Zusammenhalt statt Polarisierung: Warum die Gesellschaft wieder zusammenfinden muss

Die Fragen unserer Zeit lassen sich nicht entlang parteipolitischer Grenzen oder weltanschaulicher Konzepte aus vergangenen Jahrhunderten beantworten. Das bietet die Chance, Andersdenkende nicht mehr zu dämonisieren und gerade im Dissens neu zueinander zu finden.

IMAGO / Jochen Eckel

Wer die Grünen kritisiert, betreibt pro-russische Propaganda – das ist der neueste Kniff in Sachen Polarisierung, auf den jene zurückgreifen, die sich Argumente sparen, und ihre Ansichten gegen Kritik immunisieren wollen. Denn pro-russisch, das ist das neue „Rechts“, seit der Vorwurf des Rechts-Seins niemanden mehr schreckt.

Trotz des krachenden Scheiterns dieser Strategie hält man offenbar daran fest, jegliche Widerrede moralisch zu delegitimieren. Dabei wäre angesichts der politischen Situation jetzt der Zeitpunkt, um den überfälligen Schritt zu gehen, unangemessene Polarisierung zurückzufahren. Sich wieder der Sache und der Kraft des besseren Arguments widmen, der Komplexität der Fragen, die uns bewegen, gerecht werden wollen: Wäre das nicht Ausgangspunkt für die Rückkehr einer echten Debatten- und Diskurskultur? Wo der Gegner nicht Feind ist, sondern Mit-Streiter im Ringen um das stärkste Argument und die beste Vorgehensweise?

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Wäre es nicht wunderbar, wenn man den Menschen nicht zuerst als Sklave seiner Weltanschauung begreift, sondern als komplexes Individuum, das nicht ein fest zusammengeschnürtes Paket aus ideologisch bedingten Meinungen haben muss, sondern unterschiedliche Standpunkte vertreten kann? Ja, das seinen Horizont sogar erweitern, seine Perspektive verändern kann?

Nicht nur, dass das moralische Ross immer lächerlicher wirkt: Wir stehen am Beginn gewaltiger Umbrüche, die sich durch ideologische Positionierung nicht bewältigen lassen. Es bräuchte eine Gesellschaft, die Dissens nicht als Ausschlusskriterium für Zusammenhalt betrachtet: Solidarität mit dem politischen Gegner, wo ihm Unrecht erfährt, Widerspruch auch gegen (vermeintliche) Irrtümer im eigenen Lager. Nur eine Gesellschaft, die sich nicht auseinandertreiben lässt, kann den außen- und gesellschaftspolitischen, den demographischen und kulturellen Herausforderungen begegnen, die uns ins Haus stehen.

Um diese Herausforderungen meistern zu können, wäre es an der Zeit, darauf zu verzichten, einander jeweils in die rechte Ecke zu stellen oder als „links-grüne Gutmenschen“ zu verspotten. Denn seit der Covid-Krise erleben wir fast durchgehend, dass die Themen des öffentlichen Diskurses durch althergebrachte Muster nicht mehr abbildbar sind. Ob man sich nämlich vor der Krankheit oder vor der Impfung mehr gefürchtet hat, ob man die eigenen Enkel als Gefahr gesehen hat, oder die erzwungene Trennung von ihnen: Hier war es die strikt persönliche Dimension des eigenen Erlebens, die eine Einordnung an parteipolitischer Verortung entlang völlig unmöglich machte. Zum ersten Mal seit Jahren, so schien es, kam der Mainstream in die Bredouille, denn es war selbst für Profis der verzerrten medialen Darstellung ein Husarenstück, auch medizinskeptische Esoteriker, kategorische Impfgegner, die immer schon gegen jede Form von Impfung waren, und altgrüne Nonkonformisten irgendwie ins rechte Lager zu pressen.

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Genauso absurd geht es seitdem weiter. Mit Schubladisierungen, die einfach nicht tragen, und die eigentlich niemand mehr ernst nehmen kann: Ganz links und ganz rechts fallen zusammen in einer nicht selten verschwörungstheoretisch angehauchten Anti-NATO-Allergie, wenn sie die Geschichts- und Gegenwartsfälschungen des ehemaligen KGB-Agenten Putin für bare Münze nehmen, weil sie in ebenso unbestechlicher wie infantiler Logik annehmen, es müsse immer das genaue Gegenteil von dem wahr sein, was der Mainstream verkündet – dass Lügen aus verschiedenen Richtungen kommen können, ist dem Hufeisen nicht klar, dort, wo die beiden Enden aufeinandertreffen. Die Gegenseite indes verortet sich auf der Seite des Guten schlechthin, so als ob man durch den Kampf gegen einen Autokraten automatisch keine fragwürdigen Eigeninteressen mehr haben könne, oder als müsste dann das eigene Narrativ plötzlich die Wahrheit schlechthin darstellen.

Ähnliches gilt für den Nahostkonflikt und den aufflammenden Antisemitismus: Sowohl links als auch rechts finden sich glühende Streiter für Israels Recht auf Selbstverteidigung und Antizionisten gleichermaßen.

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Auch gesellschaftspolitisch rumort es: So wackelt das Fundament der links-woken Opferpyramide, weil sich herausstellt, dass homosexuelle Männer und muslimische Migranten, Lesben und Transmänner alles andere als eine homogene Gruppe bilden. Und so herrscht in gewissen Anliegen plötzlich herzlichste Eintracht zwischen Feministinnen und katholischen Laien, weil beide von Pubertätsblockern für Kinder und Beschneidung der Elternrechte nichts halten.

Kurz: Sichergeglaubte Allianzen und Erbfeindschaften zerbrechen; die Gesellschaft ist mittlerweile so fragmentiert, dass sie durch ideologische Vorgaben nicht mehr zusammengehalten werden kann. Im Gegenteil: Diese Vorgaben fesseln und lähmen dort, wo die Gesellschaft sich tatkräftig und sachorientiert Problemen zuwenden müsste.

Wenn am 3. Oktober von Einigkeit gesungen wird, dann muss man konstatieren, dass Deutschland selten so zertrennt war wie heute. Und das nicht in erster Linie wegen realer Differenzen, so grundlegend diese auch sein mögen, sondern wegen der Lust an der Dämonisierung Andersdenkender, wegen einer aufgezwungenen Meinungshegemonie, die Dialog unmöglich macht, damit aber ironischerweise genau das Gegenteil des Beabsichtigten zur Folge hat: Dissens wird nicht verhindert, sondern schlicht nicht mehr ausgefochten. Dafür setzt er sich in Form von tiefen Ressentiments, Misstrauen und gegenseitiger Verachtung fest. Es wäre an der Zeit, diese fatale Strategie der Polarisierung hinter sich zu lassen.

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