„In [meinem Aufsatz ’Die Grenzen überschreiten: Auf dem Weg zu einer transformativen Hermeneutik der Quantengravitation’] [Transgressing the Boundaries: Toward a Transformative Hermeneutics of Quantum Gravity] erkläre ich ohne den geringsten Beweis oder ein Argument, dass ’physische ’Realität’ (beachten Sie das Angstzitat) im Grunde genommen ein soziales und sprachliches Konstrukt ist.’“
Die Begründung des Autors hatte zwar nichts mit Naturwissenschaften zu tun, gefiel der Redaktion der Fachzeitschrift Social Text aber so gut, dass sie den Aufsatz 1996 ohne Nachfrage druckte. „Tiefe konzeptionelle Veränderungen innerhalb der Wissenschaft des 20. Jahrhunderts“, hieß es da, „haben die kartesianisch-newtonsche Metaphysik untergraben. Dadurch wurde immer deutlicher, dass die physische Realität, nicht weniger als die gesellschaftliche, im Grunde ein soziales und sprachliches Konstrukt ist, dass wissenschaftliche Erkenntnis alles andere als objektiv ist, sondern die herrschenden Ideologien und Machtverhältnisse der Kultur, die sie hervorgebracht hat, widerspiegelt und verschlüsselt.“
Diese Sätze schrieb jemand, der als Mathematiker und Physiker über die Schwerkraft gut Bescheid wusste, als Linker über den Dekonstruktivismus und dessen Folgen. Der 1955 in Boston geborene Alan Sokal litt in den 1990er Jahren darunter, wie die Linke, die sich früher „mit der Wissenschaft und gegen den Obskurantismus identifizierte“, nach und nach die Seiten gewechselt hatte – hin zu einem neuen, linken Obskurantismus.
Derrida korrigierte seinen Dekonstruktivismus zu spät
Sehr spät, 1994, mahnte der 1930 geborene Derrida, nicht jeder Begriff dürfe zerlegt werden, es gebe durchaus eine Grenze. Das „klassische Ideal der Emanzipation“ sei keinesfalls überholt; wer es abschaffen wolle, gehe die „schlimmsten Allianzen“ ein. Seine Warnung kam reichlich spät. Der Dekonstruktivismus hatte sich zu diesem Zeitpunkt längst erst in den US-Universitäten und dann als Re-Import in den westeuropäischen Hochschulen ausgebreitet. Auf diesem Weg war er sehr viel gröber und orthodoxer geworden. Es handelte sich gewissermaßen um eine erfolgreiche Mutante.
„Das konstruktivistische Credo“ hätten „Kulturwissenschaftler offenbar mit der Muttermilch aufgesaugt“, schrieb der FAZ-Journalisten Richard Kämmerlings 1999 in seinem Text „Ein Besuch bei den Plapperkrähen“. In diesen akademischen Kreisen – konkret ging es um die Deutsche Gesellschaft für Volkskunde – glaube man, „dass das Natürliche stets ein ‚soziales Konstrukt’ ist, dass sogar die Naturgesetze selbst nicht ‚entdeckt’, sondern um eines sinistren Machtanspruchs willen von den ‚exakten Wissenschaften’ zusammengestoppelt wurden“.
Der dekonstruierte Dekonstruktivismus treibt Blüten
„Die Ziele meiner Kritik“, schrieb Sokal, „sind zu einer sich selbst erhaltenden akademischen Subkultur geworden, die begründete Kritik von außen ignoriert.“
Fünfundzwanzig Jahre nach seinem brillanten Streich lebt der Dekonstruktivismus allerdings nicht nur immer noch, er dominiert Universitäten in den USA und Westeuropa stärker denn je. Er bestimmt inzwischen nicht nur das, was Sokal „akademische Subkultur“ nannte, sondern zunehmend auch Politik und Medien.
Wie stark die Ideologie mittlerweile vorherrscht, alles sei Konstrukt und konstruierbar, demonstrierte die Wiederauflage des Sokal Hoax mehr als zwanzig Jahre später. Eine subversiv-intelligente Wissenschaftlergruppe um die britische Literaturwissenschaftlerin Helen Pluckrose heckten zwischen 2017 und 2018 mehrere Nonsense-Texte aus, und verschickte sie an sozialwissenschaftliche Fachzeitschriften. Diesmal ging es nicht um Schwerkraft, sondern um Rasse, Geschlecht und intersektionalen Feminismus.
Pluckrose und ihre Komplizen James A. Lindsay und Peter Boghossian fabrizierten beispielsweise einen mit den entsprechenden French-Theory-Klingelwörtern gespickten Aufsatz über rape culture bei Hunden, verbunden mit der Aufforderung, Männer besser zu erziehen. Der nächste Text empfahl Männern, sich von ihrer Transphobie durch die anale Einführung von Sexspielzeug zu kurieren. Ein anderer Beitrag bestand in einer feministischen Umschreibung von Hitlers „Mein Kampf“, bei der die Autoren das Wort ‚Juden’ durch ‚Männer’ ersetzten.
Als die Gruppe ihr Troll-Unternehmen 2018 öffentlich machte, hatten Fachjournale vier ihrer Texte publiziert (unter anderem den über Männer und Hunde), weitere drei bereits im Peer-Review-Verfahren akzeptiert, sieben Aufsätze befanden sich noch im Prüfverfahren. Abgelehnt wurden nur sechs. In die Wissenschaftsgeschichte ging die Aktion unter „Sokal squared“ ein, also Sokal hoch zwei.
Bemerkenswerterweise unternahm in Deutschland bisher niemand einen bekannt gewordenen Versuch wie Sokal und die Pluckrose-Gruppe. (Möglicherweise erlebt die staunende Fachwelt aber demnächst die Auflösung eines noch laufenden Streichs.)
Ein phantastischer Zaubertrick
Was macht die French Theory eigentlich so verführerisch? Sie erweist sich bei richtiger Anwendung als phantastischer Zaubertrick, sich die Wirklichkeit nach der Vorstellung nahezu beliebig zurechtzubasteln. Wer die Prämisse gelten lässt, dass der Mensch ohne genetische Vorprägung als unbeschriebenes Blatt auf die Welt kommt, kann die Geschlechter hinter der Vorstellung verschwinden lassen, dass Mann und Frau keine biologischen Tatsachen repräsentieren, sondern durch Erziehung oder auch nur durch ‚Zuschreibung’ erst zu dem gemacht werden, was sie zu sein glauben.
Wem es nicht angenehm ist, sich in der reichen Bundesrepublik mit Armut konfrontiert zu sehen, der kann jedes Problemviertel jeder beliebigen Großstadt dadurch entproblematisieren, dass er die Presse beschuldigt, sie würde durch ständige Berichte über Armut diesen Zustand in einer Art „Zuschreibung“ erst erzeugen.
Alles Unerwünschte unter den westlichen Diskursteppich
Überhaupt erlaubt der Dekonstruktivismus, reale Probleme auf die sprachliche Ebene zu verschieben. Eine ganze Reihe von intersektionalen Feministinnen und Ethnologinnen erklären beispielsweise die Wendung “female genital mutilation“, also Genitalverstümmelung bei Frauen für „stigmatisierend“. Der Begriff „Verstümmelung“ diskriminiere die Betroffenen, vor allem drücke sich darin eine „westliche Dominanz“ aus. Die grausame Praxis verschwindet auf diese Weise unter einem schicken und übrigens rein westlichen Diskursteppich.
Konstruktivismus ist eine Doktrin, die uns einreden will, die gesamte reale Welt wäre nichts als der Diskurs, der über sie geführt wird. Diese Doktrin ist notwendig für jeden Woken, also bereits Erwachten, der das Menschengeschlecht zum Besseren erziehen will. Denn nur, wenn der Mensch unbedarft in die Welt entlassen ist, kann man ihn als formbares Rohmaterial behandeln. Walter Benjamin schreibt in „Erfahrung und Armut“ 1933 von „Unerbittlichen“, „die erst einmal reinen Tisch“ machen, weil sie „einen Zeichentisch“ für den Entwurf ihrer neuen Welt schaffen müssten. Er nannte sie folgerichtig „Konstrukteure“.
Sokal wusste schon bei der Wahl seinen Nonsense-Titels ”Transgressing the Boundaries: Toward a Transformative Hermeneutics of Quantum Gravity” genau, was er tat. Mit jedem Wort drückte er bei denen, die er vorführen wollte, eine Taste.
„Transgressing“
Etwas überschreiten, über Bekanntes hinausgehen – das ist es, was das Herz aller Linken öffnet: Als Visionär an der Speerspitze der Avantgarde marschieren, Ewiggestriges bloßstellen und überwinden. Voranschreiten, immer auf dem Weg zur besseren Welt.
„Boundaries“
Grenzen erkennen, als alt, überholt und schädlich markieren, durchlässig machen, eliminieren.
„Toward“
„Hin zu“ heißt immer auch: „Weg von“. Weg von allem Schlechten, dass irgendwer konstruiert hat, um sich selbst zu nutzen und den Schwachen dieser Welt zu schaden. Die biologischen Geschlechter beispielsweise: Ein patriarchales Instrument der White Supremacy zur Unterdrückung aller möglichen Minderheiten.
„Transformative“
Verändern ist das Zauberwort überhaupt: Entstehen soll der neue Mensch, idealerweise die Weltgemeinschaft, in der sich alle Widersprüche verflüchtigen.
„The Great Reset“
Die Vorstellung einer am Zeichentisch neu entworfenen Weltgesellschaft findet sich schon seit geraumer Zeit bei Jürgen Habermas und seiner „Politischen Verfassung für die pluralistische Weltgesellschaft“.
Die Idee einer am leergeräumten Tisch neukonstruierten Gesellschaft präsentierte 2020 jemand, der die Weltelite zu sich einlädt, nämlich Weltwirtschaftsforum-Gründer Klaus Schwab in seinem Buch „The Great Reset“. Schon im ersten Satz in Schwabs Reset-Buch mischen sich Größenphantasie mit unfreiwilliger Komik: „Seit seinem Eintritt auf die Weltbühne hat COVID-19 das bestehende Skript, wie man Länder regiert, mit anderen zusammenlebt und an der globalen Wirtschaft teilnimmt, dramatisch zerrissen.“
Wer hätte eigentlich dieses ‚Skript’ geschrieben? Und wie haben wir uns ein Virus vorzustellen, das etwas hoch Abstraktes wie ein Lebensskript für die ganze Welt zerreißt?
„Mit Blick auf die Zukunft werden die Regierungen höchstwahrscheinlich entscheiden, dass es im besten Interesse der Gesellschaft ist, einige der Spielregeln neu zu schreiben und ihre Rolle dauerhaft zu stärken“, schreibt Schwab. Abgesehen vom Zirkelschluss einer Rollenstärkung der Gesellschaft in der Gesellschaft: Er folgt ganz selbstverständlich dem Kern der neuen Gesellschaftstheorie, nämlich der Annahme, jemand könnte von einem Punkt aus die „Spielregeln der Gesellschaft“ wie ein Computerprogramm neu verfassen.
Eben wurde von der Politik noch eine Inzidenz von 50 genannt, ab der Leben wieder stattfinden darf. Ist die 50 irgendwie auf wackliger Basis mehr zusammengereimt als errechnet, gilt die 35 als neue Ziellinie. Wenn die 35 erreicht ist wie in München seit letzter Woche, steht die Zehn im Raum, dann Null. Selbst bei Null würde es wahrscheinlich heißen: ‘Wir müssen wachsam sein – die x-te Welle baut sich auf.’
Wie groß ist die Infektionsgefahr wirklich? Wie hoch das Risiko zu erkranken, zu sterben? Wie verhalten sich diese Risiken zu anderen Lebensrisiken? Wie verteilt sich das Risiko in der Gesellschaft? Welche Alternativen gäbe es zu einem Lockdown? Darauf geben die 50, 35 oder die 10 kaum Antworten. Trotzdem dominieren sie die Politik. Vor allem konstruieren sie eine Genauigkeit und Planbarkeit, die in Wirklichkeit nicht existiert.
Sokals Fazit über den Glauben an beliebige Konstruierbarkeit lautete vor einem Vierteljahrhundert:
„Das Problem mit solchen Lehren ist, dass sie falsch sind. Es gibt eine reale Welt; ihre Eigenschaften sind nicht nur soziale Konstruktionen; Fakten und Beweise sind wichtig (facts and evidence do matter).“
Alan Sokal könnte seinen Text im Jahr 2021 aus gegebenem Anlass ‘Facts and Evidence matter’ nennen. Vor 25 Jahren machte der Physiker allen, die etwas anderes meinten, ein Angebot:
„Jeder, der glaubt, dass die Gesetze der Physik bloße soziale Konventionen sind, ist eingeladen, diese Konventionen aus den Fenstern meiner Wohnung zu übertreten. (Ich wohne im 21. Stock).“
Jürgen Schmid ist Historiker und freier Autor.