Der Westen braucht ein neues Selbstbewusstsein

Die These Fukuyamas, man habe mit dem Ende des Kalten Krieges das „Ende der Geschichte“ erreicht, hat sich als unwahr erwiesen. Doch der Westen hat noch kein Bewusstsein dafür entwickelt, wie er in „neuen“ historischen Zeiten bestehen kann.

imago Images/UPI Photos

Selbstkritik und Selbstreflexion sind gute und wichtige Eigenschaften. Sie sind blinder Selbstbeweihräucherung eindeutig vorzuziehen. Zu weit getrieben aber hat es damit „der Westen“, jener in der europäischen Geistesgeschichte wurzelnde, mittlerweile von US-amerikanischer Hegemonie entscheidend geprägte Kulturraum.

Sicher: Ein Blick in die Geschichtsbücher bewahrt davor, diesen Westen zu glorifizieren. Regelmäßig hat er aus seinem religiösen und geistesgeschichtlichen Erbe Werte abgeleitet, hinter denen er zuweilen dramatisch zurückgeblieben ist. Schwer wiegt das Versagen, wenn vermeintlich dem Guten dienende Taten Böses hervorgebracht haben, noch schlimmer, wenn unter dem Vorwand, Werte zu verteidigen, Heuchelei herrschte, wenn Ungerechtigkeiten, Kriegsverbrechen und Greueltaten begangen wurden.

Was jedoch in dieser Betrachtungsweise allzu gern vergessen wird: Immerhin hatte der Westen Werte, die sich aus der Annahme eines absolut Guten, Wahren und Schönen ergaben. Nie glaubte man im Westen etwa, dass Freiheit oder Gerechtigkeit anzustreben seien, weil man diesen Parametern aus der eigenen Geschichte und Tradition heraus nun einmal einen Wert beimaß. Nein: Freiheit und Gerechtigkeit waren und sind anzustreben, weil sie dem Guten entsprechen. Und das wiederum bedeutet, dass sie überall implementiert werden müssen, wo es nur möglich ist – kurz: Sie gelten universal.

Das widerspricht linken „woken“ wie auch rechten „ethnopluralistischen“ Ansätzen, die Kultur allein an ihr innewohnenden Parametern messen: Was einer Kultur entspricht, sei deshalb gut – und daher bewahrenswert –, weil es dieser Kultur entspreche. Ein Zirkelschluss, mit dem man hinter das jahrtausendelang entwickelte westliche Denken zurückfällt, das den Maßstab außerhalb seiner selbst vermutet.

An dieser Stelle würde es zu weit führen, zu untersuchen, wie unter dem Christentum durch das Zusammentreffen des jüdischen Gottes- und Menschenbildes mit der griechischen Philosophie im territorial weit ausgreifenden römischen Reich eine Dynamik angestoßen wurde, die über zweitausend Jahre hinweg westliches Denken zuletzt in die ganze Welt getragen hat, und so einen Kulturraum schuf, der nicht nur Europäer umfasst, sondern bis nach Australien oder Argentinien reicht – „Westen“ ist eben kein geographisches Konzept. Und auch dort, wo sich westliches Denken nicht durchgesetzt hat, beeinflusst es Gesellschaften, ist ein Stein des Anstoßes oder ein verheißungsvolles Ideal.

Aber man kann festhalten, dass dem so ist, und dass dieses Denken der Menschheit entscheidenden zivilisatorischen Fortschritt geschenkt hat: Sklaverei etwa war über den ganzen Erdkreis verbreitet – erst durch das westliche Denken konnte überhaupt jene Selbstkritik einsetzen, die zu ihrer Verdammung und Bekämpfung geführt hat. Und was der westliche Mensch als Selbstverständlichkeit betrachtet, nämlich, dass jeder Mensch frei geboren ist und nicht versklavt werden kann und darf, das gilt in anderen Kulturen keineswegs als unangefochtene Tatsache. Die Freiheitsrechte des Individuums, die Herrschaft des Rechts statt das Recht des Stärkeren, ein starker Gerechtigkeitssinn: All das und noch weit mehr sind Merkmale der westlichen Kultur, und es wohnt ihr ebenso inne, all das zu exportieren, als auch, diesen expansiven Drang selbst zu hinterfragen und zu problematisieren.

Letzteres hat aber zunehmend zu einer Selbstdemontage und Selbstverzwergung geführt, die nun global Schaden anrichtet. Aus der Beobachtung, den eigenen Ansprüchen oft nicht gerecht geworden zu sein, schließt der postmoderne westliche Mensch, dass die Ansprüche selbst das Problem seien, und dass man eben solche Ansprüche gar nicht haben dürfe: Als „kolonialistisch“ wird gegeißelt, wenn die Werte, die das Abendland als universal annimmt, als Maßstab auch für andere Kulturen angesetzt werden.

Zugegeben: Das protzige, machtbewusste Hegemonialstreben insbesondere der USA hat in der Vergangenheit viel Schaden angerichtet, nicht zuletzt durch die Kombination vollmundiger weltanschaulicher Versprechen von Freiheit und dem „Streben nach Glück“ mit der realpolitischen Unterstützung der Feinde der Freiheit, und opportunistischer „Flexibilität“: Ohne US-amerikanische Intervention müsste sich die Welt heute wohl kaum mit den Mullahs im Iran herumschlagen, oder zusehen, wie die Taliban ein frauenverachtendes, barbarisches Steinzeit-Regime etabliert haben.

Zugleich bietet aber wiederum nur der Westen zuverlässig die Parameter, anhand derer wir überhaupt bewerten können, dass ein solches Regime menschenverachtend ist und nicht existieren dürfte. Das manifestiert sich anschaulich im Nahostkonflikt: In Dekadenz gefangene Angehörige des westlichen Kulturraums, namentlich vor allem linke Akademiker und Eliten, betreiben Hetze gegen Israel, als ob die Selbstverteidigung einer multireligiösen, multiethnischen Demokratie, die eine ungeheure kulturelle Diversität auf einem Gebiet von der Größe Hessens zusammenhalten muss, in irgendeiner Weise ethisch weniger verantwortbar sei als die Indoktrination schon jüngster Kinder mit tödlichem Hass auf Juden – eine Indoktrination übrigens, die besagt, dass Selbstzerstörung zur Umsetzung dieses Hasses eine Tugend sei. Israel und die Juden stehen hier auch längst nicht mehr nur für ein schon im Koran festgeschriebenes Feindbild, sondern sind ein Sinnbild des Westens geworden – instinktiv haben die Islamisten hier wohl eher unbewusst genau jene Religion zum Feind erkoren, ohne die das Abendland letztlich undenkbar ist, da aus ihr das Christentum hervorgegangen ist.

Ein eindrückliches Beispiel für die postmoderne Unfähigkeit und den Unwillen im Westen, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden und Prioritäten anhand dieser Unterscheidung zu setzen. Nebenbei: Es gehört zu den effektivsten Märchen der Postmoderne, dass diese Unterscheidung per se eindimensional, simplizistisch und „Schwarz-weiß-Denken“ sei. Das Abendland hat einen unüberschaubaren Reichtum an Denkern und Werken, die sich diesem Problem mit größter Differenziertheit widmen.

Aber nicht nur im Nahen und Mittleren Osten zeigt sich, dass der Westen zu alter Form zurückfinden muss, und sei es nur, um Übel zu lindern, die er durch Zurückbleiben hinter dem eigenen Anspruch mitgeformt hat. Auch in Europa wird deutlich: Das Angebot einer „multipolaren“ Welt, in der nun einmal für Russland oder China andere Regeln gelten, die „genauso“ gut sein sollen, wie Freiheit des Individuums und Rechtsstaatlichkeit, ist verlockend. Schließlich macht es die Sache auch dem Westen leichter: Andere nehmen uns die Maßstäbe ab, die uns doch so viel abverlangen, und die ethisch anspruchsvoll sind. Wäre es nicht leichter, alles dem Hedonismus unterzuordnen, die angenehmen Früchte des Westens abzugreifen und den ganzen moralischen Kladderadatsch einzumotten?

Nur leider wird uns nicht nur der moralische Anspruch abgenommen. Am Ende werden liebgewonnene Selbstverständlichkeiten vor unseren Augen verschwinden, und das kann sehr schnell gehen: Die Franzosen hätten 1789 nicht gedacht, dass ihnen eine vollständige Umwälzung der Gesellschaft bevorsteht. Und die Iranerinnern hätten sich 1979 nicht träumen lassen, dass sie in kürzester Zeit hinter schwarzen Vorhängen verschwinden würden. Wir wiegen uns in der Sicherheit einer Stabilität, die mit Blick auf die Geschichte nur als Illusion bezeichnet werden kann.

Man kann nicht beides haben: verantwortungslose Selbstgenügsamkeit und ein Leben in Freiheit und Sicherheit. Letzteres bedingt, dass sich der Westen diesen Werten wieder verschreibt, und dazu bereit ist, Opfer zu bringen, um diese zu aufzubauen, zu verteidigen und zu bewahren. Und ja: Er muss auch wieder lernen, dazu bereit zu sein, an ihnen zu scheitern.


Unterstützung
oder

Kommentare ( 16 )

Liebe Leser!

Wir sind dankbar für Ihre Kommentare und schätzen Ihre aktive Beteiligung sehr. Ihre Zuschriften können auch als eigene Beiträge auf der Site erscheinen oder in unserer Monatszeitschrift „Tichys Einblick“.
Bitte entwerten Sie Ihre Argumente nicht durch Unterstellungen, Verunglimpfungen oder inakzeptable Worte und Links. Solche Texte schalten wir nicht frei. Ihre Kommentare werden moderiert, da die juristische Verantwortung bei TE liegt. Bitte verstehen Sie, dass die Moderation zwischen Mitternacht und morgens Pause macht und es, je nach Aufkommen, zu zeitlichen Verzögerungen kommen kann. Vielen Dank für Ihr Verständnis. Hinweis

16 Comments
neuste
älteste beste Bewertung
Inline Feedbacks
Alle Kommentare ansehen
Warte nicht auf bessre zeiten
57 Minuten her

Das stimmt schon alles irgendwie, aber den Westen, wie wir ihn kennen, gibt es letztlich erst seit 1945, nämlich als Abgrenzung und Reaktion auf die beiden totalitären Ideologien und Regime, die im übrigen ebenfalls Ergebnisse westlichen Denkens waren. Dabei war die nationalsozialistische ideologie im Kern eine Reaktion auf den Bolschewismus und sein Terrorregime. Nichts bleibt so, wie es ist, ohne sein Gegenteil… Frei nach Hegel. Als der NS zusammenbrach, wurde der Kommunismus zur Weltmacht, die dem Westen Konkurrenz machte. Sein Niedergang war lange alles andere als sicher, jedenfalls im Bewusstsein der Zeitgenossen. Die „Freie Welt“ war eine Reaktion auf den… Mehr

the NSA
1 Stunde her

….das Wort zum Sonntag….es spricht Pastorin Anna Diouf…. Ein sehr Ein-einhalb (1 1/2) dimensionales Verstaendnis der Welt… Die Welt aber ist min 3-Dim, das Universum (oder die Multiverses) mint 11-Dim ! Viele Platitueden, Allgemeinplaetze, und Falschinfos: .B. sind 71 \% der Studenten (!) Frauen an den Iranischen Universitaeten, der Anteil in Science/Engineering fast 42\%. …..“mit oder ohne Vorhaenge“ Ich halte mich kurz, denn mit hoher Wahrscheinlichkeit werden alle meine Beitraeg zensuriert… Kurz: Im Internationalen Wokeismus hat der westl. Imperialismus seine Weiterfuehrung gefunden. Ging es ab 1,500 AD rein um die brutale Auspluenderung Latin America’s, Africa’s und Asia’s durch Spain, England,… Mehr

Philoktet
1 Stunde her

Die Schwäche des Westens kommt aus uns selbst heraus. Freiheit ist nur mit Verantwortung zu realisieren, das heißt konkret die Folgen des eigenen Handelns im Guten zu genießen, aber auch im Schlechten zu ertragen. Das Letztere wollte man aber nicht so gerne und so hat sich der Staat zu einem wahren Leviathan, einem Monster aufgebläht. Was zu Beginn des Industriezeitalters als Nothilfe für Arbeitslose begann, der Wohlfahrtsstaat, ist inzwischen zu einer Wünschdirwas-Maschine angewachsen, die die Bänker vor den Folgen ihres Kasinospiels und die Industrie vor den Folgen ihrer strategischen Fehlentscheidung schützen soll. Darüber hinaus soll diese Maschine akademische Abschlüsse und… Mehr

Mausi
1 Stunde her

Mut zu moralischem Anspruch? Na, daran fehlt es D auf gar keinen Fall. Nur ist der nicht mehr westlich, sondern quotenfeminin welt-sozialistisch, die Freiheit des Einzelnen aushebelnd.

Last edited 1 Stunde her by Mausi
Waldschrat
1 Stunde her

Sehr geehrte Frau Diouf, in einigem, was Sie schreiben, haben Sie vollkommen recht, es gibt aber einige Aspekte, die diskussionswürdig sind. Zu allererst, niemand hat die Wahrheit gepachtet. Das möchte ich auch für meine nachfolgende Kritik gelten lassen. Bei den ersten drei Absätzen kann man keiner gegenteiligen Meinung sein. Freiheit und Gerechtigkeit sind ein angestrebtes Gut, was jedem menschen zu wünschen ist. Das ist aber ein Ideal, welches nie erreicht wird. Das liegt in der Natur des Menschen. Der 4. Absatz zeigt aber sehr deutlich die unverblümte Arroganz des Westens, wo wir wieder bei dem Punkt sind, wer die Wahrheit… Mehr

H.H.
1 Stunde her

Es braucht: Schluß mit allem Sendungsbewußtsein! Schluß mit dem woken Neokolonialismus, samt wokem Antirassismus! Man anerkenne die großartigen Leistungen des Kolonialismus wie die Verbreitung der englischen Sprache! Nicht nur für Indien ein unbezahlbar wertvolles Geschenk! Ein Geschenk für die ganze Welt! Auf Englisch wird gedacht, geforscht, diskutiert, werden Ergebnisse schriftlich fixiert und ausgetauscht! Weltweit !!! Sodann: Witwenverbrennung bereits unter Queen Victoria VERBOTEN! Und ein paar Nummern kleiner: Der Kolonialbaustil, wichtig für den Tourismus in Havanna/Kuba und das auf ewig!.. Schluß mit der Hochnäsigkeit, die in Form von Moralismus daherkommt. Bescheidenheit ist angesagt. Die UNO möge gänzlich nach Nairobi umziehen, weil… Mehr

Sperrdifferential
1 Stunde her

Der westlichen Hegemonialmacht hinter dem großen Teich fehlt es ganz bestimmt nicht an Selbstbewusstsein. Und wir Deutsche haben dieser Hegemonialmacht nach ihrem erfolgreichen hybriden Krieg gegen uns nichts mehr entgegenzusetzen: kein Militär, keine Wirtschaft, keine Kultur und keine Innovation. Das deutsche Selbstbewusstsein wurde durch alliierte Umerziehung, ewige Erbschuld und Massenmigration gebrochen.

moorwald
1 Stunde her

Nachtrag: „Werte“ beschwört mn immer erst dann, wenn sie bereis im Absterben begriffen sind

hert
1 Stunde her

Volle Zustimmung, Frau Diouf. Das Eingreifen der USA in das Rad der Weltgeschichte hatte fast immer nachhaltige Kollateralschäden. Das begann mit dem Eingreifen der USA in den 1. Wk bis zu den verheerenden Eingriffen im Irak und Syrien. Und an den fatalen Folgen leiden noch heute der sog. Westen ebenso wie die betroffenen Länder. The use of English is very much taken for granted in international communication today. This hegemony of English creates and reproduces inequality, discrimination, colonization of the mind as well as Americanization, transnationalization, and commercialization of our contemporary life. (Tsuda, Yukio (Nagoya University, Japan)) Dabei muss man… Mehr

Peter Pascht
1 Stunde her

„Everybody’s darling is on some time everybody’s ‚Rindvieh‘ “ (F.J. Strauss)
Sich ungerechtfertigte und unbegründete pefide Anschuldigungungen zu eigen zu machen, nur um sich aus Dummheit intelligent zu geben, um seine Dummheit vebergen zu wollen, zeugt von extremer Dummheit.
Der Westen braucht kein neues Bewusstein.
Der Westen braucht blos jenes Führungspersonal welches ein gebildetes und historische Bewusstsein sich erarbeitet hat.
Die Auswahlkriterien müssen ehrlicher und offener werden,
Gaukler*innen und Ganoven*innen die den Menschen was vorlügen, die Menschen hinters Licht führen, um Führungspositionen zu erreichen, müssen beseitigt werden.