Der neue Vorschlag von SPD, FDP und Grünen zur Wahlkreisreform ist im Ergebnis gegen den größten parteipolitischen Widersacher gerichtet. Nicht nur der Bundestag wird verkleinert, sondern auch der Einfluss des Wählers auf die Abgeordneten.
Alle vier Jahre erfolgt in Deutschland pünktlich zur Wahl des US-Präsidenten ein bemerkenswertes Ritual. Presse und soziale Netzwerke ereifern sich über das transatlantische Wahlsystem, dessen Modus aus Wahlmännerstimmen die Macht der Bundesstaaten mehr betont als die des zelebrierten Mottos des „one man, one vote“. Mehrmals ist es in der US-Geschichte vorgekommen, dass Präsidenten an die Macht kamen, die nicht die Mehrheit der Stimmen aller US-Bürger erhielten. Dabei hat dieses System einen inneren Kontrollmechanismus: er stellt sicher, dass die Ballungszentren nicht immer über die Provinz bestimmen können. Dahinter steht der Gedanke, dass eine Regierung nicht nur in den Zentren, sondern flächendeckend Zustimmung erhalten muss.
Umso bemerkenswerter ist der nicht nur in Deutschland verbreitete Dünkel gegenüber dem amerikanischen System, da nahezu jedes europäische Wahlsystem seine Tücken und Besonderheiten hat, die bereits im benachbarten Nationalstaat kaum zu verstehen sind. Es dürfte nur wenige Bundesbürger geben, die einem Ausländer erklären können, was es mit Überhangs- und Ausgleichsmandaten auf sich hat. Vermutlich scheitern schon viele Bundesbürger am Verständnis für die Zusammensetzung des eigenen Parlaments.
Dass bei der ersten Bundestagwahl 1949 nur eine Erststimme existierte und damit in den Kreisen ein Mehrheitswahlrecht, ist angesichts der vielfältigen Reformen heute kaum noch vorstellbar. Wen die Bürger damals im eigenen Kreis in den Bundestag schickten, saß dort auch. Parteien ohne Direktmandat konnten in den Bundestag einziehen, wenn sie in einem Bundesland (!) fünf Prozent errangen. Die Mandate waren nach Ländern verteilt, was dem Bundestag eine feste Größe gab – anfangs von 410 bzw. 421 Abgeordneten. Simple Zeiten, aber für den Bundesbürger verständlich.
Die Ampel-Regierung hat mit den kürzlich veröffentlichten Eckpunkten einer neuerlichen Wahlkreisreform die schlechte deutsche Tradition fortgesetzt, das Wahlsystem in Deutschland noch komplizierter zu machen, als es vorher war. Nach der Erst- und Zweitstimme soll eine Drittstimme bzw. „Ersatzstimme“ eingeführt werden. Hintergrund ist das Ziel, die Zahl der Bundestagsabgeordneten auf 598 zu begrenzen, die Zahl der Wahlkreise soll bei 299 bleiben (die Große Koalition hatte diese auf 280 reduzieren wollen).
Wie schließt die Ampel nun die Lücke? Ein Wahlkreis kann schließlich nicht ohne Repräsentant bleiben. Das präferierte Modell sieht eine Dritt- bzw. „Ersatzstimme“ vor. Der Wähler stimmt am Wahltag dann nicht nur für einen Direktkandidaten, sondern auch für einen „Ersatz“, sollte dieser nicht zum Zuge kommen. So könnte ein SPD-Wähler seine Ersatzstimme einem Grünen, ein CSU-Wähler einem FDPler die Stimme geben, ohne dass diese komplett verfällt.
Die Ampel bleibt damit einer bundesrepublikanischen Tradition treu: die Erststimme verliert zugunsten der Zweitstimme an Kraft, nicht Personen, sondern Parteien zählen. Die Quertreiber in den Parteien, die nicht über Listen abgesichert sind, müssen nun noch mehr bangen, da auch das sichere Direktmandat bald nicht mehr so sicher ist. Es ist zudem das Gegenstück zum eingangs erwähnten amerikanischen Fall: nicht mehr die lokalen Gegebenheiten sind nun alleinentscheidend darüber, wer ins Parlament zieht oder nicht, sondern es kommt letztlich auf das gesamte Bundesland an. Die Städte stimmen damit auch auf dem Land ab.
Dass die CDU/CSU-Fraktion mit einer Verfassungsklage droht, kommt daher wenig überraschend. „Wenn für die Zuteilung eines Wahlkreismandats maßgeblich ist, wie viele Listenstimmen eine Partei prozentual gewonnen hat, ist für den einzelnen Wähler im Wahlkreis nicht abschätzbar, welchen Erfolgswert seine Stimmen haben wird“, sagt Thorsten Frei, Parlamentarischer Geschäftsführer der Unionsfraktion. Welchem Kandidaten das Mandat zugeteilt würde, entscheide sich dann maßgeblich in anderen Wahlkreisen. Eine Ersatzstimme sei überdies „verfassungsrechtlich per se schon kritisch zu sehen“.
Die Union muss demnach zittern, dass nach dem Absturz 2021 auch der stabile Anker in den ländlichen Gebieten – namentlich der CSU in Bayern zu wackeln droht. Großzügig hat die Ampel der Union angeboten, bei ihrer Amputation mitzuhelfen, indem sie bei der Wahlkreisreform mit am Tisch sitzt. Denn zur Änderung des Wahlgesetzes bedarf es nur der Zustimmung der Ampel-Parteien. Die Union darf sich also die Art ihrer Demütigung noch aussehen. Das ist wenigstens eine Wahl, die dem Bundesbürger erspart bleibt.
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Es geht ganz einfach, wenn man will, ohne Ausgleich- und Überhangmandate: Der Bundesrat wir abgeschafft. die direktgewählten Abgeordneten bilden das Oberhaus alias Bundesrat. Die verhältniswahl-Listenabgeordneten bilden das Unterhaus= Bundestag. Damit sind alle Probleme des adipösen Bundestags gelöst. Es bedarf keine Ersatz- oder Dritt- oder was-auch-immer-Stimmen, keiner komplizierten Auszählung oder Bürokratie.Und es ist billiger. Aber: Es ist zu einfach, zu billig und bietet keine neuen Posten für verdiente Parteigenossen. Es beschränkt in der Theorie den Einfluß der Parteispitzen durch die Unabhängigkeit der Direktkandidaten. Doch das berücksichtigt nicht die Mentalität des Wählers. Manche Partei kann in einigen oder vielen Wahlkreisen einen Besenstiel… Mehr
Was ist mit parteilosen Kandidaten? Die gibt es ja auch. Wenn von denen einer die meisten Stimmen hätte, soll der dann auch aussortiert werden?
Wahlrecht ist eine ewige politische Baustelle, die schon x-Mal vom BVerfG kassiert wurde. Das parteitaktische Gestümpere geht schon seit Jahrzehnten zwischen Politik/BT und BVerfG hin und her. Dass aus Sicht des Politikbetriebes dabei die Parteiinteressen im Vordergrund stehen und natürlich nicht die der Wähler, ist ein alter Hut. Gleiches gilt für die andere Selbstbedienungsebene „Parteienfinanzierung“ incl ihrer „Stiftungen“ Ebenso natürlich haben die Parteien (außer den Voldemorts) ein Kartell gegründet, daß von außen nicht mehr zu kippen ist. Parteien sind die Exklusiv-Clubs, die einzig und allein politische Macht in Deutschland organisieren, bis weit in Justiz, Verwaltung und Staatsfernsehen hinein. Der strukturelle… Mehr
Macht und damit Freiheit, die einmal abgeben wurde, bekommt niemand freiwillig zurück. Das gilt insbesondere für die Macht und die Freiheit des Einzelnen.
Das BVerfGE mag das Wahlrecht in Teilen für verfassungswidrig halten. Aber solange die Wahl, die darauf beruht, nicht wiederholt werden muss, ist das alles eine Farce.
Genauso ist es eine Farce, wenn AM in die Wahl von Herrn Kemmerich nicht hätte eingreifen dürfen, das Ergebis aber bestehen bleibt.
Das hat Frau Hamm-Brücher, die grande dame der FDP, treffend so ausgedrückt: „Alle Macht geht vom Volke aus – und kehrt nie mehr dorthin zurück“.
Das einzige, was beim dauerhaften Regieren stört, ist der Wähler.
Da man Wahlen nicht ganz abschaffen kann, bietet sich eine „Wahlrechteform“ an, die aber von den augenblicklich Herrschenden so geschickt zu ihren Gunsten gestaltet wird, daß jedenfalls der normale Bürger es nicht merkt.
Ich wäre sowieso für ein reines Personen-Mehrheitswahlrecht. Die Ampel zeigt doch überdeutlich, wohin die ewige Suche nach einer Koalition führen kann.
Z. Z. gibt es ausser der AfD (ob man sie mag oder nicht, ob sie wählbar ist oder nicht) keine echte Oppositionspartei. Warum dann nicht gleich wie in der ehemaligen DDR eine Einheitspartei unter Führung der so tollen GRÜNEN und jede Partei erhält einen gewissen Proporz. Und dann könnte man die lästigen Wahlen eigentlich auch gleich ganz abschaffen, so wie es Deutschland sowieso macht.
Ist doch egal. Es ist eh alles vorbei und die rotgrünbraune kamarilla sitzt fest im Sattel. Demokratie ist tot. Erschossen mit der Bazooka.
Ich glaube . die Anzahl der Wahlkreise auf 250 zu beschränken ist richtig .
2 Kandidaten mit den meisten Stimmen pro Wahlkreis ziehen in den Bundestag ein.
Jede Partei kann eine Liste mit Kandidaten pro Wahlkreis erstellen und wer in der Liste die meisten Stimmen hat , steht an erster Stelle. Steht er mit seinen Stimmen in Wahlkreis an erster oder zweiter Stelle mit seinen Stimmen , so ist er gewählt.
Für eine Kandidatur sind ein Mindestalter von 30 Jahren und eine abgeschlossene Ausbildung oder Studium die richtige Voraussetzung .
Außerdem soll die Repräsentative Demokratie zur Direkten Demokratie umgestaltet werden.
Und alle anderen Stimmen sind „wertlos“? Tolle Demokratie.
Also ist England abgeruscht zur „tollen Demokratie“? Die haben das Mehrheitswahlrecht! Und nur der Sieger zieht ins Unterhaus
Eher genau anders herum Die Wahlkreise sollten verkleinert also auf 498 Direktmandate vermehrt werden. Die Listenstimme bringt keinerlei demokratischen Mehrwert für die Wähler, dient nur Versorgungsinteressen kleinerer Parteien. Die absolut meisten Kandidaten sind eh in einer Partei und stehen auch für deren Ziele. Für kleinere Parteien wären mehr Direktkandidaten in kleineren Kreisen nicht einmal automatisch nachteilhaft, weil eben weniger Menschen persönlich angesprochen und überzeugt werden müssen. Die Korrektur innerhalb des Bundestages, daß Minigruppen/Kleinparteien nicht völlig machtlos blieben wie bisher, könnte über Änderung der Geschäftsordnung des BT erreicht werden, Veränderungen im Wahlverfahren zu den Ausschüssen usw Es müßte nur der politische… Mehr
Mir scheint, die Ampel möchte das Stimmen-Splitting abschaffen. Fakt ist doch, dass nur dieses Phänomen überhaupt dazu führt, dass Überhang und Ausgleich entsteht.
Jeder „strategische“ Wähler weiß aber nun, dass Stimmen-Splitting nicht mehr funktioniert und. Damit werden vor allem Grüne und FDP massiv Wähler verlieren. Die haben ja stets vom Splitting profitiert. Denn: Warum sollte ein SPD-Direktkandidat-Wähler noch die Zweitstimme den Grünen geben? Gerade jetzt, wo Habeck deutlich mehr Prozente als Baerbock holen könnte. Damit wäre die Erststimme verschenkt.
Jaa, aber. Wenn ich mir das derzeitige Parteiengefüge so anschaue, ich entdecke da keine gravierenden Unterschiede mehr. Eine rotgetünchte Einheitssoße. Ehrlich, da können sie reformieren, wenn es Geld spart noch besser. Zu sagen hat das hohe Häuslein sowie so nicht mehr viel.