Alice Schwarzer, Sahra Wagenknecht, Reinhard Mey, Marius Müller-Westernhagen, Boris Palmer, Henryk M. Broder, JK Rowling, Joshua Kimmich, Novak Djokovic ... – Sie wissen, worum es in diesem Text geht.
Reinhard Mey schreibt 1986 das Lied „Nein, meine Söhne geb‘ ich nicht“. Er kündigt darin an, notfalls mit seiner Familie zu fliehen, bevor sie in das System aus Wehr- und Ersatzpflicht einbezogen wird. Also kündigt er eine Straftat an – sogar eine schwere. Doch aufgeregt hat sich niemand. 1986. Vor kurzem hat Reinhard Mey einen Aufruf unterschrieben, der sich für Friedensverhandlungen in der Ukraine einsetzt. Prominenter sind die Unterschriften darunter von Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht. Über allen Unterzeichnern zusammen bricht nun ein Sturm der Empörung aus – auf Neudeutsch „Shitstorm“ genannt.
Wer zur Mäßigung aufruft – und sei es nur, um die Verbrechen der Nazis nicht zu relativieren –, wird belehrt: Angesichts der Weltlage sei Pazifismus gleichbedeutend mit der Unterstützung des russischen Angriffskrieges und das wiederum sei ein so schwerwiegendes Vergehen, dass jede soziale Ausgrenzung und Diffamierung gerechtfertigt sei.
Nun hat es auch 1986 eine weltpolitische Lage gegeben. Wie sah die aus? Chinas Regierung unterdrückte Menschen, so wie es das heute noch immer tut. Aber damals interessierte das weltweit niemanden, weil China ein wirtschaftliches Sorgenkind statt einer Weltmacht war. Die USA beteiligten sich unter anderem an einem Bürgerkrieg in Nicaragua, wobei sie nicht nur das Völkerrecht, sondern auch die eigene Verfassung brachen. Russland stand damals mit seiner Armee in Afghanistan und unterdrückte dort die Bevölkerung, zusammen mit der Ukraine, Armenien, Aserbaidschan und all den anderen Sowjetrepubliken – zusammen nannte sich das daher auch nicht Russland, sondern Sowjetunion.
Hat sich angesichts dieser Weltlage jemand über Reinhard Mey aufgeregt? Statt Deutschland vor der russisch-ukrainisch-armenisch-und-so-weiterischen Armee zu schützen, wollte er lieber mit seinen Söhnen nachts heimlich fliehen, als sein Land zu verteidigen. Damit rechtfertigt er ja deren Vorgehen in Afghanistan. Hat sich darüber jemand aufgeregt? Nein, ein paar hunderttausend Menschen fanden den Song gut. Der Rest hat sich gedacht: Na ja, Musiker halt. Es gab dafür einen Begriff, der heute in Vergessenheit geraten ist. Verbal wie faktisch: Gelassenheit. Von Toleranz gar nicht zu reden.
Die Realität brach in die deutsche Traumwelt ein: Während der Pandemie bewiesen sich die Deutschen selbst, dass sie Grenzen doch schützen können. Sogar die zwischen zwei Ortschaften. Dieser Tage sagen ihnen ihre Bürgermeister und Landräte, dass wir vielleicht Platz haben, aber nicht genug Infrastruktur, um beliebig viele Menschen aufnehmen zu können. Nur gibt es einen weiteren Zusammenhang: Wer gesellschaftlich ausgegrenzt wird und wurde, dem hilft es nichts, wenn er später recht behalten hat. Ausgegrenzt worden zu sein, rechtfertigt das Ausgrenzen nachträglich. Einmal Paria, immer Paria.
Wobei das Pariatum in Deutschland mittlerweile viele Namen trägt: Nazi und Rechtsextreme sind die ältesten, Lumpenpazifist oder Nationalpazifist die jüngsten. Dazwischen gab es den Sexist, den Klimaleugner, den Covidioten und den Coronaleugner. Der Leugner ist ohnehin das beliebteste Suffix bei der Vergabe von Parianamen. Er erinnert an den Auschwitz-Leugner. Was den Ausgrenzern zwei Vorteile bietet: Zum einen rückt es den Gegner in die Nazi-Ecke. Zum anderen erinnert es daran, dass es schon mal möglich war, Äußerungen unter Strafe zu stellen.
Zwei Richtigstellungen, um jetzt nicht als Ausgrenzungsleugner angegriffen zu werden: Der systematische Menschenmord unter den Nationalsozialisten war ein schweres Verbrechen. Wenn Superlative angesichts der Schwere dieser Verbrechen eigentlich nicht obszön wären, ließe sich ohne Übertreibung auch vom schwersten Verbrechen der Menschheitsgeschichte sprechen. Darum war es richtig, dessen Leugnung unter Strafe zu stellen. Darum bleibt es richtig, nicht jede missliebige Person mit dem Vorwurf zu titulieren, auf der gleichen Stufe wie Mörder zu stehen, die Kinder, Frauen und Männer morgens aus ihrer Wohnung zerrten, in Viehwaggons über Land verschleppten und in Tötungslagern systematisch umbrachten. Wer einen Aufruf unterschreibt, der zu Frieden in der Ukraine aufruft, steht nicht auf einer Stufe mit diesen Verbrechern.
Nicht zum ersten Mal. Um derart ausgrenzt zu werden, muss man zum Beispiel gar nicht mal sagen, dass es keines Klimaschutzes bedarf. Es reicht schon einzuwenden, dass für diesen Klimaschutz das E-Auto kein sinnvoller Beitrag ist, wenn das Auto dann mit Strom betrieben wird, den wir aus Braunkohle gewinnen. Es reicht, darauf hinzuweisen, dass eine Corona-Impfung nicht vor einer Corona-Infektion schützt. Zumindest, wenn die Aussage zur falschen Zeit erfolgt. Nämlich, bevor sich herumgesprochen hat, dass eine Corona-Impfung tatsächlich nicht vor einer Corona-Infektion schützt. Denn es geht den Ausgrenzern nicht darum, ihre Meinung zu überprüfen oder zu bestätigen – sie wollen sie durchsetzen. Deswegen grenzen sie den aus, der sich traut, ihnen zu widersprechen – damit das irgendwann gar nicht mehr passiert.
Es hilft einem auch nicht, bei allem bisher mitgemacht zu haben, wie der Sänger Marius Müller-Westernhagen, der 2015 so treu auf Linie war wie beim Kampf gegen den Klimawandel oder die Pandemie. Der den Menschen das Singen seines Liedes „Freiheit“ untersagen wollte, die in Demonstrationen darauf hinwiesen, dass ihnen Grundrechte genommen werden, obwohl das nicht einmal faktisch zum Kampf gegen die Pandemie beiträgt. Und der bei diesen Menschen auch nie um Entschuldigung gebeten hat. Obwohl das Land den von ihm Beschimpften verdankt, dass unsinnige Maßnahmen abgeschafft und vielleicht noch unsinnigere Maßnahmen verhindert worden sind.
Manche werden jetzt einwenden: Ist das nicht auch ein Nazi-Vergleich? Werden hier nicht Menschen derart vorgeführt, dass ein Zusammenleben mit ihnen in einer Gesellschaft nicht mehr möglich ist und sie eigentlich ausgegrenzt werden müssten? Dem ist entgegenzuhalten: Ja, das stimmt. Leider. Der Autor dieser Zeilen ist Deutscher, er kann offensichtlich selbst nicht mehr anders.
Reinhard Mey ist kein Nazi. Er ist nicht einmal Nationalist und Lump ist er schon mal gerade gar nicht. Das gilt auch für Alice Schwarzer, Sahra Wagenknecht oder Marius Müller-Westernhagen. Sie haben eine andere Meinung. Die kann man falsch finden, das darf man ihnen auch sagen. Aber es muss endlich aufhören, dass Menschen aus der Gesellschaft ausgeschlossen werden, weil sie etwas Unliebsames gesagt haben. So kann ein Land nicht funktionieren.
Und wer es noch nicht gemerkt hat. Das ist nicht irgendeine Zukunftsphantasie. Oder eine abstrakte Warnung. Dieses Land funktioniert schon jetzt nicht mehr. Züge kommen nicht pünktlich oder gar nicht mehr. Schülern fehlt der Lehrer. Brücken verfallen und wir wissen nicht, wie wir sie alle rechtzeitig repariert bekommen. Unsere Armee ist ein Witz. Unser Internet ist schlechter ausgebaut als in afrikanischen Schwellenländern. Und selbst beim Klimaschutz – für den wir seit Jahren einen heiligen Krieg inklusive gesellschaftlicher Ausgrenzung führen – gelingt es uns nicht, Windräder zu bauen oder Stromtrassen anzupassen. Es hängt miteinander zusammen. Ein Land, in dem jeder aufpassen muss, was er wann wem sagt. Und ein Land, in dem immer weniger funktioniert.
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An die Stelle von Gelassenheit – einer Haltung reifer Menschen – ist Gleichgültigkeit getreten. Was aber die Bereitschaft zu schnell entflammter und ebenso schnell wieder abklingender Gereiztheit und Empörung nicht ausschließt.
Vorherrschend ist wohl das Gefühl umfassender Unübersichtlichkeit und daraus folgend der Ohnmacht. Die große Mehrzahl der Menschen hat einfach nicht die Zeit, sich neben dem täglichen Überlebenskampf auch noch gründlich zu informieren.
Dies bedeutet natürlich, Manipulation und Gängelung nahezu hilflos ausgeliefert zu sein.
Es ist eine Art Dämmerzusand, unterbrochen durch rasch wechselnde Erregungsphasen.
Wenn ich mir die Kommentare so durchlese, komme ich zu der Meinung, die fehlende Gelassenheit ist zum flächendeckenden Phänomen geworden. Man erkennt die janusköpfige Natur technischer Entwicklungen und ihre zum Teil verheerende Wirkung bei uns Steinzeitmenschen mit Atomwaffen.
Stellt sich die Frage, warum sind die Mainstreamer so unduldsam? Mir fällt da nur ein, dass dies alles unkritische, 100%ige transatlantische Parteigänger sind. Das Schablonendenken geht so: USA sind die guten und alles was sie tun darf nicht kritisiert werden. Wer es wagt, die USA zu kritisieren oder bei Feinden der USA auch triftige Argumente findet, ist automatisch ein Systemfeind. Die Russen sind in Deutschland noch immer gut für Vorurteile, für einen veritablen Erzfeind. Wer den Erzfeind verteidigt, der ist automatisch Systemfeind, egal ob Deutschland gerade eine faschistische Diktatur ist oder eine US-hörige Scheindemokratie. Mindestens 2/3 der Deutschen sind nicht… Mehr
„Darum war es richtig, dessen Leugnung unter Strafe zu stellen.“ Die Leugnung des Holocaust ist eine Meinung. Eine dumme, gefährliche, dreiste, idiotische Meinung und was man noch an Bezeichnungen finden mag, um diesen Schwachsinn zu beschreiben. Wer gut belegte und unbestreitbare historische Tatsachen leugnet, ist ein beschränkter, ideologisch verblendeter Wirrkopf. Nur Regierungen, die der eigenen Bevölkerung nicht über den Weg trauen, stellen Meinungsäußerungen unter Strafe. Auch die Tatsache, dass dieses gigantische Verbrechen gegen die Menschlichkeit von Deutschen begangen wurde, rechtsfertig nicht einen Maulkorb für alle nachfolgenden Generationen. Auch dumme, gefährliche und absurde Meinungen fallen unter die Meinungsfreiheit. Eine Demokratie, die wirklich… Mehr
Bravo Herr Thurnes!
Aber i c h habe mit diesem Sch… nicht angefangen. Angefangen damit und bis zum Exzess durchgezogen hat das die unsägliche merkel mit ihren Pseudo-Schwarzen, die grünen und die roten. Verachtenswert.
Vielleicht richten Sie Ihren Appell direkt an diese Stellen.
Zustimmung in mehrerlei Hinsicht.
Den NSDAP-Gedanken sollte man mit Blick auf die grünrotberlinerischen Allmachts-Fantasien heute sorgfältigst diskutieren!
Deutschland macht wieder gen Osten mobil. Mit gleichsam allem, was geht und „wummst“. Meint man in Berlin. Der galoppierende Wahnsinn ist nicht in Worte zu fassen.
Krieg ist, wenn „Oben“ denkt, und „Unten“ verreckt.
Mir geht angesichts der unsäglich perversen Entwicklungen in „Ampel“-Berlin nämlich der Ar*piiep* auf Grundeis.
Vorschlag — Europa neu denken, Ismay neu denken:
Keep the Americans out, the Russians and the Ukrainians in — and, for God’s sake, the „Solvent Green“ down.
Wie wär’s?
Gelassenheit bedeutet auch, eine Petition zu lesen, darüber mindestens 1x zu schlafen und dann eine Entscheidung zu treffen, ob diese meiner pragmatischen Sicht nahe kommt? In keinem Fall bleibe ich gelassen, wenn für Debatten in 2023 unterschwellig und vordergründig stets rückständig 1933 (Kachelmann) heran gezogen werden, garniert mit der moralbesoffenen Aussage des deutschen Außenminisnistrium: “Wir kämpfen einen Krieg gegen Russland und nicht gegeneinander“. Nein, ganz sicher nicht! Internationale Waffenmessen dürfen in Deutschland nicht statt finden! Auch ein mir bekannter etwas großspuriger Unternehmer hat sich wohl angepasst: https://www.go-fair.com/projekte/. Nur ein kleiner Unternehmer, offiziell „Messebauer“? Sehr interessant, heute nur noch EUROSATORY Paris? Scheinbar… Mehr
Die „russische Aggression“ wurde akut mit Selenskys“Dekret zur Rückeroberung der Krim“ Ende 2021 und darauffolgender Mobilisierung inklusive Aufmarsch der ukrainischen Armee im Süden vor der Krim – von deutschen Medien weitestgehend ignoriert. Nicht Putin hat also entschieden, daß es Krieg geben soll, es war Selensky. Ein auf die Krim begrenzter Krieg in der Situation hätte zu dem Zeitpunkt für Russland bedeutet, auf begrenztem Territorium gegen einen numerisch ca. 4x überlegenen Gegner Krieg zu führen mit einer Brücke auf Stelzen als einzigem Nachschubweg. Würde die Brücke zerstört, wäre der Krieg verloren. Der angebliche Aggressor Russland war auf Krieg nicht vorbereitet –… Mehr
Künstler sind meist dumm- gefährliche Politiker, angefangen mit einem gewissen Adolf. H! Wer diese Künstler nach Politik fragt, erntet nur Moral oder Resseentiment.
Das Volk selbst bleibt dagegen – zumindest in Westdeutschland ud die männlichen – meistens recht gelassen! Ich gebe deshalb dem Autoren NICHT recht!
Meiner Meinung nach, haben wir nicht die Gelassenheit sondern die Demokratie verloren. Die Stärke einer Demokratie ist die Meinungsvielfalt und Meinungsfreiheit. Ich bin überzeugt davon, dass die überwältigende Mehrheit der Menschen gegen Krieg ist und sich Frieden wünscht. Die Realität ist und war leider immer eine andere. Ich würde mir auch wünschen, dass alle Verantwortlichen für diesen und alle anderen Kriege zur Rechenschaft gezogen würden und auf der Anklagebank landen. Es wäre allerdings sehr naiv, daran zu glauben. Eine Meinung ist nie falsch oder richtig sondern eine persönliche Einschätzung eines Sachverhaltes. Die Leugnung einer eindeutig bewiesenen Tatsache hingegen, ist ganz… Mehr