Der Sophist Protagoras von Abdera (481–411 v. Chr.) irrte. Wahrheit muss es geben. Sie stellt auch keine Bedrohung der Freiheit dar, sondern ermöglicht sie erst. Gefährlich ist vielmehr der Relativismus, der am Ende in einen „Krieg aller gegen alle“ münden könnte.
Der Zweifel daran, dass es Wahrheit gibt, ist kein zeitgenössisches Phänomen. Er wirft vielmehr einen langen Schatten. Einen, der bis in das 5. Jahrhundert vor Christus reicht. Schon Protagoras von Abdera (481–411 v. Chr.) behauptete, es gebe keine allgemein gültigen, objektiven Wahrheiten: „Wie alles einzelne mir erscheint, so ist es für mich, wie dir, so ist es für dich.“ Man könnte den bedeutendsten aller Sophisten, nach dem Platon (427–347 v. Chr.) einen seiner Dialoge benannte und dessen Lehre er in einem weiteren ausführlich diskutierte, daher auch den „Vater des Relativismus“ nennen.
„Der Mensch ist das Maß aller Dinge.“ Protagoras
Protagoras‘ bekanntester Satz ist der „Homo-Mensura-Satz“. Dessen erster Teil – „Der Mensch ist das Maß aller Dinge“ – wurde zu einem geflügelten Wort, das selbst Personen geläufig ist, die noch nie von Protagoras gehört haben. Vollständig lautet der Satz: „Der Mensch ist das Maß aller Dinge, der seienden, dass sie sind, und der nicht seienden, dass die nicht sind.“ Gemeint ist, wie Platon im Dialog „Theaitetos“ darlegt, nicht der Mensch als Gattungswesen, sondern als Individuum: „Nicht wahr, er meint dies so, dass, wie ein jedes Ding mir erscheint, ein solches ist es auch mir, und wie es Dir erscheint, ein solches ist es wiederum dir“ (Platon, Theaitetos 152a).
Narrative im Wettbewerb
Das klingt zunächst sehr (post)modern. Nach Konzepten, in denen statt von Wahrheit nur noch von „Narrativen“ die Rede ist, die sich miteinander im Wettbewerb befänden, weshalb es darum gehen müsse, dem von einem selbst favorisierten zum Sieg zu verhelfen. Als Strategien dazu werden heute beispielsweise die Darbietung „alternativer Fakten“ oder auch das „Framing“, verstanden als die Herauslösung eines Begriffs aus seinem ursprünglichen Bedeutungszusammenhang und seine „Einbettung“ in einen anderen, als vorteilhafter betrachtet, öffentlich und gänzlich ungeniert offeriert. Das braucht nicht wundern. Denn wenn es keine objektive Wahrheit gibt, ist selbst eine offenkundige Lüge keine, sondern schlimmstenfalls der misslungene Versuch, dem favorisierten Narrativ eine Vormachtstellung oder günstigere Ausgangsposition im Rennen mit anderen zu sichern.
Menschengemachte Konventionen
Mehr noch: Wenn es keine Wahrheit gibt, dann basiert alles, was Gesellschaften als gemeinsam erachten, letztlich auf bloßer Konvention. Konventionen aber sind – wie alle Kultur – menschengemacht. Und wenn Werte keine erkannten Wahrheiten sind, oder – anders formuliert – nicht deshalb für wert gehalten werden, weil sie aus als wahr Erkanntem resultieren, dann sind sie allenfalls zweckmäßig.
Dann jedoch gibt es keinen Grund, warum etwas, das von einer bestimmten Anzahl von Menschen zu einem bestimmten Zeitpunkt der Geschichte für zweckmäßig erachtet wurde, nicht von einer anderen zu einem anderen Zeitpunkt durch etwas – einschließlich des exakten Gegenteils – ersetzt werden sollte, das von ihr für zweckmäßig erachtet wird.
Die Wahrheit im Auge des Betrachters
Wenn es keine Wahrheit der Dinge gibt, sondern diese ausschließlich im Auge des Betrachters liegt, dann gibt es selbstverständlich auch keine Natur. Dann ist alles Kultur. Wenn aber alles Kultur und nichts mehr Natur ist, dann sind selbst biologische Unterschiede wie das Geschlecht bedeutungslos. Zwar lassen sich primäre Geschlechtsorgane nicht wegdiskutieren, wohl aber, dass sie bedeutsam seien. Denn wenn der Mensch tatsächlich „das Maß aller Dinge“ wäre, „der seienden, dass sie sind, und der nicht seienden, dass die nicht sind“, dann ist nicht nur der Gebrauch von Pronomina statthaft, die der Natur spotten, sondern auch die kosmetische Korrektur primärer Geschlechtsorgane.
Um mehr geht es dabei allerdings auch nicht. Denn eine Geschlechtsumwandlung bedeutet nichts anderes, als ein funktionierendes Organ zu zerstören und durch ein disfunktionales zu ersetzen. Offensichtlich gibt es Menschen, die darin eine Entlastung oder gar Erfüllung finden. Damit sollte man nicht spaßen. Dass manche Menschen sich als im falschen Körper geboren empfinden, ist jedenfalls bisweilen ein reales und keineswegs immer nur ein bloß eingebildetes Problem. Und doch wäre es ein Zugewinn an Realität, wenn man Suizide nach erfolgreicher oder auch kosmetisch misslungener Geschlechtsumwandlung statistisch erfassen und ausweisen würde. Nicht aus Gründen der „Moral“, sondern im Sinne des „informed consent“, der informierten Einwilligung, die sich in der Medizin als Standard etabliert hat.
Wahrheit muss es geben
Und doch gilt: Selbst wer die Existenz von Wahrheit leugnet, muss diese notwendig voraussetzen. Anders formuliert: Die heute so gedankenlos wie oft ins Feld geführte Behauptung, es gebe keine Wahrheit, falsifiziert sich selbst. Denn sofern mit ihr etwas Sinnvolles ausgesagt werden soll, muss zumindest für diese These Wahrheit beansprucht werden. Aus der Tatsache, dass es Wahrheit notwendig geben muss, folgt allerdings noch nicht, dass sie auch immer erkennbar wäre oder sich zweifelsfrei feststellen ließe. Mit dem diesbezüglichen Streit der Erkenntnistheoretiker lassen sich ganze Bücherregale füllen.
Damit nicht genug: Es ist sogar möglich, der Wahrheit selbst ins Angesicht zu blicken, und sie dennoch für irrelevant zu erachten. So Pontius Pilatus. Als der Statthalter Roms, der als Präfekt zehn Jahre lang Judäa beherrschte, Jesus („Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“ Joh 14,6) verhört und dieser ihm auf die Frage, ob er ein König sei, antwortet: „Du sagst es, ich bin ein König. Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, dass ich für die Wahrheit Zeugnis ablege. Jeder, der aus der Wahrheit ist, hört auf meine Stimme“ (Joh 18,37), da bemerkt Pilatus nur scheinbar lapidar: „Was ist Wahrheit?“ (Joh 18,38)
Wahrheiten als Illusionen
Pilatus ist nicht der Einzige, der meinte, auf Wahrheit verzichten zu können. Auch Friedrich Nietzsche (1844–1900) hielt nicht viel von ihr: „Was ist also Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen, kurz, eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, ubertragen, geschmuckt wurden, und die nach langem Gebrauch einem Volke fest, kanonisch und verbindlich dunken: Die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind, Munzen, die ihr Bild verloren haben und nun als Metall, nicht mehr als Munzen, in Betracht kommen“, schreibt er 1873 in seinem Essay „Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne“. Dagegen meinte eine Zeitgenossin Nietzsches, die rumänische Königin Elisabeth (1843–1916), die als Schriftstellerin unter dem Pseudonym Carmen Sylva publizierte: „Wahrheit muss es doch geben – Wir hätten sie nicht erfunden.“
Nach der berühmten Definition des heiligen Thomas von Aquin (1224–1274) ist Wahrheit „die Angeglichenheit des Verstehens an die Wirklichkeit“ („Veritas est adaequatio rei et intellectus“). Oder, um es mit Josef Pieper, dem großen Thomas-Interpreten, zu sagen, Wahrheit meint das „Kenntlichsein von Realität“. Wahrheit ist demnach eine Verstandesleistung, die sich einstellt, wenn eine Wirklichkeit vollkommen oder zumindest zureichend erkannt ist. Hier wird ein Zweifaches deutlich: Erstens, dass die Erkenntnis von Wahrheit, weil es kein kollektives Erkennen gibt, nicht Ergebnis demokratischer Verfahrensweisen sein kann. Und zweitens: Dass, weil Wahrheit nicht das Angeglichensein des Seienden an das Verstehen meint, sondern das Umgekehrte, nicht der Mensch von der Wahrheit Besitz ergreift, sondern vielmehr sie von ihm.
Gemeinsame Suche
Damit ist auch schon der Weg vorgezeichnet, um den es gehen müsste: Denn der Weg der Wahrheit ist nicht der eines pausenlosen Besserwissens und Belehrens, auf dem die Wissenden den Unwissenden Vorgaben auf Vorgaben zu häufen hätten, sondern ein Weg des gemeinschaftlichen Suchens, des Dialoges und demütigen Ringens um echte Erkenntnis. Wissen zu wollen, wie sich die Dinge verhalten, nach Wahrheit zu suchen, um von ihr gefunden werden zu können, bedeutet letztlich, bereit zu sein, ein Leben auf dem Prüfstand zu führen, eines auf dem wenig wirklich sicher und vieles ungewiss bleiben muss.
Aber es ist ein Weg, der befreit. Schon Jesus versprach den Juden, die an ihn glaubten, dass die Erkenntnis der Wahrheit sie frei mache (vgl. Joh 8, 31-32). Das bedeutet nicht, darüber hinwegzusehen, dass im Laufe der Geschichte im Namen der Wahrheit furchtbare Verbrechen verübt worden sind. Doch so wie allgemein der Missbrauch von etwas den rechten Gebrauch nicht infiziert, so ist es auch im Umgang mit der Wahrheit. Wer etwas für wahr erachtet oder als wahr erkannt hat, ist moralisch nicht verpflichtet, es deshalb für alle anderen verpflichtend zu machen oder gar mit Gewalt durchzusetzen.
Wahrheit ermöglicht Freiheit
Daher ist die Wahrheit auch keine Bedrohung der Freiheit, sie ermöglicht sie vielmehr erst. Gewaltsam ist vielmehr der angeblich moderne Mensch, der meint, „Wahrheit“ nicht suchen zu müssen, sondern kurzerhand einfach „setzen“ zu können. Der sich anmaßt, neue Menschenrechte zu erfinden und zu dekretieren. Der mit „alternativen Fakten“ und „Framing“ seine bloß subjektive Sicht zum alle anderen verpflichtenden Maß zu machen sucht. Noch hält sich die Gewalt, mit der Menschen dabei gegen andere vorgehen, in Grenzen. Aber das muss nicht so bleiben. Bisweilen drängt sich der Eindruck auf, die sich zivilisiert dünkende Welt säße längst auf einem Pulverfass. Ein Funke reicht, und es kommt zur Explosion, zum „bellum omnium contra gentes“, dem „Krieg aller gegen alle“.
Ganz gleich wie nah oder fern diese Gefahr tatsächlich ist. Der wachsende Individualismus und Relativismus unserer Tage ist nur scheinbar modern. In Wirklichkeit basiert er auf dem Irrtum eines antiken Sophisten. Das ist nicht frei von Ironie. Denn der Irrtum des Protagoras, ist der eines alten weisen Mannes, der mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit so ziemlich alles verkörpert haben dürfte, was heute von den ach so „woken“ Zeitgenossen – in Teilen durchaus zu recht – abgelehnt wird.
Dieser Artikel von Stefan Rehder erschien zuerst in Die Tagespost. Katholische Wochenzeitung für Politik, Gesellschaft und Kultur. Wir danken dem Verlag für die freundliche Genehmigung zur Übernahme.
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