Tichys Einblick
Scholz und Habeck

Die Wir-Sager

Der Kanzler sagt es in Reden zur Lage alle elf Sekunden, der Vizekanzler alle siebzehn Sekunden: das Wörtchen „wir“. Aber wer ist wir in Sätzen wie „Wir werden unsere Probleme gemeinsam meistern“ (Scholz) oder „Mit dieser Haltung können wir es schaffen“ (Habeck)?

IMAGO / photothek

Der Fußball-Rekordmeister FC Bayern hat einen bairischen Leitspruch: „Mia san mia“ (Wir sind wir), der bedeutet: Wir machen, was wir wollen, und wenn die Anderen (= Ihr) das nicht akzeptieren, ist es deren Problem.

Politisch pflegte die CSU dieses „Mia san mia“, aber seitdem sie bei Landtags- und Bundestagswahlen nicht mehr über 50 Prozent der Stimmen erhält, sondern nur noch um 35 Prozent, wirkt das nicht mehr glaubhaft.

Neben dem eindeutigen Wir, das sich gegenüber einem Ihr klar abgrenzt, gibt es auch ein unscharfes, das grundsätzlich offen lässt, wer „dazu“ gehört und auch alle einschließen kann. Dieses unbestimmte Wir beherrscht in Deutschland den aktuellen Regierungsdiskurs zur Energiepolitik.

Aber wen meint Scholz mit „wir“?
Siebzigmal „Wir“ in dreizehn Minuten
 In einer Pressekonferenz (22. Juli 2022) verwendete Bundeskanzler Scholz in dreizehn Minuten siebzigmal ein Wir als Handlungsträger, zum Beispiel: „Wir haben die notwendigen Entscheidungen getroffen“, „Wir werden alles Erforderliche tun“. „Dass wir zusammenhalten – das ist entscheidend“. Drei Wochen später, in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung (13./14./15. August), spricht Vizekanzler Habeck siebenunddreißigmal – alle siebzehn Sekunden – von diesem Wir: „Wir müssen gerade Entscheidungen in kürzester Zeit treffen“, „Wir können die Krise stemmen“, „Wir sind aufeinander angewiesen“ usw.

Ein Ihr, gegenüber dem sich das Wir abgrenzt, kommt weder bei Scholz noch Habeck vor. Es gibt nur ein alternativloses Wir, und dieses hat je nach Kontext einen verschiedenen Begriffsumfang: Personbezogen meint es Kanzler bzw. Vizekanzler, im engen Sinn die Bundesregierung und ihre Minister; im weiteren Sinn den Staat und schließlich alle zusammen, Regierende und Regierte. Aber wer ist mit diesem großen WIR, das ganz selbstverständlich klingt, faktisch gemeint? Was ist der gemeinsame Nenner dieser Gemeinschaft?

Bundestagsdebatte:
Merkel und „wir“: Über die Sprache der Bundeskanzlerin
1914, bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges, beschwor Kaiser Wilhelm II. in einer Thronrede die nationale Gemeinschaft mit dem vielzitierten Spruch: „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur Deutsche“. Das heutige große WIR kennt keine Deutschen – zumindest sprachlich: Das Wort „Deutsche“ kommt in den Reden von Scholz und Habeck nicht vor, und die Bewohner von Deutschland heißen „Menschen“; so sagt Habeck im Interview zur Energiekrise: „Wir werden das nur hinbekommen, wenn Menschen bereit sind, einen Beitrag zu leisten“. Nun gibt es auf der Welt acht Milliarden Menschen (davon 83 Millionen in Deutschland); für politische Entscheidungen müsste man schon wissen, welche und wie viele dieser Menschen „einen Beitrag leisten“. Aber Habeck bleibt im Allgemeinen.

Neben den „Deutschen“ kommt als Träger des großen WIR auch der im Grundgesetz (Präambel) genannte Verfassungsgeber in Frage: das „Deutsche Volk“. Aber dieser Ausdruck ist politisch noch inkorrekter als „die Deutschen“: Politische Texte, in denen das „deutsche Volk“ häufiger vorkommt, werden deshalb vom Verfassungsschutz als „Verdachtsfall“ eingestuft.

Mit dem Wörtchen „wir“ will die Regierung in der Energiekrise alle ansprechen und einbeziehen. Diese kommunikative Integration bleibt aber beschränkt auf eine Diskurswelt, die wenig mit den Fakten zu tun hat: „Dass wir den Gasverbrauch reduzieren“ (Habeck), heißt ja nicht, dass jemand, der die Energiepolitik der Bundesregierung für falsch hält, nun privat für deren Folgen einsteht und sich mit ihr solidarisch „unterhakt“ (Scholz).

Das Wir ist eine Sprechblase, die im Winter im Praxistest platzen könnte. Was bliebe dann? Ein „diverses“ oder „vielfältiges“ Deutschland mit vielen Ich- und Wir-Gruppen – also genau das Gegenteil des großen WIR, das sich Kanzler und Vizekanzler wünschen.

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