Am 4. August 1914, zu Beginn des Ersten Weltkriegs, erklärte Kaiser Wilhelm
II. vor dem Reichstag: „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur Deutsche„. Ein Jahrhundert später kennen CDU/CSU und SPD in ihrem Koalitionsvertrag keine Deutschen mehr, sondern nur Menschen.
I
Zum Thema „Was ist Deutschland?“ gibt es Bibliotheken mit entsprechend vielen Deutschland-Definitionen. Trotzdem haben Union + SPD es geschafft, eine neue Definition zu geben:
„Deutschland ‒ das sind mehr als 80 Millionen Menschen„
Deutschland ist also ein Land mit einer Untergrenze von 80 Millionen Einwohnern; die Obergrenze ist offen, theoretisch könnte sie der Weltbevölkerung von 7,5 Milliarden Menschen (Stand: 2017) entsprechen.
Mindestens 80 Millionen Menschen ‒ weiter nichts? Nein, diese Menschen werden im Koalitionspapier untergeteilt in insgesamt vierundzwanzig Menschengruppen: Am häufigsten kommen Menschen mit Behinderungen vor (12-mal), gefolgt von jungen Menschen (8-mal) und älteren Menschen (5-mal). Daneben treten u.a. auf:
‒ Menschen in der Bundeswehr
‒ Menschen mit Demenz
‒ Menschen, die in Deutschland Schutz suchen
‒ Menschen im ländlichen Raum
‒ pflegebedürftige Menschen“
‒ Menschen mit befristeter oder dauerhafter Erwerbsminderung
‒ zugewanderte Menschen
Der „Mensch“, der auf den 177 Seiten des Koalitionsvertrags auftritt, ist ‒ insgesamt gesehen ‒ ein hilfsbedürftiges und unselbständiges Wesen. „Ein neuer Aufbruch für Europa“ und „Eine neue Dynamik für Deutschland“, wie die Überschrift verspricht, ist damit nicht zu erreichen. Dazu bedürfte es eines Menschen, der die gängige Wörterbuchdefinition erfüllt:
„Höchstentwickeltes Lebewesen mit der Fähigkeit zu denken, sprechen und
vernunftgeleitet zu handeln“ (Herrmann PAUL: Deutsches Wörterbuch, 102002).
II
(1) Als Ersatzform für Menschen (in Deutschland) wird häufig Bürgerinnen und Bürger verwendet, wobei unter Bürger nicht „deutsche Staatsangehörige“ verstanden wird (Stand 2017: 73 Millionen), sondern „Einwohner“ (83 Millionen).
(2) Beim Gendern, also der Verwendung der maskulinen + femininen Form zur Bezeichnung gemischtgeschlechtlicher Personengruppen (Schülerinnen und Schüler, forschende Ärztinnen und Ärzte usw.), unterlaufen viele Fehler: Im Koalitionsvertrag kommen zum Beispiel neben 31-mal Bürgerinnen und Bürger auch siebenmal nur Bürger vor, etwa im Versprechen: „Wir werden die Steuerbelastung der Bürger nicht erhöhen“.
III
Deutsche gibt es noch im Ausland: Deshalb „bekennen“ sich die Koalitionspartner „zur besonderen Verpflichtung gegenüber den Deutschen in Mittelosteuropa und den Nachfolgestaaten der Sowjetunion“ und wollen „das kulturelle Erbe der Deutschen in Mittel- und Osteuropa“ pflegen. Ebenfalls „bekennen“ sie sich „zur Unterstützung der jüdischen Gemeinden“ und betonen:
„Nach der Entrechtung und Ermordung von sechs Millionen europäischer Juden
haben wir Deutschen eine immerwährende Verantwortung im Kampf gegen
Antisemitismus.“
„Wir Deutschen“ ‒ wer ist das? In einem aktuellen oder gar zukunftsbezogenen Sinn kommen die Deutschen im Koalitionsvertrag nicht vor. Diese Leerstelle wird auch nicht gefüllt durch den Hinweis auf „unsere Identität“, die sich im kulturellen Erbe zeige, „welches in unseren Museen, Bibliotheken und Archiven bewahrt wird“. Das ist Vergangenheit. Für die politische Gegenwart lautet die sprachlich implizite Botschaft von Union und SPD für die Menschen in diesem Land: „Deutsche ‒ das war einmal“; lateinisch: Fuerunt Germani.
Helmut Berschin ist Prof. em. für Romanische Sprachwissenschaft