Der guten Zeiten wegen

Arbeitsplätze gehen verloren, wir lesen es täglich. Wie beim Geld an der Börse gilt oft: Sie sind nicht weg, sie sind nur (bald) woanders (z.B. in Ungarn oder Asien). – Frage: Soll man wütend weinen – oder wehmütig winken und sich die Kante geben?

Sollten wir die alten Bekanntschaften vergessen, nie wieder an sie denken? Sollten die alten Bekanntschaften vergessen werden, wie auch die guten alten Zeiten?

Sie haben es erkannt, liebe Leser, dieser Text beginnt mit meiner Übertragung der ersten Strophe von Auld Lang Syne. Anfang 2018, als ich die Nachrichten las, sprang das Lied auf meine Lippen. Der Text hieß »Nehmt Abschied, nehmt Abschied vom alten Europa«. Und nun ist es schon wieder auf meinen Lippen, in meinem Herzen – und dabei ist heute gar kein Neujahr! – »Should auld acquaintance be forgot, and never brought to mind?«

Der berühmte Titel, der auch im Lied mehrfach vorkommt, ist in der alten Sprache Scots. Man kann ihn, so die Literatur, mit »lange her seitdem« übersetzen, mit »lang, lang her« oder »die alten Zeiten«, doch wer jemals mit Briten, Schotten, Iren oder anderen Menschen von tiefem Gemüt und großem Durst das neue Jahr einläutete, was ja immer auch ein Verabschieden des alten Jahres beinhaltet, wer je mit Freunden die Kaschemme zum Mittelpunkt der Welt werden ließ, und das Jetzt zur einzig wichtigen Zeit, wer je mitsang, als sie Auld Lang Syne anstimmten, der weiß und versteht, was ich meine, wenn ich sage, dass Auld Lang Syne eben Auld Lang Syne ist.

Erlebe einmal, Arm in Arm mit Freunden und Fremden, wie es ist, mit Pint in der Hand und Wehmut im Herzen, das alte Lied zu singen – und dann diskutieren wir weiter, was und wen man vergessen sollte, und was man behalten sollte, der guten alten Zeiten wegen.

Von Ansbach nach Asien

Es ist gar nicht so lange her, konkret 2016, dass die feine Firma Adidas seine »Fabrik der Zukunft« in Deutschland eröffnete. Die Fachpresse jubelte und die Politik freute sich.

»Statt schwitzender Arbeiter in stickigen Hallen«, so hieß es etwa bei fashionunited.de, 25.5.2016, wo »die Turnschuhe größtenteils von Hand hergestellt« würden, sollte die »Speedfactory« auf Maschinen setzen: »Sie ist eigentümlich still, klinisch weiß und setzt auf Automatisierung statt Handarbeit.« Man wollte »mit bester deutscher Ingenieurskunst« arbeiten, und den Konsumenten »immer die aktuellsten und neuesten Produkte« anbieten. Von »Industrie 4.0« war die Rede, von der »vollautomatisierten Produktion« (ispo.com, 11.5.2016) »Jetzt schließt sich der Kreis und die Fertigung kommt zurück«, freute sich damals der Adidas-Chef (fashionunited.de, 25.5.2016).

Nun, man hätte ihm vom Samsara erzählen sollen, von der ewigen Wiederkehr. (Zur ewigen Wiederkehr in Politik und Gesellschaft siehe auch »Die Welle wird zurückrollen«, »Die AfD ist schuld an allem«, »Kulturschaffende 1934, 1976, 2018«)

Der Kreis, so scheint es, er schließt sich nicht, der Kreis war nämlich immer schon geschlossen – nein, es sind wir, die Karussellpassagiere, die am Kreis entlang fahren, wieder und wieder, bis wir uns den Mc Rib nochmal durch den Kopf gehen lassen, und dann mit doppeltem Tempo weiter.

Wir lesen heute, in erfrischender Knochentrockenheit: »Adidas verschifft seine Zukunft von Ansbach nach Asien« (welt.de, 12.11.2019), und weiter: »Der Traum von der Rückkehr der Produktion ist ausgeträumt.« – Erfrischend ist auch, dass um die Gründe gar nicht lang herumgeredet wird: »Es sei einfacher und wirtschaftlicher, die Erkenntnisse und Abläufe der Speedfactory dorthin [gemeint: Asien] zu verlagern, als die Maschinen nach Franken oder in die USA zu holen«, heißt es in welt.de, 12.11.2019.

Unter dem traurig-sarkastischen Hashtag »#futschi« kann man quasi in Echtzeit verfolgen, wie Arbeitsplätze in Deutschland abgebaut werden und Industrie teils indirekt, teils direkt kaputtgemacht wird.

Neuschwanstein in Zahlung

An der Börse sagt man manchmal, zweifelsohne flapsig: »Das Geld ist nicht fort, es ist jetzt nur woanders.« – Man könnte es so ähnlich über Arbeitsplätze formulieren, die dieser Tage »futschi gehen«. Die Arbeitsplätze sind nicht fort, sie sind nur woanders. (Zum Beispiel in Ungarn.)

Man könnte, und sollte vielleicht auch, fragen, was die Wirtschaftsexperten in Kanzleramt, Ministerien und Kreuzberger Kifferstuben mit den hunderttausenden Fachkräften anzustellen gedenken, die man nach Deutschland einlud? Man muss es ja nicht gleich so rassistisch und entmenschlichend ausdrücken wie Claudia Roth, wonach einige der Neumitmenschen »nicht unmittelbar verwertbar sind« (»verwertbar« – das ist doch kurz vor »Bodensatz«!!!), aber eine Antwort sollte man schon finden.

Wenn es so weitergeht, wie wird es danach weitergehen? Nun, ich bin guter Dinge, dass China uns etwas Geld leiht. Notfalls geben wir Neuschwanstein in Zahlung, dazu ein oder zwei Autohersteller als Bonus (wollte man in der SPD nicht sowieso BMW »sozialisieren«?), und den Großraum Berlin als weiteren Bonus dazu, schon aus eigenem Interesse. Wenn die Chinesen freundlich sind, reißen sie den BER ab und stellen in sechs Monaten einen neuen und funktionierenden Flughafen hin.

Wer sich wünscht, dass es »wieder wird wie früher«, der sollte für eine Sekunde darüber nachdenken, was es dafür bräuchte. Ein Bauer kann nicht beschließen, nächste Woche zu ernten, wenn er nicht viele Monate vorher gesät hat. Der richtige Zeitpunkt, eine Wirtschaftsnation zu stärken, ist vor zehn und zwanzig Jahren. Deutschland zehrt noch heute von Schröders »Agenda 2010« – und wird noch in zehn und zwanzig Jahren an Merkels »Agenda Nach-mir-die-Sintflut« leiden.

Zweier Dinge bin ich gewiss: Erstens wird es einen neuen Morgen geben – und zweitens wird das Morgen sehr viel anders aussehen als die Gegenwart.

Recht freundlich sein

Ein Land im Griff von Unverstand und Staatsfunk nimmt Abschied. Wir nehmen Abschied, nicht nur von den Opfern neuer Gewalt, nicht nur von der Stabilität, für die unsere Eltern und Großeltern so hart schufteten, sondern auch täglich von den Arbeitsplätzen, die wir für sicher hielten. Wir nehmen Abschied von alter Hoffnung – und weil wir Menschen sind, weil wir eben wir sind, machen wir uns sogleich an die Arbeit, eine neue Hoffnung zu entwickeln.

Im März 2018 schrieb ich:

Ich respektiere jeden, der »noch nicht aufgeben« will. Ich respektiere jeden, der »für seine Art zu Leben« kämpfen will. Ich respektiere und verstehe das. Doch er muss sich fragen, wie sinnvoll es ist, einen verlorenen Kampf zu kämpfen.

Ich kämpfe heute, noch immer, so wie 2018 schon, so wie seit Jahren nun, so weit und viel wie man mit Worten überhaupt kämpfen kann (für mehr von der sentimentalen Variante des Kämpfens siehe etwa »Made in Germany – wissen Sie noch?« oder »Sag etwas, denn ich beginne, dich aufzugeben«) – mehr als Worte habe ich nicht, mehr will ich auch nicht haben. Doch ich kämpfe heute mehr und zuerst darum, dass Sie und ich am Irrsinn nicht selbst noch irre werden. Ihre Mails und lieben Worte geben mir Anlass zu Hoffnung, dass es gelingen könnte – zumindest das, zumindest etwas, das ist nicht nichts!

Die letzte Strophe von Auld Lang Syne lautet auf Deutsch, in etwa: »Hier ist meine Hand, mein treuer Freund – schlag mit deiner Hand ein! Lass uns einen ordentlichen Schluck trinken, der alten Zeiten wegen.«

Mancher, der heute seinen Arbeitsplatz verliert, wird erstmal »einen ordentlichen Schluck trinken« wollen. Und dann wird er für sich eine neue Zukunft erfinden müssen. Ohne »Speedfactories« und auch sonst eher einfacher, als einst erdacht und erhofft.

Im Refrain jenes Liedes heißt es ja, und es ist gewiss ein guter Rat: »Lasst uns zueinander recht freundlich sein, der alten Zeiten wegen« – auf Englisch: »we’ll take a cup o’kindness yet, for auld lang syne.«


Dieser Beitrag erschien zuerst auf dushanwegner.com

Dushan Wegner (geb. 1974 in Tschechien, Mag. Philosophie 2008 in Köln) pendelt als Publizist zwischen Berlin, Bayern und den Kanaren. In seinem Buch „Relevante Strukturen“ erklärt Wegner, wie er ethische Vorhersagen trifft und warum Glück immer Ordnung braucht.

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Kommentare ( 40 )

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Alexis de Tocqueville
5 Jahre her

Was hat der Arbeiter denn gewählt?

Farbauti
5 Jahre her

Ja Herr Wegner, aufgeben is nich. So haben es die Alten auch mir beigebracht. Waren sie auch traurig, deprimiert, unglücklich von den Kriegen, ihr Elend ersäufend, aufgeben is nich. Ich habe kaum noch Hoffnung, zurückgedreht wird nichts mehr. Aber aufgeben is nich. An alle die ihren Job verloren haben und noch verlieren werden: aufgeben is nich. Die Sonne macht auch jeden Tag weiter, macht Kinder, fahrt Karusell, sucht euresgleichen und lehnt euch aneinander an. Aufgeben is nich.

Alexis de Tocqueville
5 Jahre her
Antworten an  Farbauti

Meinesgleichen finde ich hier nicht. Das ist ja die Crux: Wer sich nicht selbst aufgibt, muss dieses Land aufgeben. Entweder – Oder. Das ist Sozialismus.

Einfache Logik:
Prämisse 1: Ein Land besteht aus seinen Bürgern.
Prämisse 2: Sozialisten akzeptieren nur ihresgleichen.

Wenn die Bürger also mehrheitlich Sozialisten sind, geben Sie entweder sie (also das Land) auf oder sich selbst.

Helmut in Aporie
5 Jahre her

Wenn der falsche Weg noch vehementer beschritten wird, dann gibt es halt nur eine Richtung: abwärts. Die ökonomischen und ökologischen Folgen des grünen Klimawahns werden uns richten.
https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/windkraft-altmaier-brandbrief-bdi-1.4680168

Ego Mio
5 Jahre her

Das mit der Arbeitsplatzverlagerung nach China ist ein extrem zweischneidiges Schwert. weil denen brechen ja dadurch die wohlhabenden Konsumenten weg. In 5 Jahren wird dann China durch Automatisierung selbst zu einem Land mit Massenarbeitslosigkeit. Für Deutschland sieht es wahrlich noch schlechter aus. Hohes Lohniveau gepaart mit Bildungsferne und einer erodierenden Stabilität der Gesellschaft lässt uns wahrscheinlich da landen, wo sich aktuell etwa Jugoslawien befindet. Das ganz große Thema wird die Altersarmut werden. Pflegekräfte würde es genug geben, aber nur wenige können sich diese leisten. Für die Zukunft hat diese Land nur Belastungen aufbaut und keine Rücklagen. Politisch wird sich dadurch… Mehr

Werner Scheinast
5 Jahre her

An die Redaktion:
D. W. ist nicht in Tschechien geboren, sondern in der Tschechoslowakei.

teanopos
5 Jahre her

Das werden die Links-Grünen Traumtänzer nie verstehen, dass gerade sie und ihr Gehabe, ihre Planlosigkeit, ihre Sprunghaftigkeit, und die vielen zusätzlich eingerichteten Kostentreiber jede Investition, und damit jede Zukunft im Keim ersticken.
Da werden lieber ein paar neue Genderstudy Lehrstühle eingerichtet, irgendwo müssen die „Sozialfuzzies“-„IrgendwasMitMenschen“-Traumtänzer ja unterkommen.
Und das sei dann der Gerechtigkeit, unserer Zukunft, unserem Wohlstand zuträglich.
Wir befinden uns fest im Griff eines lächerlich dummen Politikerpacks inklusive einschlägiger Medien/Gazetten.

Reimund Gretz
5 Jahre her

Auch ein Song: So wie es früher war, so wirds nie wieder, so wie es früher einmal war, wirds nie mehr sein…
das ist die eine Erkenntnis.
Wenn Leistungsträger die Schnauze voll haben und Deutschland den Rücken kehren und man diese durch „Analphabeten“ ersetzt bleibt von einem erfolgreichen Deutschland nichts mehr übrig, das ist die andere Erkenntnis.
Die „Kapelle“ spielt noch, während das Schiff Deutschland mit voller Kraft voraus auf den Eisberg zugesteuert wird!

Marc Je
5 Jahre her

You’ll Never Walk Alone

Kassandra
5 Jahre her

Man achte auf den Balken, der für Venezuela steht. Ich nehme an, bei uns erfolgt der Absturz jetzt deutlich schneller:
https://twitter.com/steve_hanke/status/1193574464933548037

teanopos
5 Jahre her
Antworten an  Kassandra

„Und der vorherrschende Glaube an »soziale Gerechtigkeit« ist gegenwärtig wahrscheinlich die schwerste Bedrohung der meisten anderen Werte einer freien Zivilisation.“ August von Hayek. Merkel und ihr Kasperletheater verstehen diesen Satz nicht mal im Ansatz. Im Gegenteil, deren primitiver Logic nach ist die Aussage asozial und man müsse alles dafür tun „Soziale Gerechtigkeit“ in jedes dreimal tote Mauseloch einziehen zu lassen. Was für ein Kindergarten, sich ständig ma selbst feiern, dass sie neue Geschenke verteilt haben, die sie selbst nie bezahlen, geschweige denn je bezahlt haben, im Gegenteil, sich dazu selbst üppige Pensionen auflegen – und zusätzlich noch als Weltenretter(wieder bezhalt… Mehr

Heinrich Niklaus
5 Jahre her

Einmal kurz ein paar Zahlen aktuell abgebauter Stellen für Deutschland: BASF 6.000, Bayer 12.000, BMW 10.000, Continental 15.000, Covestro 900, Siemens 2.400, Ford 5.000, Volkswagen 7.000, Thyssenkrupp 4.000, Kaufhof 2.600, Kuka 350, Sanofi 140, Deutsche Bank 18.000, WMF 400, Audi 13.500, Bosch 15.000, NordLB 2.400, Goodyear 1.100, Unicredit 2.500, Opel 2.000, Schaeffler 1.300, Airbus 1.100, Telekom 2.000 pro Jahr, EON 5.000, Merck 650, SAP 4.400, Commerzbank 4.300, Miele 770, Windindustrie 26.000.

Und das ist erst der Anfang des „Systemwechsels“!

Entenhuegel
5 Jahre her
Antworten an  Heinrich Niklaus

Und das Schlimme ist: Man darf davon ausgehen, dass KEINER dieser Arbeitsplätze auch nach der absehbaren Rezession in Deutschland wieder neu entstehen wird. Entweder fallen sie zur Gänze weg oder sie werden in Billig(er)lohnländern neu entstehen…

Heinrich Niklaus
5 Jahre her
Antworten an  Entenhuegel

Besonders bestürzend ist der Wegfall von 26.000 Arbeitsplätzen der Windindustrie. Diese „Energien“ sollten doch Arbeitsplätze der Zukunft generieren. Und nun?

Farbauti
5 Jahre her
Antworten an  Heinrich Niklaus

Deutsche Bank 18.00 weltweit nicht in Deutschland.
Fein zählen tut das der egon-w-kreutzer. Guter Überblick über die Stellenverluste, auch sonst immer klasse Beiträge.