen, die arbeitsmarktpolitischen, die migrationspolitischen oder die europapolitischen Aspekte dieser Politik wenden. Er wird umso größer ausfallen, je mehr sich die derzeit guten wirtschaftlichen Verteilungsspielräume, sei es durch eine konjunkturelle Flaute, sei es durch einen Wiederanstieg des Zinsniveaus, wieder verengen. Angriffsflächen bietet die Politik von CDU/CSU und SPD ihren Kritikern und Gegnern aber selbst bei guter Wirtschaftslage genug. Die Anzahl der Bürger, die durch sie Nachteile erleiden oder auch nur völlig übergangen fühlen, wächst stetig. Die Anhänger- und Wählerbasis der beiden Volksparteien erodiert dadurch zusehends.
Wo sich die derzeitigen deutschen Parteien entlang dieser Konfliktlinie in Zukunft genau positionieren werden, ist noch weitgehend offen. Sie stehen nicht an der Spitze der Bewegung, sondern hinken ihr im internationalen Vergleich eher hinterher. Die bisherigen Lagerzuordnungen von konservativ-liberal und sozialdemokratisch-ökologisch lösen sich jedoch zusehends auf, neue sind im Entstehen. Die Parteien- und Koalitionslandschaft von morgen wird nicht nur eine andere als die von heute sein, sondern vermutlich auch noch so manche Überraschung mit sich bringen.
Roland Springer arbeitete als Führungskraft in der Autoindustrie. Er gründete im Jahr 2000 das von ihm geleitete Institut für Innovation und Management. Sein Buch Spurwechsel – Wie Flüchtlingspolitik wirklich gelingt erhalten Sie in unserem Shop www.tichyseinblick.shop
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Habe herrn Martin Schulz per e-mail vorgeschlagen, der CDU einen GroKoDeal anzubieten des Inhalts, eine GroKo OHNE Frau Merkel zu beschließen; das würde die CDU/CSU gewaltig in die Breduille bringen!
Eine interessane Ursachenforschung, Herr Springer.
Das Verhalten der Parteien ist irgendwie nicht schlüssig. Angst vor steigenden Arbeitslosenzahlen und dann importiert man Millionen an nicht vermittlungsfähigen „Flüchtlingsarbeitslosen“direkt ins Sozialsystem. Die auch noch den Qualitätsanspruch als Industriemacht nach unten drücken.
Schröders neoliberale Finanzpolitik war, so wie ich es aus etlichen Finanzkrisen Dokus erinnere, die Entfesselung der Finanzmärkte. Das hereinlassen von Heuschrecken und das Hemmungsloses Geld generieren aus dem Nichts. – Teils das 36 fache verleihen der tatsächlichen Geldmenge.
Das nun alle Parteien auf dem selben Trip sind, macht die Sache nicht besser.
Ich würde die „neu entstehenden Lagerzuordnung“ Vernunft versus Utopien nennen.
Nein nein, werdet nicht Naiv ! Wenn eine neue Partei etwas Grundsätzliches verändern könnte, oder die Macht der Einheitspartei über kurze Distanz zu Nichte machen könnte, wären sie längst verboten. Da schwingt man auch Mangel an Fakten, und mit ganz viel Vergesslichkeit der ehemals eigenen Parteiprogramme, gern mal die Nazi-o. Rassismuskeule. Und wenn man über etwas nicht reden will/darf, hat man zur Not noch die Verschwöhrungskeule. Es muss um Alles in der Welt verhindert werden, dass der Bürger erfährt, wer in der Politik wen finanziert und kauft. (siehe Parteispenden) Da nehmen sich die sogenannten Volksvertreter sogar heraus, ihren rechtlichen gesehenen… Mehr
Sollte es wirklich erneut zu einer GroKo kommen, haben wir es nicht nur mit einer gemeinsamen „Großen Volkspartei“ zu tun, sondern auch mit drei gr0ßen ‚losern‘ der Bundestagswahl an der Spitze.
Wenn schon alle an die politische Verantwortung appelieren, dann sollten als allererstes mal Merkel, Seehofer und Schulz ihren Hut nehmen und den Weg für andere Parteimitglieder frei machen. Das währe mal ein Zeichen.
Man könnte in Abwandlung auch davon ausgehen, dass Politik in Deutschland demnächst täglich neu ausgehandelt werden muss.
Werden wir in Zukunft neue Verbindungen von National und Sozialismus erleben? Ich meine damit ausdrücklich nicht das wahnsinnige und verbrecherische NS Regime sondern denke eher an die nordeuropäischen Modelle der Volksheime. Der angelsächsische Neoliberalismus passt zu uns ebensowenig wie das lockere wirtschaften der Südeuropäer. Deutschland gehört, auch wirtschaftskulturell, zu den germanischen Ländern. Das sind uralte Kulturäume, Arten zu Leben, Beziehungen zu pflegen, Handel zu treiben. Das kann man nicht so leicht zerstören mit dem Euro. Das kommt alles wieder zum Vorschein. Auch passt dieser ganze aggressive Imperialismus seit 1914, heute fortgeführt über die Nato und die EU (Balkan, Ukraine, billige… Mehr
“ Statt dem einst von Ludwig Erhard nicht nur versprochenen, sondern realisierten „Wohlstand für Alle“ drohen ihnen heute nicht nur ständig steigende Leistungsanforderungen und Einkommensverluste, sondern auch noch zusätzliche Konkurrenten an den Arbeitsmärkten.“ 1)Unverständlicherweise wird hier CDU-Kanzler Erhard als Vater des Wohlstands für alle löblich erwähnt, obwohl doch gerade unter ihm 1965 bildungsferne , nicht benötigte und die Automatisierung von Arbeitsabläufen nur verzögernde Anatolier mitsamt ihren Familien hierzulande angesiedelt wurden, die sofort mit dem Aufbau einer billionenteuren Gegengesellschaft begannen – billionenteuer übrigens u.a. auch deshalb, weil Kanzler Erhard der ansehnlichen in Anatolien zurückgebliebenen Verwandtschaft (Eltern, Schwestern usw.) das Bezahlen von… Mehr
Globalisierung bedeutet nur Verlust, für alle, die in einem Industrieland leben. Produktionen gehen in billig Länder oder werden automatisiert.
Genau deswegen braucht man Grenzen….allein Dummheit ist grenzenlos.
Gute Analyse. Die Plattidüden des letzten Absatzes hätte sich der Autor allerdings schenken sollen. Es gibt eine Quintessenz aus der Analyse, die lautet: Wahlen werden nicht mehr in der Mitte gewonnen. Wähler wollen Alternativen, damit sie WÄHLEN können.
Ein sehr sehr schöner und informativer Artikel Herr Springer!
Vielen Dank!
Ihr Fan!
Danke für die Blumen